Bio boomt: 25 Prozent Zuwachs bei Geflügel. Solche Zahlen klingen beeindruckend. Der absolute Bio-Marktanteil jedoch ist eher ernüchternd: 8 Milliarden Euro Bioumsatz über alle Absatzkanäle stehen allein 180 Milliarden Euro Lebensmittelumsatz des Einzelhandels gegenüber (Bio-Anteil hier: 4,2 Mrd.). Und immer mehr Stimmen warnen: Vom Bioboom im Supermarkt haben die deutschen Biobauern – und damit auch die Nutztiere hierzulande – nur wenig. Was besonders boomt, ist der Import-Markt „günstiger“ Bioprodukte. Warum das so ist, sagen ganz nüchtern die Zahlen.
Eine kommentierende Einordnung mit Zahlen von Jörg Held
Zur Eröffnung der Biofach 2015 in Nürnberg klingeln die Pressemeldungen im Dutzend ins Mailpostfach der Redaktion. Und wer nur die Überschriften liest, könnte meinen: In der Branche, da bewegt sich ja richtig was. Doch jede Prozentzahl braucht einen absoluten Basiswert. Und der entzaubert manches. So steuert das Bundeslandwirtschaftsministerium (BMEL) eine schöne Grafik mit Milliardenumsätzen bei – betitelt: „Ökolandbau ist und bleibt eine Wachstumsbranche“.
Ja, die Branche wächst – relativ
Ja, stimmt, die Branche selbst wächst – in ihrer Nische. Denn 400 Millionen Euro Umsatz-Wachstum (+5 %) sind im großen deutschen Lebensmittelmarkt von über 180 Milliarden Euro am Ende nur ein „echtes“ Anteilswachstum von etwa 0,22 Prozent. Boom sieht für mich anders aus. Und ich erinnere mich auch nicht, ähnliche Jubelmeldungen a la „Wachstumsbranche“ oder „Megatrend“ gelesen zu haben, als im Januar die Autohersteller zweistellige Absatzplus-Zahlen meldeten (BMW + 9,5% / Audi + 10,5 % / Mercedes + 13 % / Renault + 6%).
Umsatz ist nicht Menge
Und – Achtung(!) – es sind auch erstmal „nur“ Umsatzzahlen. Die relativieren sich aus meiner Sicht, wenn man sie in Beziehung zum Produktpreis setzt. Die echten Mengenanteile der Bioprodukte – das zeigt eine zweite ebenfalls vom BMEL gelieferte Grafik – sind weiter marginal, nämlich im unteren einstelligen Prozentbereich (Ausnahme Eier). Nur bezahlen die Verbraucher dafür (noch) fast das Doppelte (siehe Grafik unten). Hier dürfte sich allerdings weiter etwas tun. Das EU-Biosiegel breitet sich auch in den Lebensmittelregalen der Discounter aus. Die Preise in diesem Segment fallen. In der Schweiz etwa sank der „Bioaufschlag“ binnen sechs Jahren von 42 auf 32 Prozent. Ob das am Ende gut ist, dazu mehr weiter unten.
Bio-Fleisch zum Beispiel ist medial zwar als der Ausweg aus der „Massentierhaltung“ in aller Munde. Am Markt dümpelt der Anteil aber weiter vor sich hin – ganze 1,5 Prozent.
Deutschland hält nicht mit
Und auch die Bio-Branche selbst schlägt dann weiter unten in ihren Pressemeldungen moderatere Töne an: Das Wachstum der Bio-Betriebe und -Flächen könne nicht mit dem Marktwachstum mithalten. So wuchs die ökologisch bewirtschaftete Fläche in Deutschland 2014 um 2,7 Prozent (+ 28.331 ha auf 1.09 Mio ha / konventionell ca. 16 Mio ha), die Zahl der Bio-Betriebe um 2,9 Prozent (+ 666 auf 23.937 Betriebe / konventionell ca. 260.000). Umkehrschluss auch hier: Preiswertere Bio-Importe schöpfen einiges vom Bio-Wachstum ab. Bio allein verbessert also trotz Wachstum die Tierhaltungsbedingungen in Deutschland nicht entscheidend.
