Die Auseinandersetzungen in Praxen und Kliniken rund um das Thema Arbeitszeit werden emotionaler und konfrontativer. Die Folge: Erste Klinikinhaber wurden bereits mit Bußgeldern belegt – in einem Fall mit dem Höchstsatz von 15.000 Euro. Wie also umgehen mit dem Arbeitszeitgesetz? Lassen sich womöglich Ausnahmen durchsetzen?
von Jörg Held
Spielraum haben die Praxen de facto keinen: Das Arbeitszeitgesetz ist bindend. Jeder Arbeitgeber muss sich daran halten. Wenn Studien bei angestellten Tierärzten aber im Median(!) Wochenarbeitszeiten von 50 Stunden und mehr (in der Pferdepraxis) sehen, dann hat die Branche ein strukturelles Problem. Entsprechend wächst in den Praxen und Kliniken der Druck.
Verstöße gegen das Arbeitszeitgesetz gelten als Ordnungswidrigkeit. Sie werden mit Bußgeldern bis zu 15.000 Euro Höchstsatz geahndet, der bereits in einem Fall gegen eine Tierklinik in Niedersachsen verhängt wurde. Wer wiederholt und vorsätzliche das Arbeitszeitgesetz nicht einhält, begeht sogar eine Straftat. Eine Round Table Diskussion mit Arbeitgebern und angestellten Tierärzten auf dem bpt-Kongress in München suchte nach Lösungen.
Mehr lesen: „Wie lange darf ein angestellter Tierarzt arbeiten?“ die Regeln des Arbeitszeitgesetzes
Mehr Gehalt löst das Arbeitszeitproblem nicht
Die Gehaltsfrage (Berichte zu „Assistentengehältern“ hier) ist dabei ein eher untergeordnetes Thema. Das Arbeitszeitgesetz mit seinen Vorgaben können auch theoretisch noch so hohe Gehälter nicht aushebeln, denn auch gutverdienende Angestellte dürfen nicht länger arbeiten als gesetzlich erlaubt. Umgekehrt gerät zusätzlich in Konflikt mit dem Mindestlohngesetz, wer bei zu geringem Lohn zu lange arbeiten lässt.
Einen Flyer zur Arbeitszeiterfassung als erste Information bietet der bpt hier an (PDF-Download)
Die Studie zu den Arbeitsbedingungen angestellter Tierärzte ist hier veröffentlicht (PDF-Download)
Schritt 1: Die Arbeitszeiterfassung
Ein erster Schritt muss sein – wie es ein Praktiker in München formulierte – die „Arbeitszeitleichen“ aus dem Keller zu holen, sich der Situation in der eigenen Praxis bewußt zu werden.
Möglich macht dies eine minutengenau Arbeitszeiterfassung. Für eine solche korrekte Erfassung der Arbeitszeit ist der Inhaber einer Tierarztpraxis bereits jetzt verantwortlich. Er muss sicherstellen, dass geleistete Überstunden und auch Ausgleichs/Ruhezeiten für jeden Mitarbeiter dokumentiert sind – und er muss diese Unterlagen mindestens zwei Jahre aufbewahren.
Eine fehlende Dokumentation „schützt“ nicht. Im Gegenteil:
Wer die Arbeitszeit als Arbeitgeber nicht nachvollziehbar erfasst, hat im Konfliktfall sehr schlechte Karten. Dann „schätzt“ die Aufsichtsbehörde die Zeiten und stützt sich dabei auf die Aussagen der (enttäuschten) Mitarbeiter. Dienstpläne allein reichen nicht aus.
Das Risiko: Jede Stunde Mehrarbeit, die so abweichend vom Arbeitszeitgesetz als nicht gesetzeskonform errechnet wird, kann ein Bußgeld von 75.- Euro nach sich ziehen – bis zur Obergrenzen (ohne Vorsatz) von 15.000 Euro oder gar strafrechtlicher Verfolgung. Das (Kosten)Risiko ist also enorm.
Schritt 2: Die Analyse – wo entsteht das Problem
Überstunden können temporär in jedem Betrieb entstehen – durch (krankheitsbedingte) Ausfälle bei dünner Personaldecke oder unerwartet hohen Arbeitsanfall. Dann werden sie ausgeglichen. Hier lässt das Gesetz begrenzte Spielräume.
