Zu wenig Mastleistung: Werden Bullenkälber der Milchviehrassen entsorgt?

Bullenkälber von Milchviehrassen setzen wenig Fleisch an, taugen also nicht zur Mast. Deshalb würden sie vorzeitig getötet, lautet ein Vorwurf an die Nutztierhalter. (Foto: © WiSiTiA/hh)Bullenkälber von Milchviehrassen setzen wenig Fleisch an, taugen also nicht zur Mast. Deshalb würden sie vorzeitig getötet, lautet ein Vorwurf an die Nutztierhalter. (Foto: © WiSiTiA/hh)

„Wegwerf-Rinder“ ist die zynische Bezeichnung für Bullenkälber der besonders auf Milchleistung gezüchteten Rinderrassen. Sie sind für die Mast wenig geeignet und erzielen auf dem Markt nur Preise zwischen 10.- und 50.- Euro – weniger als ihre Aufzucht kostet. Deshalb würden Bauern sie immer häufiger sofort töten, schrieb der Spiegel. Was ist dran an dem Thema, wie lässt es sich lösen und was macht den wahren Wert der Kälber aus? (aktualisiert: 30.6.2015)

Anmerkungen von Annegret Wagner

„Kälber für die Tonne“ lautete der Titel einer Reportage im Spiegel. Die Autoren schildern darin dramatische Szenen aus einem Milchviehbetrieb. Die niedrigen Preise für Bullenkälber der Milchrassen sollen laut ihrer Meinung dazu führen, dass diese Tiere aus finanziellen Gründen absichtlich vernachlässigt oder sogar vorsätzlich getötet werden. Melanie Vogelei von der Tierschutzorganisation White Paw behauptet sogar: „Die Schwächlichen werden selektiert, manchmal noch lebend auf den Misthaufen geschmissen oder sogar in Gruben verscharrt.“
Auch bei diesem Thema zeugt schon die Wortwahl von hoher Emotionalität. Die Landwirte wehren sich und betonen, dass jeder verantwortungsvolle Tierhalter seine Kälber gut versorgt. Doch nach dem Streit über die Tötung männlicher Eintagsküken ist eine neue Debatte eröffnet. Die wird angeheizt dadurch, dass der dänische Jersy-Zuchtverband zugibt, das jährlich über 30.000 männliche Kälber kurz nach der Geburt getötet würden.

BTK: „Unmoralisch und verboten“

Wenn es auch in Deutschland tatsächlich Betriebe geben sollte, die Bullenkälber töten und derart entsorgen, machen diese sich in mehrfacher Hinsicht strafbar: Zum einen dürfen tote Kälber weder auf dem Misthaufen noch in Gruben landen, sondern sind von der Tierkörperbeseitigung abzuholen. Zum anderen – und darauf weist auch die Bundestierärztekammer (BTK) in einer Stellungnahme ausdrücklich hin:  „Sowohl die systematische Vernachlässigung als auch das Töten ohne vernünftigen Grund – und wirtschaftliche Ineffizienz ist kein vernünftiger Grund – ist nicht nur unmoralisch, sondern stellt auch einen Strafbestand dar.“ Getötet werden dürfen Tiere nur zur Lebensmittelgewinnung, im Tierseuchenfall oder wenn sie unheilbar krank sind.

Keine verlässliche Datenlage

Eigentlich müsste zunächst geklärt werden, ob tatsächlich ein Zusammenhang zwischen niedrigen Kälberpreisen und einer steigenden Zahl toter männlicher Tiere besteht. Dieser Nachweis ist schwierig, denn es gibt keine belastbaren Zahlen. So unterscheiden die Tierkörperbeseitigungsfirmen, die für die gesetzeskonforme Entsorgung der toten Kälber zuständig sind, in ihren Abholstatistiken die Tiere nicht nach Geschlecht.
Auch die Datenbank HI-Tier (HIT), die die Bestände aller rinderhaltenden Betriebe Deutschlands erfasst, kann nur auswerten, was die Landwirte melden. Totgeburten zum Beispiel müssen nicht gemeldet werden. Sollte die Tierschützerbehauptung stimmen, dass Landwirte Bullenkälber töten und illegal entsorgen, würden sie diese natürlich auch dort vorher nicht melden.
Zumindest ein Teil der Landwirte meldet seine Abgänge allerdings im Rahmen der Tiererfassung durch die jeweiligen Landeskontrollverbände. Hier hat sich gezeigt, dass die teilnehmenden Betriebe tatsächlich mehr tote männliche Kälber als weibliche angeben.
Dem Vorwurf, es gebe „Wegwerfkühe“, widersprechen die Bauernverbände dennoch vehement: Tierpass für jedes Kalb unmittelbar nach der Geburt mit Nachweispflicht, Ohrmarke, Tierärzte, Landeskontrollverband, Tierseuchenkasse – in diesem dichten Kontrollnetz könne kein Tier verloren gehen oder einfach illegal entsorgt werden.