„Ehrlich sein“
„Wir müssen ehrlich sein,“ hält denn auch Mecklenburg-Vorpommerns Landwirtschaftsminister Dr. Till Backhaus fest: „Die Bio-Branche ist in der Marktwirtschaft angekommen.“ Sein Bundesland gehört zu den Top drei der Bioproduzenten-Länder in Deutschland. Doch im „boomenden Bio-Markt mit steigenden Umsätzen“ hätten die Bio-Landwirte zunehmend Probleme unter dem Druck des Lebensmitteleinzelhandels wirtschaftlich zu arbeiten. „Es lohnt sich kaum noch Bio-Milch oder Bio-Fleisch zu produzieren, wenn die Preise weiter sinken. Es kommt beim Landwirt einfach zu wenig an.“ Das gilt für Produkte aus und Bauern in Deutschland.
Der egoistische Verbraucher
Warum das so ist zeigt ein Blick auf den ein wenig schizophrenen Verbraucher. „Consumer-Citizen-Gap“ nennen es die Marktforscher, wenn der „Bürger“ zwar hehre Ziele zu gesellschaftlichen Fragen postuliert, der „Konsument“ in ihm dann aber allzu genau auf den eigenen Geldbeutel schaut. So spielt für 69 Prozent* der „Bürger“ eine „gute Ernährung“ eine große (56%) oder sehr große (13%) Rolle und 53 Prozent betonen, dafür seien sie bereit, „einiges“ auszugeben. Stolze 91 Prozent erwarten von Landwirten eine „artgerechte Tierhaltung“.
Soweit die verbalen Bekenntnisse bei den Gutmenschen-Fragen. Die wahre Einstellung zeigt sich dann, wenn der „Konsument“ Fragen zu seinem Portemonnaie beantwortet. Zuerst die „weiche“ Frage, worauf er denn so achtet, beim Lebensmittelkauf – merke, Bio steht ganz unten. Ein Megatrend?
Und dann geht es um die Wurst, also ans Geld: Wofür von dem, was ihm wichtig ist, würde er denn auch wirklich mehr ausgeben? Da schmelzen dann die Willigen dahin: Für 91 Prozent war die artgerechte Tierhaltung gesellschaftlich bedeutsam; beim Einkauf war sie noch 60 Prozent (bzw. 48 % / andere Altersbasis) wichtig; wirklich mehr zahlen wollen letztlich nur noch 33 Prozent; der Marktanteil für Biofleisch liegt bei 1,5 Prozent – und das ist immerhin der höchste Wert der „nachhaltigen“ Zahlungsbereitschaft. Bio-Qualität als Wert an sich rangiert mit 16 Prozent noch weiter abgeschlagen.
Auch der harte Anteil der „LOHAS“ an der Bevölkerung – der Menschen mit einem „lifestyle of health and sustainability“, die ihren Lebensstil wirklich auf „Nachhaltigkeit“ ausrichten – liegt seit 2008 unverändert bei etwa 11 Prozent. Und selbst von denen kaufen nur 67 Prozent Bio-Lebensmittel.
An eine „Agrarwende jetzt“ glaube ich nicht
Sorry liebe, Politiker und Bio-Verbandsstrategen, angesichts solcher Zahlen mag ich – und manch anderer – an eine boomende Bio-Wachstumsbranche einfach nicht so recht glauben. Mir würde es reichen, wenn Bio ein solider Baustein in einer sich verändernden Agrarwirtschaft wäre – und zwar nicht der allein seligmachende, wie mancherorts postuliert. Sollte es zum Beispiel durch die Initiative Tierwohl der Wirtschaft jedes Jahr nur fünf Prozent der 60 Millionen deutschen Schweine etwas besser gehen, würde das für die Tiere weit mehr bewirken, als ein sich verdoppelnder oder verdreifachender Biofleischumsatz.
Ich weiß, dass klingt pragmatisch, vielleicht sogar kleingeistig. Aber ich glaube einfach nicht, dass dieses Land eine „Agrarwende jetzt“ – wie so gern gefordert – hinlegen kann. In den bestehenden ökonomischen Korridoren – die wir fordernden Verbraucher selbst aktiv eng halten – kann man den schweren LKW der vielgestaltigen Agrarbranche wohl höchstens in drei oder vier Zügen um die schlimmsten Ecken zirkeln. Es wäre viel gewonnen, wenn die (politischen) Akteure sich dabei nicht gegenseitig noch versuchten den Weg abzuschneiden.