Verschiebebahnhof „Reserveantibiotika“ – eine Analyse

Euterinjektion: Die aktuellen Mengendaten lassen erkennen, dass ein Großteil der "kritischen Antibiotika" wohl bei Milchkühen eingesetzt wird.Euterinjektion: Die aktuellen Mengendaten lassen erkennen, dass ein Großteil der "kritischen Antibiotika" wohl bei Milchkühen eingesetzt wird. (Foto: © WiSiTiA/aw)

401 Tonnen weniger Antibiotika in einem Jahr – dafür 3,4 Tonnen mehr an sogenannten“Reserveantibiotika“ eingesetzt. Das provoziert den Vorwurf: „Vermutlich“ kompensieren die Tierärzte in der Tiermast „klassische Wirkstoffe“ mit „für Menschen wichtigen Antibiotika“, um die Menge runter zu bekommen. Wir suchen Erklärungen, warum die Mengen sich 2015 so entwickelt haben.

Hinweis: Die „großen Anstiege“ bei den eingesetzten Mengen an Fluorchinolonen und Chephalosporinen für das Jahr 2015 – auf die sich die Befürworter des „Verschiebebahnhof-Argumentes“ beziehen – entstanden durch eine fehlerhafte Datenmeldung/auswertung. Das BVL hat diese Daten im September 2016 korrigiert (Meldung hier). Die Kritiker verwenden die Argumentation im Grundsatz aber weiterhin.

von Jörg Held und Annegret Wagner

Auf ein zentrales Problem der Antibiotikamengenerfassung weist das federführende Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (BVL) selbst hin: Die Mengen werden keinen Tierarten zugeordnet. Ob Schwein oder Katze, Pferd oder Rind – welche Tierart mit welchem der an Tierärzte gelieferten Antibiotika behandelt wurde, kann man nicht direkt ablesen.

Indirekt ginge das in gewissen Grenzen aber durchaus: Das BVL müsste – zum Beispiel bei den sogenannten „Reserveantibiotika“ – auswerten dürfen, welcher Anteil der ausgelieferten Mengen oral oder per Injektion verabreicht wird. Oral, also über Futter oder Trinkwasser, ist der übliche Behandlungsweg in der Schweine- oder Geflügelmast. Eine Injektionsbehandlung erfolgt vor allem bei Milchkühen, Ferkeln, Sauen, Pferden oder Haustieren.

Verschiebebahnhof „Reserveantibiotika“?

Fakt ist: Die großen Mengenrückgänge seit Beginn der Erfassung 2011 gab es vor allem bei den klassischen oralen Wirkstoffen – also in der Tiermast.
Umgekehrt, stieg aber die Menge bei den sogenannten „Reserveantibiotika“. Der Vorwurf lautet deshalb:  Die Tiermedizin weicht verstärkt auf Wirkstoffe aus, die als „Highest Priority Critically Important“ für die Humanmedizin gelten – hierzulande auch als „Reserveantibiotika“ bezeichnet: Fluorchinolone und Chephalosporine der 3./4. Generation.

Betrachtet man dies aktuelle Entwicklung mit dem Wissen um Anwendungsart (oral/parenteral), Zulassung für Tierarten und Krankheiten, sowie mit Kenntnis der QS-Zahlen dann gibt es für die starken Veränderungen der Antibiotikamengenzahlen in 2015 einige plausible Erklärungsansätze und auch Zusammenhänge – sowohl für den Rückgang als auch die Anstiege.

Arzneimittelgesetz greift

Generell war für 2015 durch das staatliche Antibiotikamonitoring ein stärkerer Rückgang erwartet worden: Erstmals hat der Staat in 2015 einen Therapieindex für alle Masttierhalter berechnet, so dass sie ihren Antibiotikaeinsatz einordnen und reduzieren konnten. „Vielverwender“ wurden identifiziert und ausdrücklich zur Minimierung ihres Antibiotikaeinsatzes aufgefordert. Der Effekt ist in den insgesamt sinkenden Mengen klar zu erkennen.

Woher aber kommen die Anstiege?

Deutliche Mengenanstiege gab es 2015 bei den sogenannten "Reserveantibiotika" (Fluorchinolonen/Cephalosporinen 3.G)

Deutliche Mengenanstiege gab es 2015 bei den sogenannten „Reserveantibiotika“ (Fluorchinolonen/Cephalosporinen 3.G). (Tabelle: © BVL)

Cephalosporine: Anstieg 0,9 Tonnen

Dass mit den „kritischen“ Cephalosporinen der 3. und 4. Generation in großem Stil andere Antibotika kompensiert wurden, ist nahezu auszuschließen: Sie sind bei Nutztieren ausschließlich für Schweine und Rinder zugelassen und es gibt nur Präparate zur Anwendung am Euter, in der Gebärmutter oder zur Injektion.

