Welche Antibiotika sind für Menschen besonderes wichtig? Und welche sollen deshalb bei Tieren möglichst wenig eingesetzt werden? Nachdem die Weltgesundheitsorganisation (WHO) die Wirkstoffe neu klassifiziert hat, will jetzt auch die EU ihre Vorgaben für die Tiermedizin neu und vor allem verständlicher ordnen. Sie wählt dafür vier Kategorien.
(aw/jh) – In welche „Wichtigkeitsklasse“ internationale Organisationen antimikrobielle Wirkstoffe einordnen, hat für Tierärzte oft unmittelbare Konsequenzen: Wird ein Antibiotikum für den Menschen als besonders bedeutsam eingestuft, folgen daraus inzwischen – zumindest in Europa – fast immer Einsatzbeschränkungen für die Tiermedizin. Für Deutschland macht die letzte TÄHAV-Novelle entsprechende Vorgaben (Details hier) – insbesondere für Fluorchinolone und Cephalosporine der 3./4. Generation.
Neu: A bis D – von „Vermeiden“ bis „umsichtig“ einsetzen
Die letzte EU-Einordnung der antimikrobiellen Wirkstoffe stammt aus dem Jahr 2014. Sie ist aktuell weiter gültig und kennt nur drei Gruppen. In der öffentlichen Debatte werden vor allem die englischen Bezeichnungen nach den damaligen Vorgaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) verwendet. Die (aufsteigende) Klassifizierung von „Highly Important“ über „Critically Important“ bis zu „Highest Priority Critically Important“ ist dabei nicht so leicht ins Deutsche zu übertragen. Oft wurde dann die höchste Kategorie pauschal, schlicht (und falsch) mit Reserveantibiotika „übersetzt“.
Künftig will die EU die Antibiotika in vier einfach zu verstehende Kategorien (A bis D) einteilen (Details weiter unten). Deren Namen sind zugleich eine Einsatzempfehlung für die Tiermedizin :
Vermeiden (A) – Einschränken (B) – Vorsichtig (C) – Umsichtig (D)
Sämtliche Klassen der aktuell verfügbaren antimikrobiell wirksamen Substanzen hat die Europäische Arzneimittelagentur (EMA) in diese vier neuen Kategorien eingeordnet. Sie orientiert sich dabei an der Bedeutung für die Humanmedizin, berücksichtigt aber auch, inwieweit es für die Tiermedizin Alternativen gibt.
Übersicht: Welche Antibiotika fallen künftig in welche Kategorie:
Kategorie A – Avoid (Vermeiden)
Hierzu gehören alle Antibiotika, die bislang nicht für die Tiermedizin zugelassen sind, also der Humanmedizin vorbehalten bleiben. Die Anwendung dieser Wirkstoffe ist für lebensmittelliefernde Tiere verboten. Bei Haustieren soll der Einsatz nur im Einzelfall im Einklang mit der Umwidmungskaskade möglich sein.
- In die Kategorie A ordnet die EMA folgende 14 Wirkstoffgruppen ein:
Amidinopenicilline, Carbapeneme und andere Peneme, Cephalosporine der 5. Generation, Glykopeptide, zyklische Lipopeptide, Monobactame, Oxazolidinone, Carboxylpenicilline und Ureidopenicilline in Kombination mit ß-Lactamase-Inhibitoren, Pseudaminsäure, Riminofenazine, Streptogramine, Sulfone (Sulfonylharnstoffe) und die Wirkstoffe, die ausschließlich zur Behandlung von Tuberkulose und anderen mykobakteriellen Erkrankungen verwendet werden.
Kategorie B – Restrict (Einschränken)
Sie beinhaltet alle Wirkstoffe, die die (WHO) bisher als Highest Priority Critically Important (HPCIA) einstuft. Europa will hier aber eine Ausnahme machen: Die Makrolide – sie fallen in die nächste niedrigere Kategorie C.
Restriktionen sollen Risiken für die öffentliche Gesundheit abmildern. Tierärzte sollen die Wirkstoffe dieser Kategorie nur dann anwenden, wenn keine Wirkstoffe aus den Kategorien C und D wirksam sind. Soweit es möglich ist, sollte vor der Anwendung ein Resistenztest erfolgen.
