Der Europäische Gerichtshof hat geurteilt: Es reicht nicht mehr aus, allein Mehrarbeit zu erfassen. Ein Unternehmen muss die komplette Arbeitszeit eines angestellten Mitarbeiters lückenlos dokumentieren. Bis das Urteil in nationales Recht umgesetzt ist, wird es zwar noch etwas dauern. Doch schon jetzt sollten Tierarztpraxen eine Arbeitszeiterfassung einrichten.
(jh) – In der Debatte um die Arbeitszeit bei Tierärzten geht es um drei Themen:
- Angestellte Tierärzte arbeiten zum Teil deutlich länger, als es das Arbeitszeitgesetz erlaubt. So zeigt eine aktuelle bpt-Umfrage, dass es in Praxen immer noch Arbeitszeiten jenseits der 50 und sogar 100 Wochenstunden gibt (siehe Daten und Illustration am Artikelende).
- Tierarztpraxen und Kliniken wiederum können ihre Nacht- und Notdienste mit den vorhandenen Mitarbeitern kaum noch arbeitszeitgesetzkonform anbieten. Die Höchstgrenzen und vor allem die Ruhezeiten führen dazu, dass Kliniken ihre Zulassung zurück- und den Notdienst aufgeben.
- Tierarztverbände fordern deshalb dringend eine Flexibilisierung der Arbeitszeit.
In diese Diskussion fällt ein Urteil des Europäischen Gerichtshofes. Es verlangt, dass Arbeitgeber künftig die komplette Arbeitszeit ihrer Angestellten objektiv und verlässlich dokumentieren müssen und nicht nur – wie etwa in Deutschland – Mehrarbeit oder Nacht-/Sonntags-/Feiertagsarbeit. Ein Arbeitgeber müsse nachvollziehbar aufzeigen können, dass er die Arbeitszeitvorschriften eingehalten habe.
Bis das EuGH-Urteil in nationales Recht umgesetzt ist, gilt aber zunächst weiter uneingeschränkt das deutsche Arbeitszeitgesetz (AzG). Das kennt zwar auch heute schon Aufzeichnungspflichten, diese decken aber nur Teilbereiche ab und sind deshalb nicht ganz unkompliziert.
Kommentar zur Arbeitszeitdebatte: Warum keine Vier-Tage Woche?
Aufzeichnungspflicht – was heute schon gilt:
Sinnvoll ist es deshalb, zunächst die Begriffe zu klären und zu unterscheiden, denn aufzeichnungspflichtige Stunden (§16 II AZG) sind nicht dasselbe wie Mehrarbeit oder Überstunden:
- Mehrarbeit ist die Zeit, die über die gesetzlich vorgegebene Höchstarbeitszeit von acht Stunden am Tag hinausgeht. Diese Zeit muss bereits jetzt aufgezeichnet werden.
- Überstunden sind Arbeitsstunden, die über die vertraglich vereinbarte (Wochen)Arbeitszeit hinaus geleistet werden. Sie müssen erst dann aufgezeichnet werden, wenn sie über die tägliche Arbeitszeit von acht Stunden hinausgehen oder an Sonn-/Feiertagen anfallen.
Beispiel: Ein Arbeitnehmer hat eine vertragliche 40-Stunden-Woche. Er arbeitet an vier Tagen der Woche neun, am fünften Tag aber nur vier Stunden. In diesem Fall hat er zwar an vier Tagen aufzeichnungspflichtige Mehrarbeit (je eine Stunde), aber insgesamt noch keine Überstunden geleistet. Erst wenn er am Tag fünf auch acht Stunden arbeitet sind dann vier Überstunden angefallen (40 Vertragsstunden + 4 Stunden).
- Sonderfall Teilzeitarbeit: Überstunden sind bei Teilzeitmitarbeitern gesetzlich nicht aufzeichnungspflichtig, solange die tägliche Arbeitszeit von acht Stunden nicht überschritten wird.
- Sonn- und Feiertagsarbeit (der Samstag ist ein Werktag) muss auch heute bereits immer aufgezeichnet werden.
- Gleiches gilt für sogenannte Vertrauensarbeitszeit etwa in der Fahrpraxis. Kann der Arbeitnehmer seine Arbeitszeit frei gestalten, ist es bereits heute gesetzliche Pflicht, diese Arbeitszeiten zu dokumentieren.
