Fristverlängerung für betäubungslose Kastration von Ferkeln?

Ferkelkastration: Ein Beispiel für (unnötige?) Amputationen in der Nutztierhaltung. (Foto: © Initiative Massentierhaltung aufgedeckt)

Nachdem der Bundesrat in seiner Sitzung am 21. September 2018 die Anträge auf Fristverlängerung der Betäubungspflicht bei der Kastration männlicher Ferkel abgelehnt hat, ist es auf Initiative des BMEL doch noch gelungen innerhalb der Koalition einen Konsens für einen zeitlichen Aufschub der Umsetzung durchzusetzen.

von Annegret Wagner

Am 2. Oktober einigte sich die Koalition  auf eine Fristverlängerung um zwei Jahre, um Wettbewerbsnachteile deutscher Schweinezüchter zu vermeiden, die vor allem die kleinen Betriebe treffen würden und damit zur Beschleunigung des Strukturwandels in der Landwirtschaft führen könnten.

Einigung noch nicht rechtskräftig

Formell muss  nun ein Beschluss der Regierungsfraktion erfolgen und anschließend die erste Lesung im Bundestag. Das Thema wird dann an die Fachausschüsse geleitet und kommt für zwei weitere Lesungen zurück in den Bundestag. Nach dem Gesetzgebungsverfahren kann der Bundesrat am 14. Dezember, sofern es sich um eine Einspruchsgesetz handelt, keinen Einspruch erheben oder den Vermittlungsausschuss anrufen.

Fristverlängerung muss innerhalb von zwei Jahren konkrete Lösungen bewirken

Mehrere Bundesländer hatten darauf gedrängt, den Pharmafirmen, der verarbeitenden Industrie und den Landwirten mehr Zeit zu geben, praxistaugliche Verfahren zur Schmerzausschaltung bei der Kastration zu entwickeln. Bayern hatte einen Aufschub bis 2023 gefordert, Niedersachsen bis 2021. Dementsprechend zufrieden mit der jetzigen Einigung ist die niedersächsische Landwirtschaftsministerin Barbara Otte-Kinast. Sie mahnt aber, dass dringend tragfähige Lösungen entwickelt werden müssen, denn der Ausstieg aus der betäubungslosen Kastration werde durch den jetzigen Kompromiss nicht in Frage gestellt und je schneller er möglich sei, desto besser. Auch ihr Amtskollege Dr. Till Backhaus aus Mecklenburg-Vorpommern begrüßt die Fristverlängerung, weil sie zeige, dass die Not der Schweinehalter nicht einfach ignoriert werde. Doch auch Backhaus betont, dass es innerhalb der zwei Jahre gelingen muss, die offenen fachlichen und rechtlichen Fragen der Zulassung von tierschutzgerechten und gleichzeitig wirtschaftlich praktikablen Lösungen für einen geordneten Ausstieg aus der betäubungslosen Ferkelkastration zu klären.

Bauernverband setzt auf Lokalanästhesie

Der bayrische Bauernpräsident Walter Heidl dankte den Entscheidungsträgern für die Verlängerung, da es seiner Meinung nach zum jetzigen Zeitpunkt noch keine praxisreife Methode zur Umsetzung der gesetzlichen Vorgaben gebe. Für Heidl gibt es ein klares Ziel: Er will die lokale Betäubung durchsetzen, wie sie bereits in Dänemark und Schweden durchgeführt wird und die er für praktikabel und tierschutzgerecht hält.

Tierschutzbeauftragte: Lokalanästhesie nicht akzeptabel

Ganz und gar nicht Heidls Meinung ist die hessische Tierschutzbeauftragte Dr. Madeleine Martin. Die Lokalanästhesie durch den Landwirt hält sie aus Tierschutzsicht für ausdrücklich inakzeptabel und verweist auf verschiedene Studien, die belegen, dass die lokale Betäubung lediglich zusätzlichen Schmerz und Stress verusacht und keine ausreichende Schmerzausschaltung während der Kastration bewirkt. Die Entscheidung zur Fristverlängerung sei ein Verrat an den Tieren und der eigenen Position der Koalition aus dem Jahr 2012. Kritik an der Fristverlängerung kommt auch von der Gesellschaft für Ganzheitliche Tiermedizin (GGTM), die das weitere Leiden von rund 20 Millionen männlichen Ferkeln pro Jahr verurteilt. Die Übergangsfrist von fünf Jahren seit dem Beschluss zum Ausstieg aus der betäubungslosen Ferkelkastration sei von den Verantwortlichen nicht genutzt worden und es bestünde derzeit auch keine Aussicht auf konkrete Ergebnisse innerhalb der kommenden zwei Jahre.

Tierärzte sind dem Tier verpflichtet

Der Präsident der Bundestierärztekammer Dr. Uwe Tiedemann wehrt sich ebenfalls gegen die lokale Anästhesie und die Freigabe von Lokalanästhetika für die Ferkelerzeuger sowie gegen den Vorwurf der „Blockadehaltung“. Für ihn gibt es mindestens drei Gründe, die dagegen sprechen, den Landwirten die Lokalanästhesie zu erlauben:

  • Tierärzte sind dem Tier verpflichtet. Ohne einen wissenschaftlich haltbaren Beleg, dass die Lokalanästhesie eine Verbesserung für die Tiere darstellt, verbietet es  diese Verpflichtung den Tierärzten, eine solche Methode zu befürworten
  • Tierärzte sind, wenn es um Lebensmittel liefernde Tiere geht, auch dem Verbraucher verpflichtet: Eine zumindest fragwürdige Methode, die als „mehr Tierschutz“ verkauft wird, ohne es zu sein, ist eine Verbrauchertäuschung, die zu unterstützen Dr. Tiedemann nicht bereit ist
  • Wenn Betäubungsmittel an Nicht-Tierärzte abgegeben werden dürfen, kann das nicht im Interesse der Tierärzteschaft sein, denn wenn die BTK als Interessenvertretung der Tierärzte zulässt, dass diese Tür geöffnet wird, lässt sie sich nach Dr. Tiedemann’s Einschätzung nicht mehr schließen.