- Zur Kategorie B gehören folgende drei Wirkstoffgruppen:
Cephalosporine der 3. und 4. Generation, Polymyxine (incl. Colistin) und die Quinolone (Fluourquinolone und andere Quinolone).
Der Einsatz von Cephalosporine der 3./4. Generation und von Fluorchinolonen ist in Deutschland schon jetzt nur noch erlaubt, wenn bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind. Geregelt ist das in der neuen Tierärztlichen Hausapothekenverordnung (TÄHAV).
Kategorie C – Caution (Vorsichtig)
Hier finden sich Antibiotika, für die es in der Humanmedizin Alternativen gibt, die aber eines der folgenden Kriterien erfüllen:
- In der Tiermedizin gibt es keine oder nur wenige Alternativen, die in Kategorie D (s. u.) angesiedelt sind
- und/oder das Antibiotikum selektiert Bakterien mit multiresistenten Genen auf die gleichen Resistenzen wie Stoffe der Kategorie A (Co-Selektion).
Antibiotika dieser Kategorie bergen ein größeres Risiko, dass Antibiotikaresistenzen von Tieren auf Menschen verschleppt werden, als Kategorie-D-Wirkstoffe. Sie sollten daher nur angewendet werden, wenn keine Wirkstoffe aus Kategorie D wirksam sind.
- Die Wirkstoffe der Kategorie C umfassen sieben Gruppen:
Aminopenicilline in Kombination mit ß-Lactamase-Inhibitoren, Amphenicole, Cephalosporine der 1. und 2. Generation, Makrolide, Lincosamide, Pleuromutiline, Rifamycin.
Kategorie D – Prudence (Umsichtig)
Die letzte Gruppe umfasst alle Antibiotikaklassen, für die es in der Humanmedizin für die jeweilige Indikation Alternativen gibt und die nicht auf multiresistente Gene selektieren, die auch durch Wirkstoffe der Kategorie A selektiert werden.
- Als Wirkstoffe der Kategorie D nennt die EMA im wesentlichen sechs Wirkstoffgruppen:
Aminopenicilline ohne ß-Lactamase Inhibitoren, zyklische Polypeptide, Nitrofuram-Derivate, Steroidantibiotika (Fusidinsäure), Sulfonamide, Dihydrofolate und Reduktase-Inhibitoren, sowie Penicilline mit engem Wirkungsspektrum oder Wirksamkeit gegen Staphylokokken.
Eine Einstufung in Kategorie D ist kein Freibrief für den Einsatz, sondern er soll auch hier „umsichtig“ erfolgen (Prudent Use).
Kriterien für die Neuordnung
Die EMA hat ihre Entscheidung, in welche der neuen Kategorien ein Antibiotikum einzuordnen ist, von verschiedenen Kriterien abhängig gemacht (siehe auch Grafik).
Zunächst davon, ob die Wirkstoff(unter)klasse oder -gruppe überhaupt für die Veterinärmedizin zugelassen ist. Dann geht es um die Wichtigkeit der (Unter)Klasse oder Gruppe für die Humanmedizin in Anlehnung an die WHO-Bewertung.
Ebenfalls relevant ist die Wahrscheinlichkeit einer Resistenzverschleppung von Tieren auf Menschen und die daraus resultierenden Konsequenzen. Und schließlich geht es darum, ob für die Veterinärmedizin alternative Antibiotika(unter)klassen mit niedrigerem Risiko für eine Resistenzverschleppung verfügbar sind.
Noch nicht beschlossen – Verbändemeinung gefragt
Die neue EU-Einteilung in diese vier Kategorien ist so noch nicht beschlossen. Bis zum 30. April 2019 können Verbände oder auch Einzelpersonen Einwände gegen die neue Klassifizierung einreichen oder sie kommentieren. Dazu muss man dieses Formular (Download) verwenden und an diese Adresse senden: vet-guidelines@ema.europa.eu.
Sobald die Klassifikation beschlossen wird, soll sie Entscheidungsträgern in der EU helfen, Leitlinien oder nationale Regeln für den Umgang mit Antibiotika in der Tiermedizin zu entwerfen.