Marktpreis pro Kalb: 10.- bis 50.- Euro

https://www.wir-sind-tierarzt.de/2015/01/bse-in-portugal-erinnert-an-lebensmittelkrise-der-90er/

Bullenkälber von Milchviehrassen setzen wenig Fleisch an, taugen also nicht zur Mast. Deshalb würden sie vorzeitig getötet, lautet ein Vorwurf an die Nutztierhalter. (Foto: © WiSiTiA/hh)

Trotzdem ist es Tatsache, dass besonders die Bullenkälber der Milchrassen (z.B. Holstein-Frisian) zu wenig Fleischansatz haben und damit nicht zur Mast taugen, weshalb für sie teilweise nur 10.- bis 50.- Euro bezahlt werden. Bevor ein Landwirt ein Kalb in Deutschland transportieren (also verkaufen) darf, muss außerdem die Nabelschnur eingetrocknet (bzw. abgefallen) sein – also etwa ab dem 10. Lebenstag. In dieser Zeit verursachen die Tiere bereits höhere Kosten als später mit dem Verkauf zu erzielen sind. Jede zusätzliche Ausgabe, etwa für eine tierärztliche Behandlung, werten die Tierhalter als reines Verlustgeschäft.
Es soll deshalb auch Tierärzte geben, die für kleine oder schwächliche Bullenkälber aus wirtschaftlichen Gründen keine Behandlung vorschlagen, sondern dezidiert auf einen Auftrag warten.

Was macht den echten „wirtschaftlichen“ Wert eines Kalbes aus?

Der „wirtschaftliche Wert“ eines Kalbes basiert aber nicht nur auf dem Verkaufspreis. Es wäre wichtig, den Landwirten deutlich zu machen, dass sie die Kosten der Jungtieraufzucht bis zum Verkauf nicht nur mit den zu erzielenden 20.- bis 50.- Euro verrechnen müssen, sondern auch mit den Einnahmen aus dem Milchverkauf der Muttertiere. Ohne Kalb gäbe es keine zu verkaufende Milch, beziehungsweise würde die Laktationskurve länger abfallen. Die landwirtschaftlichen Berater, die ansonsten so exakt berechnen, wie viel „Kosten“ ein Tag Nicht-Trächtigkeit einer Kuh verursacht, sollten genau die umgekehrt Positiv-Rechnung bei den Kälbern anstellen: Was bedeutet deren Geburt für die Milchleistung der Kuh und um wie viel höher ist der Gewinn des Landwirts gegenüber einer längeren Güstzeit? Dieser finanzielle Mehrwert ist der „wirtschaftliche“ Beitrag des Kalbes und muss daher auf den Verkaufspreis addiert werden.

„Herodesprämie“ und legale Tötung

Das Problem der möglichen Vernachlässigung von Jungtieren aus wirtschaftlichen Gründen ist leider weder neu, noch ein rein deutsches Phänomen und betrifft nicht nur Kälber. In anderen Ländern ist die Tötung der Kälber sogar legal möglich, etwa in Neuseeland und Australien, aber auch – wie der Schweizer Tierschutz schreibt – in Irland, Schottland und Italien.
In Dänemark berichtet der Zuchtverband der Jersykühe, dass jährlich über 30.000 männliche Kälber kurz nach der Geburt getötet werden müssten, weil sie eben keine Milch geben, aber auch für die Mast nicht geeignet sind.
In Europa erhielten Landwirte sogar zeitweise für die Schlachtung von Kälbern unter 20 Tagen eine Prämie: Diese „Herodesprämie“ wurde zwischen 1996 und 2000 in Großbritannien, Irland, Frankreich und Portugal ausgezahlt, weil aufgrund der BSE-Krise der Rindfleischverzehr massiv eingebrochen war. Deutschland hat sich daran nicht beteiligt, denn das deutsche Tierschutzgesetz schreibt vor, dass für das Töten von Tieren ein vernünftiger Grund vorliegen muss. In grenznahen Gegenden wurden allerdings Kälber nach Frankreich gebracht und dort getötet, denn die Prämie lag immerhin bei durchschnittlich 250 DM.