Aber – und auch darüber waren sich die Podiumsteilnehmer beim bpt-Kongress einig – in den Tierarztpraxen sind es meist tiefer liegende, strukturelle Probleme: Vielfach versuchen Praxen zu viel „Kundenorientierung“ mit zu wenig Personal.
So gebe es Dinge, die können nicht funktionieren – etwa mit 4 bis 6 angestellten Tierärzten einen 24 Stunden-Dienst an 7 Wochentagen anzubieten. Mit dieser Personaldecke lassen sich die Vorgaben des deutschen Arbeitszeitgesetzes auf Dauer schlicht nicht einhalten.
Für kleine und mittelgroße Praxen gilt eine einfache Regel: Sie müssen ganz nüchtern feststellen, wie viele Mitarbeiter habe ich und welche Öffnungszeiten/Dienste kann ich mit diesen „legal“ anbieten.
Alles, was über eine 48-Stunden-Woche je Mitarbeiter (und die wenigen möglichen Ausnahmen im Gesetz) hinausgeht, ist zu streichen – oder der/die Inhaber müssen es selbst leisten. Für Selbständige gelten nämlich keine Arbeitszeitbeschränkungen.
Neben den klassischen Spät-, Not- und Wochenenddiensten gibt es weitere typische „Fallen“:
- Etwa die freie Sprechstunde am Spätnachmittag bis 19 oder gar 20 Uhr. Oft füllt sich das Wartezimmer in der letzten Stunde – damit sind Überstunden vorprogrammiert.
- Ebenfalls klassisch: Angestellte übernehmen kurz vor Ende der Arbeitszeit noch einen komplexeren Fall, bei dem absehbar ist, dass er länger dauern wird. Bei überlappenden Schichten, müssen diese Patienten gezielt dem neuen Diensthabenden zugeteilt werden.
- Ineffektive Arbeitszeiten: Selbst Kliniken machen vielfach noch zu lange „Mittagspause“. Die Auslastung von Mitarbeitern und Räumen und Ausstattung muss möglichst gleichmäßig erfolgen. In die Zeiten mit geringerer Kundenfrequenz können aufwändigere Behandlungen geplant werden.
An einer Bestellpraxis mit sorgfältig überlegter Kundensteuerung und Notdienstkooperationen führt deshalb heutzutage meist kein Weg vorbei. Viele Praxen berichten, dass die Kunden das auch annehmen.
Größere Praxen und vor allem Tierkliniken mit Notdienst kommen dabei um einen Dreischichtbetrieb nicht herum.
Den Arbeitszeit- und Personalbedarf richtig zu berechnen und Schichtpläne passgenau für die Besonderheiten einer Praxis/Klinik zu entwerfen, ist wiederum eine Kunst. Praxisinhaber sollten hier auf externe Berater zurückgreifen.
Kim Middeldorf, Qualitätsmanagerin bei Deutschlands aktuell größter Klinikkette AniCura, berichtet, dass sie und ihr Team momentan fast nur noch mit der Optimierung der Arbeitsabläufe, Dienstpläne und Arbeitszeiten befasst seien. Die Erwartungen der 34 Standorte in Deutschland, Österreich und der Schweiz seien sehr hoch. Umgekehrt rechne die Klinikkette damit, dass sie womöglich eher in den Fokus der Aufsichtsbehörden geraten könne, als kleinere Einheiten.
Schritt 3: Lösungen suchen – Einnahmen anpassen
Auch Carsten Vogt, Praxisinhaber aus Niedersachsen rät seinen Kollegen, mit einer ehrlichen Analyse schnell Handlungsspielraum zurück zu gewinnen.
Um der Überstunden Herr zu werden, hat seine Praxis in einem ersten Schritt alle Samstagsangebote gekappt. „Dann fehlte uns natürlich Umsatz. Also habe wir die Preise um fünf Prozent erhöht.“ Ohne eine rein betriebswirtschaftlich orientierte Abrechnung lasse sich auch das Arbeitszeitproblem schlicht nicht lösen. Beides hätten die Kunden mehrheitlich mitgetragen.
Anschließend wurden Arbeitsabläufe und Dienstpläne optimiert. Inzwischen sei das 21-köpfige Tierarztteam der Tierärztlichen Praxis Ottersberg bei einer 4-Tage-Woche – trotz Notdienst.