Meine Meinung: Fleischwirtschaft muss sich bewegen!

(aw) – Die Beteiligten haben in den letzten Jahren die Düsseldorfer Erklärung (2008) aus den Augen verloren. Dort hat der Deutsche Bauernverband sich zusammen mit dem Verband der Fleischwirtschaft und dem Hauptverband des Deutschen Einzelhandels gegen die Kastration von männlichen Ferkeln ausgesprochen. „Ziel ist es, unter Ausschluss jeglicher Risiken für die Verbraucher und die Tiere auf die Kastration gänzlich verzichten zu können.“

Aus unerfindlichen Gründen war man wohl naiv genug zu glauben, dass die Ebermast funktionieren könne, ohne dass die Produktionsverfahren umgestellt werden müssten. Doch Ebermast kann nur dann sicher funktionieren, wenn die Tiere vor Erreichen der Pubertät geschlachtet werden. In Großbritannien, Irland und Spanien, wo fast ausschließlich intakte Eber gemästet werden, ist es üblich, diese mit deutlich geringeren Gewichten (ca. 80 kg) zu schlachten als in Deutschland. Wäre die Fleischwirtschaft tatsächlich am Wohl der Schweine interessiert, hätte sie reagiert und würde Eber mit geringeren Schlachtgewichten abschlagsfrei abnehmen. Doch die Schlachtbetriebe beharren stur auf ihren rund 110 kg Schlachtgewicht, um möglichst einheitliche Fleischpartien zu erhalten. So kann Ebermast nicht funktionieren.

Die zweite Möglichkeit zur Vermeidung der Kastration wäre der Einsatz von Improvac®  zur Immunokastration. Dieses Verfahren wird seit Jahren mit gutem Erfolg eingesetzt. Allerdings ist es für die Mäster nicht ganz unproblematisch, immerhin müssen sie die Eber zwei Mal in der Endmast behandeln. Bei der zweiten Injektion sind die Tiere in der Regel bereits schwerer als die Landwirte, was das Handling und die korrekte Applikation erschwert, zumal eine versehentliche Selbstinjektion unbedingt vermieden werden muss.
Improvac® ist kein Hormon, sondern bewirkt lediglich die Induktion von Anti-GnRF-Antikörpern, was zu einer vorübergehenden immunologischen Unterdrückung der Hodenfunktion führt. Trotzdem verunglimpft der Bauernverband diese Methode mit der Begründung, es würde „Hormonfleisch“ produziert. Eine fragliche Strategie. Tatsächlich dürften die Fleischverarbeiter kein Interesse an Immunokastraten haben, da sich die Fettkonsistenz der Tiere verändert und die Verarbeitung erschwert.

Für eine Kastration unter Schmerzausschaltung gibt es derzeit noch keine zugelassenen Medikamente. Ich bin ja kein Mann, aber die Vorstellung, dass  eine Injektion in/an die Hoden zur Schmerzausschaltung ernsthaft in Erwägung gezogen wird, erschließt sich mir nicht. Ich stelle mir das extrem schmerzhaft vor. Der Kastrationsschmerz entsteht beim Hautschnitt, beim Abtrennen der Hoden und durch das Vorlagern der Hoden. Dieser Tiefenschmerz durch das Herausziehen der Hoden kann durch die lokale Betäubung nicht ausgeschaltet werden und durch ein äußerlich aufgebrachtes Spray erst recht nicht. Solche Methoden dienen tatsächlich nur der Täuschung des Verbrauchers. Und überhaupt: Während das Gros der Tierärzteschaft die Effektivität und den Nutzen einer lokalen Betäubung in Frage stellt, halten diejenigen, die sich im Studium nicht mit Pharmakologie beschäftigt haben, die Methode für gut.

Mein Fazit: Wenn sich die Fleischindustrie nicht umstellen möchte, müssen männliche Schweine weiterhin kastriert werden, um sämtliche potentiellen Nachteile für Fleischgeschmack und -konsistenz zu vermeiden. Das hat aber nichts mit Tierschutz zu tun und auch nichts mit der Düsseldorfer Erklärung sondern lediglich mit Bequemlichkeit

Quellen direkt imText verlinkt

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Über den Autor

Annegret Wagner

Dr. Annegret Wagner (aw) hat in Gießen Tiermedizin studiert und arbeitet seit 1991 in der Großtierpraxis; seit 2005 niedergelassen in eigener Praxis mit Schwerpunkt Milchrind im Raum Rosenheim. Seit 2006 arbeitet sie auch als tiermedizinische Fachjournalistin. So hat sie für die VETimpulse die Nutztierthemen betreut und übernimmt diese Aufgabe auch bei wir-sind-tierarzt.de. Um nicht zum Mia-san-mia-Bayer zu mutieren, schaut sie intensiv über den Alpenrand hinaus, vorzugsweise ins englischsprachige Ausland. Kontakt: annegret.wagner(at)wir-sind-tierarzt.de
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