Fazit: Mit Injektionsware andere zuvor oral eingesetzte Antibiotika zu „ersetzen“ und so Verbrauchsmengen zu reduzieren, ist bei Mastschweinen völlig unökonomisch. Jedes einzelne Schwein zu spritzen würde teure Arbeitszeit binden und Schweine wie Anwender erheblich stressen.
Bei den 4.-Generation-Cephalosporinen sind die Mengen 2015 und auch seit 2011 insgesamt ohnehin leicht rückläufig. Angestiegen sind aber im Jahr 2015 die 3.-Generation-Cephalosporine – und zwar deutlich um plus 0,9 Tonnen (39%).

Sonderfall „Milchkühe“ – die Cephalosporine der 3. Generation sind ein typisches Rindermedikament mit einem entscheidenden Vorteil gegenüber anderen Antibiotika: Sie haben Null-Tage-Wartezeit auf die Milch. Das bedeutet: Auch während einer Behandlung darf Milch geliefert werden. Für den Mengenanstieg dieser Wirkstoffgruppe wäre die schwierige Lage am Milchmarkt mit den desaströsen Preisen ein plausibles Argument. Für die Landwirte zählt jeder Cent und damit jeder lieferbare Liter Milch. Hier bei einer Antibiotikabehandlung einen (zugelassenen!) Wirkstoff zu wählen, bei dem man die Milch nicht wegschütten muss, ist nachvollziehbar.
Gleichzeitig könnte im gewissen Umfang auch das Penicillin-Lieferpoblem (siehe unten) eine Rolle gespielt haben.

Fluorchinolone: Anstieg 2,6 Tonnen

Dieser Anstieg um 2,6 Tonnen in 2015 und 6,7 Tonnen über den gesamten Erfassungszeitraum seit 2011 ist Hauptauslöser für die aktuelle Kritik des „Verschiebebahnhofs“.
Fluorquinolone haben den Vorteil, dass sie (noch) gegen ein breites Spektrum von Krankheiten wirksam und gut verträglich sind. Entsprechend gehören sie auch in der Humanmedizin zu den am häufigsten eingesetzten Antibiotika (Platz 5 / Cephalosporine Platz 2). In der Tiermedizin sind sie praktisch für alle Tierarten zugelassen, beziehungsweise anwendbar (minor species).

Fluorchinolone beim Geflügel – bei Hühnern und Puten sind sie auch zur oralen Medikation zugelassen, also für den Einsatz in der Mast geeignet. Allerdings ist die benötigte Wirkstoffmenge pro Kilogramm Körpergewicht nicht immer niedriger als für andere Wirkstoffe – und unendlich weit entfernt vom „Faktor 70“, wie ihn die Gruppe „Ärzte gegen Massentierhaltung“ ins Gespräch bringt.

Mit Fluorchinolonen liesse sich hier vor allem Trimethoprim/Sulfonamid ersetzen – allerdings „nur“ mit dem Mengenfaktor 10. Dagegen ist die nötige Wirkstoffmenge sogar höher als bei Colistin. Mit einem Wechsel auf Fluorquinolone kann man daher beim Geflügel nicht unbedingt eine deutliche Mengenabnahme an antibiotischen Wirkstoffen erreichen.
Dass dies tatsächlich nicht der Fall war, zeigen auch die Zahlen aus dem QS-Antibiotikamonitoring: Sie belegen von 2014 auf 2015 einen Rückgang der Fluorchinolone in der Mast um 1,2 Tonnen.

Weniger "Reserveantibiotika" in der Mast: klarer Rückgang bei Fluorchinolonen, Anstieg bei den Cephalosporinen.

Weniger „Reserveantibiotika“ in der Mast: klarer Rückgang bei Fluorchinolonen, Anstieg bei den Cephalosporinen. (Daten/Tabelle: © QS)

Fluorquinolone beim Pferd – Pferde gelten als „minor species“, als Tiergruppe für die eher selten spezielle Medikamente zugelassen werden, bei der also öfter „umgewidmet“ werden muss. Da Antibiotika nach Kilogramm Körpergewicht dosiert werden (KGW), benötigen Pferde gewichtsmäßig (und damit mengentechnisch) ungleich höhere Dosierungen als Haus- und Heimtiere oder Geflügel.
Fluorquinolone sind für Pferde in Deutschland nicht zugelassen. Aber durch den vorübergehenden Ausfall von Penicillinen (siehe unten) und Cefoquinom aufgrund von Lieferproblemen in den letzten Jahren, sind zwei extrem wichtige Wirkstoffe in der Pferdemedizin weggefallen. In vielen Fällen hat dies zur Umwidmung von Fluorquinolonen geführt (bei Pferden, die nicht zur Schlachtung bestimmt sind).