Andere „schrumpfen sich gesund“. So berichtete ein Kollege, die Gemischtpraxis von sechs auf einen Angestellten abgeschmolzen zu haben. Den Kleintieranteil hat er komplett abgegeben. Es werde – wenn alle Praxen angemessene Gehälter zahlen und Arbeitszeiten gesetzeskonform anpassen – künftig auch weniger Stellen für angestellte Tierärzte geben, war eine These in München.
Hoffnung: Tarifvertrag
Den knapp 12.000 selbständigen niedergelassenen Praktikern stehen in Deutschland inzwischen etwa 8.000 angestellte Tierärzte gegenüber – Tendenz steigend, sagt die Deutsche Tierärztestatistik 2016. Einen Tarifvertrag wie in der Humanmedizin, der abweichend vom Arbeitszeitgesetz längere Dienst- und verkürzte Ruhezeiten ermöglicht, haben sie nicht. Und er wird auch so schnell nicht kommen, da für Tierärzte weder ein Arbeitgeberverband noch eine Gewerkschaft existiert (Erklärung u.a. hier und hier).
Theoretisch könnten sich aber Tierkliniken zu einem solchen Arbeitgeberverband zusammenschließen und auch die (dort) Angestellten eine Gewerkschaft gründen. Der Bund angestellter Tierärzte will diesen Weg gehen. Doch bevor die Aufsichtsbehörden einen zwischen diesen Gruppen geschlossenen Arbeitszeittarifvertrag anerkennen, dürften sie genau prüfen: Wie „streikmächtig“ ist eine solche Tierarztgewerkschaft (finanziell und von der Mitgliederzahl her)? Oder handelt es sich womöglich um eine sogenannte „Gefälligkeitsvereinbarung“? Außerdem kann ein Tarifvertrag nicht nur Arbeitszeiten regeln, sondern muss auch andere arbeitsrechtliche Themen bearbeiten – nicht zuletzt Gehälter.
Einen Erhalt des Status quo wird es also auch mit Tarifvertrag nicht geben.
Sonderlösung: Ausnahmebewilligung
Das Arbeitszeitgesetz ermächtigt unter Auflagen lokale Aufsichtsbehörden Ausnahmen zu bewilligen. Mit umfangreicher juristischer Vorbereitung ist es AniCura in Baden-Württemberg für einen Standort gelungen, eine solche Ausnahme zu erhalten.
Dazu musste man (verkürzt dargestellt) belegen, dass ein öffentliches Interesse besteht (Notdienstversorgung), die Branche selbst tariffrei ist, eine funktionierende Arbeitszeiterfassung existiert und man alle künftigen Auflagen einhalten kann.
Die zuständige Aufsichtsbehörde orientiert sich dann an einem vergleichbaren Tarifvertrag (hier: kommunale Krankenhäuser). Aus diesem werden dann alle(!) Vorgaben – nicht nur die Arbeitszeitregelungen – für die individuell formulierte Ausnahmebewilligung abgeleitet.
Eine „Musterlösung“, an die sich andere Kliniken/Standorte „anhängen“ können, sei dieser Weg also nicht, hieß es in München. Die Prüfung erfolgt lokal/regional und berücksichtigt immer die individuellen Begebenheiten vor Ort.
(Diesen Absatz finden Sie hier als eigenen Artikel – auf den man direkt verlinken kann)
Fazit des Roundtables: Veränderung wagen
Praxen sollten sich dem Arbeitszeitproblem jetzt(!) ehrlich stellen und offensiv gegensteuern. Es ist lösbar. Aber dazu gehören strukturelle Veränderungen, eine Abkehr vom Fullservice-Gedanken und der Angst, ansonsten Kunden an die „Konkurrenz zu verlieren“. Stattdessen brauche es die Bereitschaft zu mehr Kooperation zwischen Praxen, insbesondere bei Wochenend- und Notdiensten. Hier seien auch Kammern und Verbände gefordert, neue Modelle zu erproben.
Unverzichtbar ist das Selbstbewusstsein, die eigenen Leistungen auch so abzurechnen, dass die Angebote (und Mitarbeiter) rechtskonform finanzierbar sind.
Ansonsten gelte: „Es muss sich nur ein Mitarbeiter „unwohl“ fühlen, dann steht das Amt vor der Tür – und dann lernen Sie unter Schmerzen“, kommentierte Carsten Vogt.