Lösung: Früher verkaufen dürfen

Eine Lösung des Problems der Vernachlässigung oder sogar der vorsätzlichen Tötung ist schwierig, weil kaum flächendeckend zu kontrollieren.
Eine Möglichkeit wäre, zu erlauben, dass Bullenkälber schon am zweiten oder dritten Lebenstag verkauft und transportiert werden dürfen. Dies ist in den USA gängige Praxis. Die Kälber erhalten dort zunächst ohnehin nicht verkehrsfähige Biestmilch von ihrer Mutter. Sobald die Aufnahme von Immunglobulinen über den Darm nicht mehr ausreichend funktioniert, also etwa nach zwei Tagen, werden die Kälber in Aufzucht- beziehungsweise Mastbetriebe abgegeben und mit Milchaustauscher gefüttert.
Vorteil: Der Landwirt müsste sich nicht länger um die Kälber kümmern, die er ohnehin nicht behalten möchte, wäre aber eventuell besser motiviert, sich in diesen beiden Tage intensiver mit den Tieren zu beschäftigen als bisher.
Nachteil: Dieses Verfahren stellt hohe Ansprüche an die Haltung im Aufzucht-/Mastbetrieb, da sich sonst das Problem der kranken und unwirtschaftlichen Kälber nur in diesen verschiebt.
Eventuell sollte sich der deutsche Staat überlegen, was ihm der Tierschutz wert ist. Dass es sich um ein monetäres Problem handelt, zeigt sich am Rassenvergleich: Fleckviehbetriebe handeln normal entwickelte Bullenkälber in der vierten Lebenswoche für mehr als 400.- Euro. Hier ist die Motivation, selbst aufwendige Behandlungen wie Dauertropfinfusionen zu bezahlen, deutlich größer – und die Sterblichkeit der (männlicher) Tiere niedriger.

Lösung: Zuchtziele ändern

Ein weiterer Ansatz – der bereits bei der Tötung männlicher Eintagsküken der Legehennen-Rassen diskutiert wurde –, wäre eine Neuausrichtung der Rinderzucht, vor allem bei den reinen Milchrassen. Eventuell wäre ein „Rückschritt“ in Richtung Zweinutzungsrind (beispielsweise alte Schwarzbunte), also hin zu mehr Fleischansatz und weniger Milchleistung für die Landwirte doch wirtschaftlicher als die Zuchtstationen und Berater ihnen vorrechnen. Zwar heisst es lapidar, dass man eine Kuh täglich melkt, aber nur einmal schlachtet, doch wenn allein beim Schlachtpreis rund 800 Euro Differenz bestehen und sich beim Fleckvieh selbst Notschlachtungen finanziell lohnen, muss eine reine Milchkuh schon deutlich mehr Milch geben, um diesen Betrag auszugleichen.

Rinderbestand nicht entscheidend

Bauern halten zu viele Kühe – deshalb werden zu viele Kälber geboren – das drückt die Preise – deshalb werden die männlichen Kälber getötet. Diese  Argumentationskette mancher Tierschützer greift allerdings zu kurz und ist nicht durch die Tierzahlstatistiken gedeckt.
Im Verlauf der letzten 60 Jahre ist die Zahl der Milchkühe zunächst von rund 5,8 Millionen im Jahr 1955 auf etwas über sechs Millionen Tiere im Jahr 1990 angestiegen. Innerhalb von zehn Jahren (bis 2000) ist der Tierbestand dann um fast zwei Millionen gefallen und hat sich seit der Jahrtausenwende bei etwas über vier Millionen Kühen eingependelt – mit leicht steigenden Zahlen in den letzten Jahren. Die Tötung der männlichen Kälber wird aber erst in den letzten Jahren diskutiert. Umgekehrt ist die deutsche Bevölkerung in Deutschland von 1955 (rund 50 Mio. Einwohner) bis 2014 um gut 30 Millionen Menschen angewachsen. Die Nachfrage nach (Kalb)Fleisch sollte also eigentlich größer sein als in 1955 und damit auch die Preise etwas besser.
Die reine Tierzahl erklärt also das Preisgefüge und den Wertverlust der Milchviehkälber nicht.

Quellen und weiterführende Links:
Der Artikel „Kälber für die Tonne“ dem Spiegel 18/2015 (25.4.2015) hat die Diskussion ausgelöst
Stellungnahme des Tierschutzausschuss der Bundestierärztekammer (PDF) zur „Versorgung von Bullenkälbern der Milchviehrassen (29.5.2015)
„Affront im Kälberstall“ – svz.de beschäftigt sich mit dem Spiegel-Vorwurf, in Mecklenburg-Vorpommern sei die Kälbersterblichkeit besonders hoch (20.5.2015)
Analyse des „nichtvorhandenen Problems“ aus Sicht eines österreichischen Rinderhalters – (Blogbeitrag flog.fuchsy.com – 17.5.2015)
„Keine Chance zu leben“ – Schweizer Tierschutz (STS) zur Kälbertötung (16.2.2015) – eine ausführliche PDF-Stellungnahme des STS finden sie hier

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Über den Autor

Annegret Wagner

Dr. Annegret Wagner (aw) hat in Gießen Tiermedizin studiert und arbeitet seit 1991 in der Großtierpraxis; seit 2005 niedergelassen in eigener Praxis mit Schwerpunkt Milchrind im Raum Rosenheim. Seit 2006 arbeitet sie auch als tiermedizinische Fachjournalistin. So hat sie für die VETimpulse die Nutztierthemen betreut und übernimmt diese Aufgabe auch bei wir-sind-tierarzt.de. Um nicht zum Mia-san-mia-Bayer zu mutieren, schaut sie intensiv über den Alpenrand hinaus, vorzugsweise ins englischsprachige Ausland. Kontakt: annegret.wagner(at)wir-sind-tierarzt.de
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