Fluorchinolone bei Rindern/Milchkühen – Auch hier waren sie während der Lieferprobleme für Penethamat(hydroiodid – mehr im nächsten Abschnitt) die einzige gut wirksame, zugelassene Alternative zur parenteralen Mastitisbehandlung von Rindern.
Als Alternative stünden noch Makrolide und im beschränkten Maße Cephalosporine zur Verfügung, beides aber laut WHO ebenfalls wichtige Antibiotika für die Humanedizin und damit kein besserer Ersatz.

Der Antibiotikaeinsatz bei Milchkühen wird zur Zeit weder vom QS-System noch vom staatlichen Antibiotikamonoitoring erfasst. Wenn es um aber um die Menge Wirkstoff geht, sind die 4,3 Millionen Milchkühe vom Körpergewicht und entsprechenden Medikamtenbedarf eine Gruppe, die man nicht (länger) vernachlässigen darf.

Penicillin: Rückgang 225 Tonnen

Allein die Wirkstoffgruppe der Penicilline ist mit knapp 150 Tonnen für fast 40 Prozent des gesamten Mengenrückgangs von 401 Tonnen im Jahr 2015 verantwortlich: Warum ausgerechnet jetzt diese starke Reduzierung? In den Vorjahren waren es „nur“  jeweils rund 27 t/Jahr.

Der starke Mengenrückgang bei Penicillinen dürfte auch mit Lieferproblemen zusammenhängen. (Daten: © BVL)

Der starke Mengenrückgang bei Penicillinen dürfte auch mit Lieferproblemen zusammenhängen. (Daten: © BVL)

Kompletter Lieferantenausfall: Seit 2014 ist Procain-Penicillin in Deutschland fast nicht lieferbar, weil mehrere Faktoren zusammen kamen: Es gab einen Brand in einem europäischen Werk. Wichtiger aber waren „Qualitätsprobleme“ bei einem chinesischen Hauptrohstofflieferanten, so dass dessen Zulassung für Europa erlosch. Dabei wurde nicht die Produktqualität bemängelt, sondern ein Dokumentationsfehler.
Während andere EU-Länder entsprechend pragmatisch per Ausnahmegenehmigung die Penicillin-Lieferung und Anwendung weiterhin erlaubten, beharrte Deutschland (und hier vor allem die Bundesländer mit „grünen“ Ministern) auf den Regeln. Während es in Bayern in Absprache mit den zustandigen Behörden möglich war, Penicilline aus den Niederlanden einzuführen (und damit den Verbrauch von Fluorquinolonen und Cephalosporinen zu begrenzen), wurde dies in NRW generell nicht gestattet.

Die Folge des Lieferantenproblems: Ein klassischer (alter) Wirkstoff fällt für viele Indikationen mangels Verfügbarkeit fast eineinhalb Jahre komplett aus:
Dies dürfte – neben dem AMG-Effekt – der Hauptgrund für die ungewöhnlich hohe Mengenreduzierung bei den Penicillinen sein.

Welche Mengenverschiebung hin zu Fluorchinolonen das Penicillinproblem tatsächlich bewirkt hat, ist anhand der BVL-Daten nicht zu beziffern.
Aber da der Fluorchinolon-Einsatz in der Schweine- und Geflügelmast laut QS-Daten von 2014 auf 2015 zurückgegangen ist (siehe Tabelle oben), muss der Anstieg in einer anderen Tierart erfolgt sein. Die Penicillin-Lieferprobleme beim Milchkühen könnten ein wichtiger Teil der Erklärung dafür sein.

Antibiotika bei Haustieren

Der Einsatz von Antibiotika bei Haustieren wird – anders als etwa in den Niederlanden – bisher von keinem deutschen Monitoringsystem erfasst. Belastbare Daten gibt es hier nicht.