Konflikt mit der Weltorganisation für Tiergesundheit (OIE)?
Auch die OIE hat Antibiotika in Klassen eingeteilt. Diese beschreiben, wie wichtig die OIE die Verfügbarkeit der folgenden Wirkstoffe für die Behandlung von Tieren einstuft.
- (1) Ganz besonders wichtig sind laut OIE diese Veterinary Critically Important Antimicrobials (VCIA):
Tetrazykline, Sulfonamide, Penicilline, Aminopenicilline mit und ohne ß-Lactamaseinhibitoren, Amphenicole, Aminoglykoside, Cephalosporine der 1. und 2. Generation.
Auch Cephalosporine der 3. und 4. Generation Quinolone und Makrolide fallen in diese Gruppe.
– Hier kollidiert der OIE-Anspruch mit dem „Restrict“-Ansatz der EMA - (2) Als für die Tiermedizin sehr wichtige Antibiotika – Veterinary Highly Important Antimicrobials (VHIA) – sieht die OIE folgende Wirkstoffe/Klassen:
Polymyxine (Colistin), Lincosamide, Pleuromutiline, Rifamycin, zyklische Polypeptide.
– Colistin stuft die Weltgesundheitsorganisation für Menschen als „Reserveantibiotikum“ ein - (3) In die Gruppe der wichtigen Vetrinärantibiotika (Veterinary Important Antimicrobials / VIA) ordnet die OIE
steroidale Antibiotika (Fusidinsäure) ein
wir-sind-tierarzt meint:
Fair diskutieren
(aw) – Als Tierärztin empfinde ich die nach wie vor laufende Antibiotikadebatte schon als ein Stück weit unfair: Die Humanmedizin verfügt über 14(!) neuere, sehr potente Antibiotika, die ihr exklusiv vorbehalten bleiben. Für die Tiermedizin wurde seit Jahrzehnten kein neuer Wirkstoff zugelassen.
„Gerungen“ wird dennoch vor allem um die Cephalosporine der 3./4. Generation und die (Fluor)Quinolone – sprich: Auflagen sollen den Tierärzten den Einsatz erschweren. Die Weltorganisation für Tiergesundheit stuft diese Antibiotika aber für die Tiermedizin als ganz besonders wichtig ein, weil sie sehr gut wirksam sind.
In der Humanmedizin sind sie ebenfalls besonders wichtig. Aber nicht, weil sie völlig unverzichtbar wären, sondern weil Ärzte sie dort ganz besonders häufig einsetzen (in Deutschland entfällt darauf insgesamt gut ein Drittel der Einsätze von Humanantibiotika). Deshalb ist der Resistenzdruck besonders hoch.
Ich erwarte jetzt nicht, dass man diese Antibiotika für die Tiermedizin unreguliert frei gibt. Aber man sollte anerkennen, dass Tierärzte diese Wirkstoffe in Deutschland und Europa bereits restriktiv einsetzen (zuletzt 13,3 von insgesamt 733 Tonnen Anitibiotika).
Vielleicht kann die neue EU-Einstufung die öffentliche/politische Debatte ja etwas versachlichen? Hier hat die EMA die der Humanmedizin vorbehaltenen Wirkstoffe klar aufgelistet – ähnlich wie die neue WHO-Einstufung aus dem Jahr 2017, die extra die Reserveantibiotika der Humanmedizin benennt.
Ich erwarte: Im Zusammenhang mit Cephalosporinen der 3. Generation und Fluorquinolonen sollte zumindest der Begriff „Reserveantibiotika“ künftig aus der Debatte verschwinden. Nein, Tierärzte verschwenden hier nicht die „letzten für den Menschen noch wirksamen Antibiotika“ an Schweine oder Hamster. Sie setzen diese auch für die Tiermedizin wichtigen Wirkstoffe (OIE!) restriktiv ein.
Bei Colistin und auch den Cephalosporinen der 4. Generation – das verlangen auch die neuen Einstufungen – muss die Tiermedizin den Einsatz aber so weit wie möglich reduzieren.