Leistung verkauft – noch immer selektieren deutsche Rinderzüchter vorrangig auf hohe Milchleistung. Tierärzte kritisieren das immer deutlicher. Erkrankungsraten bei hochleistenden Kühen von rund 50 Prozent in der Frühlaktation seien inaktzeptabel.
von Annegret Wagner
Die aktuell gültigen wirtschaftlichen Bewertungen in der deutschen Holstein Friesian (HF)-Zucht zeigen, dass die Milchleistung doppelt so hoch bewertet wird wie beispielsweise die Nutzungsdauer. In Deutschland wird mehr als in jedem anderen europäischen Land auf das Merkmal „Milchleistung“ selektiert, da sich die Besamungsstationen davon die besten Verkaufsmöglichkeiten für ihr Sperma versprechen.
Diese hohe Milchleistungen moderner Milchkühe kritisierten am ersten Tag der AVA-Haupttagung 2016 praktische alle Referenten der Rindersektion. Anlass ist der große Anteil von Zwangsabgängen (z.B. Fruchtbarkeitsstörungen) und die insgesamt unwirtschaftlich kurze Nutzungsdauer (ca. 2,4 Laktationen) bei milchbetonten Rinderrassen. Erkrankungsraten bei hochleistenden Kühen von rund 50 Prozent in der Frühlaktation seien inakzeptabel.
Milchkühe können nicht genug fressen
Prof. Dr. Wilfried Brade, seit seiner Pensionierung als Gast am Leibnitz-Institus für Nutztierbiologie (FBN) in Dummerstorf tätig, beschäftigte sich in seinem Vortrag vor allem mit der Ausrichtung des offiziell gültigen Selektionsindex (RZG).
Problematisch bei der Zucht auf Milchleistung sei unter anderem, dass die Anlage zur Futteraufnahme nicht im gleichen Maße vererbt wird. Wenn die Leistung steigt und die Futteraufnahme nicht Schritt hält, ist ein Energiedefizit vorprogrammiert. So verlängert sich – genetisch bedingt – die Phase der negativen Energiebilanz im Anschluss an die Geburt immer mehr.
Bereits jetzt befindet sich eine Kuh, die etwa 55 Liter Milch/Tag gibt, rund 100 Tage lang in einer Phase mit negativer Energiebilanz (NEB). Sie ist also nicht in der Lage, genug Futter aufzunehmen um den Energiebedarf für die Milchbildung zu decken. Folglich verliert sie an Körpergewicht und rutscht in den meisten Fällen in eine Ketose.
Eine negative Energiebilanz im Anschluss an die Geburt ist zunächst durchaus physiologisch, das betonte Prof. Brade ausdrücklich. Aber die Länge dieser Phase bei hochleistenden Milchkühen sei aus Tierschutzgründen abzulehnen, denn die NEB beeinträchtigt direkt und indirekt die Gesundheit und damit das Wohlbefinden der Kühe.
Größere Rinder – mehr Probleme in alten Ställen
Darüber hinaus führt die Selektion nach dem aktuellen RZG dazu, dass die Rinder immer größer werden. Diese Größenzunahme bringt weitere Probleme mit sich, da Liegeboxenmaße und Platzberechnungen mit der Zeit angepasst werden müssen. Die Anforderungen der Kühe an ihre Umwelt verändern sich aufgrund der einseitigen Selektion aber deutlich schneller, als die Abschreibungszeiträume (und damit die Umbauzeiten) für die Ställe. Das kann nicht im Sinne der Landwirte sein, die ihren Tieren optimale Haltungsbedingungen bieten wollen.
Zuchtmerkmale dringend neu gewichten
Für Prof. Brade ist daher eine Veränderung der Gewichtung von Zuchtmerkmalen dringend erforderlich. Genau wie in anderen EU-Staaten müsse die Wertung der Milchmenge verringert und dafür funktionelle beziehungsweise spezielle Gesundheitsmerkmale stärker berücksichtigt werden. Erkrankungsraten bei hochleistenden Kühen von rund 50 Prozent in den ersten vier Laktationswochen sind weder den Tieren noch ihren Besitzern und den Verbrauchern zumutbar, daher ist die konsequente Bewertung der NEB in der Frühlaktation seitens der Zucht dringend erforderlich.
Tierarztkompetenz in der Zucht?
Generell bemängelt Prof. Brade auch, dass im Bereich Tierzucht und an Besamungsstationen so gut wie keine Tierärzte mehr tätig sind. Darüber hinaus ist die Körung männlicher Rinder vor der Zuchtnutzung nicht mehr nötig, wodurch ebenfalls eine tierärztliche Kontrollmöglichkeit entfällt. Außerdem hat die genomische Zuchtwertschätzung die Beurteilung der Töchterleistungen abgelöst. Von diesen Änderungen versprechen sich die Besamungsstationen einen schnelleren Zuchtfortschritt.
wir-sind-tierarzt.de meint:
(aw) – Wie so häufig ist es auch im Falle der Zuchtziele bei Milchkühen gefährlich, unreflektiert US-amerikanische Verhältnisse zum Vorbild zu erklären. Dort werden zum Beispiel Ställe in der Regel innerhalb von zehn Jahren abgeschrieben und nicht – wie in Deutschland üblich – über 25 bis 30 Jahre. Rinderhalter können also viel schneller und effektiver auf veränderte Anforderungen ihrer Tiere reagieren, z.B. neue Ställe mit größere Liegeboxen, breiteren Laufgängen, mehr Tränken, etc. bauen, um so das Tierwohl zu verbessern.