Beim Kleintier haben wir aber den Trend zu „Vermenschlichung“. Für das „Familienmitglied“ Hund/Katze/Kaninchen erwarten die Halter nur das Beste: ein „modernes“ Breitbandantibiotikum. Man will sicher sein und auch auch nicht noch mal wieder in die Praxis kommen. Das Arzt-Patientenverhältnis – und damit auch das Verordnungsverhalten – ähnelt in der Kleintierpraxis sehr der Humanmedizin: Ergo dürfte der Wirkstoffeinsatz auch ähnlich sein. In der Humanmedizin machen die Fluorchinolone und die Cephalosporine fast 50 Prozent der Verordnungen aus (rd. 300 Tonnen).

Fazit: Was sagen die Zahlen 2015

  • Die Gesamtmenge des Antibiotikaeinsatzes in der Tiermedizin hat sich seit 2011 halbiert. Die großen Einsparungen erfolgten vor allem in der oralen Medikation, also in der Mast von Schweinen und Geflügel.
  • Es gibt einen Anstieg bei der Menge der als „Highest Priority Critically Important“ geltenden Wirkstoffe, den sogenannten „Reserveantibiotika“:
    – Der Einsatz der Cephalosporine (3. Generation) erhöhte sich von 2,3 auf 3,2 Tonnen – ein Plus von 39,1 Prozent.
    – Der Einsatz der Fluorchinolone erhöhte sich von 12,3 auf 14,9 Tonnen – ein Plus von 21,1 Prozent.
  • Dieser Anstieg ist aber zumindest im Jahr 2015 nicht in der oft als „Massentierhaltung“ kritisierten Schweine- und Geflügelmast erfolgt. Dort hat das privatwirtschaftliche QS-System bei Fluorchinolonen sogar einen Rückgang verzeichnet (auf 6,1 Tonnen); Cephalosporine (3. u. 4. G.) machen 0,49 Tonnen aus.
  • Der weitaus größere Teil der „kritischen Antibiotika“ dürfte demnach inzwischen bei Milchkühen, Pferden und Kleintieren eingesetzt werden  – nämlich 12,8 der 19,4 Tonnen Gesamtmenge.
  • Für manche Politiker – und auch einige Medien – mag die die einfache Formel, „Reserveantibiotika befeuern die Massentierhaltung“ verlockend sein. Angesichts der Daten ist sie aber so nicht aufrecht zu erhalten. Die Debatte muss differenzierter werden und Milchkühe, aber auch Pferde und Haustiere einbeziehen.
  • Egal bei welcher Tierart die kritischen Wirkstoffe letztlich eingesetzt werden, es bleibt Aufgabe der Tiermedizin, den Anstieg beim Einsatz dieser Antibiotika zu stoppen und sie auf das unbedingt notwendige Maß zu reduzieren – auch wenn sie in Relation zur Humanmedizin mengenmäßig nur einen Bruchteil einsetzt.
  • Die bevorstehende Änderunge der Tierärztlichen Hausapothekenverordnung (Details hier), die den Einsatz der „kritischen Wirkstoffe“ regulieren will, sollte (praktikable) Maßnahmen enthalten, die speziell die oben genannten Tiergruppen adressieren.

Anmerkung:
Dieser Beitrag diskutiert NICHT, ob eine „legaler“ Antibiotikaeinsatz auch „moralisch richtig“ ist: Das Ausweichen von „klassischen“ auf „kritische“ Antibiotika kann in manchen Fällen notwendig sein (Wirksamkeit o. Therapienotstand). Ökonomische Aspekte wiederum (0 Tage Wartezeit) sollten kein Argument sein.

Quellen/weiterführende Informationen
Kritische Bewertung der BVL-Zahlen:
Initiative „Ärzte gegen Massentierhaltung“ (PDF-Download)
Presseerklärung MdB Friedrich Ostendorf (Die Grünen)

Neutrale Bewertung der BVL-Zahlen
Presseerklärung MdB Dr. Wilhelm Priesmeier (SPD)

Positive Bewertung der BVL-Zahlen:
Presseerklärung Bundesverband praktizierender Tierärzte
Presseerklärung Deutscher Bauernverband

Verordnungsmengen in der Humanmedizin:
Versorgungsatlas 2016
BVL-Symposium 2012

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Über den Autor

Jörg Held

Jörg Held (jh) ist Journalist, Kommunikationswirt und Redaktionsberater mit 30 Jahren Berufserfahrung. Seit 2007 auch im Bereich Tiermedizin unterwegs, davon 5 Jahre als Redaktionsleiter der VETimpulse. Auch bei wir-sind-tierarzt.de leitet er die Redaktion und ist schwerpunktmäßig für berufspolitische Themen und die Nachrichten verantwortlich. Kontakt: joerg.held(at)wir-sind-tierarzt.de
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