- Alle verpflichtenden Aufzeichnungen muss der Arbeitgeber zwei Jahre aufbewahren.
Wichtig ist dabei: Die Aufzeichnungspflichten gemäß Arbeitszeitgesetz haben nichts mit der Vergütung zu tun. Hier geht es rein um Kontrollmöglichkeiten des Gesetzgebers, ob das Arbeitszeitgesetz eingehalten wurde.
Natürlich ist es für die Abrechung von geleisteten Arbeitsstunden für Arbeitnehmer und Arbeitgeber notwendig und sinnvoll, festzuhalten zu welchen Tages- und Nachtzeiten gearbeitet wurde. Nur so kann man Vergütung und gegebenenfalls Zuschläge berechnen. Dies regelt aber nicht das Arbeitszeitgesetz, sondern der Arbeits- oder Tarifvertrag.
EuGH-Urteil: Arbeitszeit komplett aufzeichnen
Bei dieser unübersichtlichen „aktuellen Aufzeichnungslage“ setzt das EuGH-Urteil an: Um die Rechte eines Arbeitnehmers wirksam schützen zu können, müsse klar nachvollziebar sein, wann er gearbeitet hat und wann nicht. Mehrarbeit und/oder Überstunden liessen sich aber nur dann verlässlich erkennen und sicher abgrenzen, wenn zuvor auch die reguläre tägliche und wöchentliche Arbeitszeit (Beginn und Ende gegebenenfalls durch Pausen unterbrochen) dokumentiert wurde.
Die Konsequenz des EuGH-Urteils: Künftig muss die komplette Arbeitszeit aufgezeichnet werden.
Aufzeichnungspflicht an Mitarbeiter delegieren
Diese Aufzeichnungspflicht obliegt – wie bisher auch schon – dem Arbeitgeber. Er kann dazu (elektronische) Zeiterfassungsysteme einsetzen. Er kann die Mitarbeiter aber auch verpflichten, ein Stundenbuch oder einen Stundenzettel zu führen. Diese muss er dann regelmäßig prüfen/abzeichnen. Verantwortlich für die Einhaltung des Arbeitszeitgesetzes und die ordnungsgemäße Dokumentation der Arbeitszeit bleibt der Arbeitgeber. Verstösse dagegen, werden mit Bußgeldern geahndet (15.000 Euro-Beispiel hier).
Umgekehrt haben Mitarbeiter, die im Streitfall beim Arbeitsgericht eigene Zeitaufzeichnungen vorlegen, recht „gute Karten“, wenn der Arbeitgeber selbst keine Arbeitszeiterfassung hat.
Dringender Rat: Jetzt Arbeitszeiterfassung einführen
Juristen empfehlen deshalb schon jetzt jeder Praxis eine Arbeitszeiterfassung einzuführen. Die muss (künftig) die Zahl der täglichen Arbeitsstunden und der wöchentlichen Arbeitsstunden messen und zwar objektiv und verlässlich. Theoretisch reichen dafür zwar weiterhin Stundenzettel/Stundenbücher. Eindeutig besser sind aber elektronische Zeiterfassungssysteme, zumal hier die Auswertung durch entsprechend hinterlegte Vereinbarungen zur Arbeitszeit um ein Vielfaches einfacher ist.
Hintergrund: Je stärker das Arbeitszeitthema öffentlich diskutiert wird, desto größer werde auch die Sensibilität der Aufsichtsbehörden beim Thema Arbeitszeit. Gerade in der Tiermedizin mit Not- und Nachtdiensten ist die Arbeitszeitdebatte aktuell sehr präsent. Hier steigt auch der Kontrolldruck.
Theoretisch können Praxisinhaber zwar mit einer kompletten Erfassung noch bis zur Umsetzung des EuGH-Urteils in nationales Recht warten. Das kann durchaus noch ein oder zwei Jahre dauern.
Es ist aber nicht klar, ab wann Arbeitsgerichte Streitfälle um Mehrarbeit/Überstunden bereits im Sinne des EuGH-Urteils bewerten.
Quellen:
Vortrag Gabriele Moog / bpt-Kongress München
Pressemeldung des Europäischen Gerichtshofes zum Arbeitszeiterfassungsurteil (AZ C-55/18 von Mai 2019 – PDF-Download)
Deutsches Arbeitszeitgesetz
Arbeitszeitgesetz: Wie lange darf ein angestellter Tierarzt arbeiten?