Zahlen und Grafiken werden gerne mit dem Begriff „Fakten“ geadelt. Die Daten selbst sind meist Fakt, doch die Interpretationen und Schlussfolgerungen daraus sind es deshalb noch lange nicht – drei Beispiele.
von Annegret Wagner
Tierärzten und Landwirten fehlt es oft an statistisch-mathematischer Ausbildung, bemängelte Prof. Wilfried Brade auf der AVA-Haupttagung in seinem Vortrag „Zuchtzielsetzung bei Holsteinrindern – quo vadis?“ Dies führe immer wieder zu merkwürdigen Aussagen – sogar in der Fachpresse, stellte Brade fest. Und auch in der Literatur gebe es zahllose widersprüchliche Aussagen über die hohe Leistung von Rindern und das damit verbundene Krankheitsrisiko.
In vielen Publikationen finde sich beispielsweise keine Beziehung zwischen Milchleistung und Krankheitsrisiko, weil in der Regel keine „repräsentative“ Gruppe ausgewählt wurde: Kühe mit besserer Leistung stehen in der Regel auch in besseren Umwelten. Ebenso spiele die Fütterung eine Rolle: Wenn Kühe mit hoher Leistung anders gefüttert werden als solche mit niedrigerer Leistung, sind die Ergebnisse nicht vergleichbar, da die Unterstellung „gleicher Bedingungen“ nicht stimme.
Bei der Auswahl der Kriterien, die gegenübergestellt werden, müsse man außerdem berücksichtigen, dass sowohl Phänotyp als auch Genotyp tierseitig abhängig sind: „Wenn zwei Merkmale ausgewertet werden, die in einer wechselseitigen Abhängigkeit zum Tier stehen, ist eine vernünftige Aussage nicht möglich.“
Züchtung: Zusammenhänge nicht leugnen
Die Züchtung kann nach Prof. Brades Einschätzung Gesundheitsprobleme kaum in den Griff bekommen, weil die Heretabilität der entsprechenden Merkmale zu schwach ist: „Es besteht grundsätzlich eine Korrelation zwischen Leistung und Erkrankung. Wer auf Leistung züchtet, selektiert auf höhere Mastitisinzidenzen; wer gegen Mastitiden züchtet, verschlechtert die Leistung. Und wer diesen Zusammenhang leugnet, ist falsch am Platz.“
Drei Beispiele für „Fakten“-Interpretation
Mit frisch geschärften Sinnen im Bezug auf Statistiken fuhr ich nach Hause, um in meinem Mail-Fach ein Argumentationspapier pro „moderne Milchviehhaltung“ mit schönen Grafiken und dem Titel „Fakten statt Vorurteile“ vorzufinden – das genau bei solchen Zusammenhängen einige Schwächen aufweist:
Was sagt „Lebensleistung“ ohne Altersangabe über die „Turbokuh“?
Diese Grafik also soll dem Vorurteil der ‚Turbokuh‘ als ‚Milchmaschine‘ widersprechen. Auf der y-Achse ist die Lebensleistung aufgetragen, auf der x-Achse das Jahr. In den letzten acht Jahren ist die Lebensleistung um mehr als 3.000 Liter gestiegen. Von Prof. Brade weiss ich, dass der Zuchtfortschritt pro Jahr rund ein Prozent beträgt, daher würden schon gut 2.000 Liter auf die „normale“ Leistungssteigerung entfallen. Dazu noch eine bessere Fütterung und schon ist die Aussage eher unbedeutend.
Die Grafik enthält auch keine Angabe über das Alter der Tiere. Tatsächlich ist die Nutzungsdauer der Kühe im Gesamtabschnitt der letzten acht Jahren ein wenig gesunken, je nach Erhebung auf nur noch 2,4 Laktationen. Das würde bedeuten, dass wir es aufgrund dieser Grafik sehr wohl mit „Milchmaschinen“ zu tun haben könnten, denn: Eine höhere Lebensleistung wird bei kürzerer Nutzungsdauer erzielt. Das Diagramm alleine ist so nicht dazu geeignet, den behaupteten „Fakt“ zu belegen.
Mehr Milch – trotzdem gesund?
Bei der zweiten Grafik wüsste ich gerne: Was hat das Eine mit dem Anderen zu tun? Zellzahlen lassen sich durch das Management beeinflussen, beispielsweise durch den Einsatz von Trockenstellern, häufigere antibiotische Behandlungen, Melkhygiene etc. Als ich studierte, galten 200.000 Zellen als Grenzwert zur subklinischen Euterentzündung. Diese Schwelle wurde vor einigen Jahren auf 100.000 gesenkt. Entsprechend früher beginnen viele Landwirte jetzt mit einer Behandlung.
Und außerdem: Physiologisch erhöhte Zellzahlen findet man vor allem gegen Ende der Laktation und bei älteren Tieren. Niedrigere Zellzahlen könnten auch bedeuten, dass die Kühe nicht mehr bis zum Ende der Laktation in der Herde bleiben (also früher „abgehen“, wie Studien zeigen) und dass die Tiere generell nicht mehr so alt werden (ebenfalls belegt). Niedrige Zellzahlen sind also per se kein Indiz für gesündere Tiere, sondern könnten – womöglich – auch als weiteres Indiz für eine kürzere Nutzungsdauer und damit den „Turbokuh“-Vorwurf gewertet werden.
Zuchtziel Milchleistung – Deutschland weit vorn
Die dritte Grafik beschäftigt sich mit der Zucht auf Tierwohl. Laut Erklärung werde das Kriterium „Milchleistung“ nur noch zu 45 Prozent gewertet, der Rest entfalle auf Tierwohl/Fitnesskriterien. Das mag wohl so sein, aber im europäischen Vergleich liegen die Deutschen damit immer noch weit vorne. In Frankreich macht dieser Anteil etwa 38 Prozent aus und in den Niederlanden sogar nur etwas unter 30 Prozent.
Außerdem ist die Heretabilität des Merkmals Milchleistung deutlich höher als die für alle andere Kriterien. Während die Heretabilität für die Milchmenge bei 0,25 liegt, beträgt sie für das Fundament 0,1, für Zellzahlen 0,15, für die Nutzungsdauer 0,07 und für die Güstzeit sogar nur 0,03. Es dürfte angesichts dieser Zahlen klar sein, dass „nur 45 Prozent Gewichtung“ auf Milchleistung in Relation zur Heretabilität der verschiedenen Merkmale deutlich zu hoch ist, wenn die Zucht sich tatsächlich auf „Tierwohl“ konzentrieren wollte.
wir-sind-tierarzt.de meint:
(aw) – Für mich werden diese drei Grafiken dem Anspruch der Überschrift „Fakten statt Vorurteile“ nicht gerecht. Man muss moderne Milchviehhaltung keineswegs verteufeln. Es hat sich einiges verbessert und auch hohe Leistungen können gemanaged werden. So einfach aber lässt sich mit „Zahlen“ nicht alles „schön“-argumentieren.
Quellen der Grafiken:
Argumentationspapier „Fakten statt Vorurteile“ des Milchviehhalter-Magazins-Elite
Siehe auch: Milchleistung bei HF-Kühen: Wann ist es genug?