Hochleistungskühe: Beherrschbar oder des „Guten zu viel“?

Holstein Friesian (HF), die in Deutschland am häufigsten eingesetzte Rasse, gilt als Synonym für leistungsstarke Milchkühe. (Foto: © Les Meloures at lb.wikipedia)Holstein Friesian (HF), die in Deutschland am häufigsten eingesetzte Rasse, gilt als Synonym für leistungsstarke Milchkühe. (Foto: © Les Meloures at lb.wikipedia)

Hat die Zucht auf hohe Milchleistung des „Guten zu viel getan“? Die Debatte über Hochleistungs- oder „Turbomilchkühe“ geht weiter. Negative Energiebilanz, ein Immunsystem im Stress, chronische Entzündungen – längst nicht mehr alle Tierhalter können die modernen Milchkühe managen. Eine Einordnung, die auch nach der Rolle der Tierärzte fragt. 

Eine Einordnung von Annegret Wagner (mit Kommentar)

Das Immunsystem spielt für die Abwehr von Krankheiten eine entscheidende Rolle – diese eigentlich banale Feststellung ist ein zentrales aber gerne übersehenes Thema in der modernen Nutztierhaltung. Gerade für Hochleistungskühe gilt: Das Immunsystem ist in der Phase um die Geburt besonders gefordert, Metritiden und auch Mastitiden treten meistens in den ersten vier bis sechs Wochen nach der Abkalbung auf. Insbesondere an der Fähigkeit der Kuh, Mastitiden abzuwehren, kann man den individuellen Immunstatus erkennen. Subklinischer Kalziummangel, Stoffwechselstörungen, Klauenentzündungen und Labmagenverlagerungen belasten das Immunsystem im geburtsnahen Zeitraum zusätzlich.

Eindeutiger Zusammenhang: Fütterung und Immunsystem

Entscheidend für die Gesundheit und die Stabilität des Immunsystems einer Milchkuh ist vor allem das Fütterungsregime der vorangegangen Trockenstehzeit und zu Beginn der Laktation. Das betont John Hibma, ehemaliger Fütterungsexperte der Central Conneticut Cooperative Farmers Association im aktuellen Hoards Dairyman. Die wichtigste und effektivste Maßnahme das Immunsystem gesund zu erhalten, sei die Minimierung der negativen Energiebilanz zu Beginn der Laktation:
Schon vor der Geburt müssen die Kühe ausreichend hohe Mengen an verstoffwechselbarer Energie erhalten. Nur das könne (vereinfacht dargestellt) eine Kettenreaktion verhindern: Die Tiere bauen verstärkt Körperfett ab – dadurch kommt es  zur erhöhten Bildung von NEFA (nicht-veresterte Fettsäuren) –  die führen zur Bildung von Ketonkörpern – welche wiederum die Leber belasten und die Fähigkeit zur Bildung von Glukose herabsetzen. Immunsystem, Ernährung und Stoffwechsel sind daher eng verzahnte Aspekte.

Hochleistungskühe: Eine Herausforderung für Landwirte

Im Anschluss an die Geburt benötigt eine Kuh etwa das dreifache an Glukose, das fünffache an Fettsäuren und das vierfache an Kalzium im Vergleich zum Ende der Trockenstehzeit. Die Zahlen machen deutlich, welche Herausforderung eine hohe Leistung für Tier und Landwirt bedeutet. Zumal eine Kuh ein Wiederkäuer ist, dessen Ration nicht ausschließlich aus hochverdaulichen Komponenten bestehen kann.
Die AVA-Haupttagung 2016 in Göttingen (Artikelübersicht hier) beleuchtete den Zusammenhang von metabolischem Stress und der generalisierten Entzündungsproblematik bei modernen Milchkühen. In Zusammenhang mit den Ausführungen von Prof. Dr. Wilfried Brade über züchterische Aspekte, formulierten die Veranstalter im Anschluss die „Göttinger Erklärung 2016“. Sie appelliert an Zuchtverbände und Landwirte, die Zucht und Selektion auf steigende Milchleistungen zu drosseln und die Aspekte Gesundheit und Langlebigkeit deutlich stärker zu gewichten.

Züchter weisen Kritik zurück

Die Deutsche Gesellschaft für Züchtungskunde (DGFZ) wehrte sich in einer Stellungnahme gegen die Vorwürfe. Sie räumt aber indirekt ein, dass die Milchleistung nicht ohne Gesundheitsbeeinträchtigung gesteigert werden kann: „Die negative Energiebilanz ergibt sich zwangsläufig aus dem Missverhältnis zwischen Energieaufnahme mit dem Futter und dem Bedarf an Netto-Energie-Laktation, da sowohl die Energiedichte in wiederkäuergerechten Rationen als auch die Verzehrsleistung limitierend sind.“ Und etwas weiter unten: „Da die Heritabilität (Erblichkeit) für die Einsatzleistung und Energiebilanz in der frühen Laktation hoch, die für die Futteraufnahme in diesem Zeitraum jedoch niedrig ist, kommt der Transitfütterung eine überragende Bedeutung zu und erfordert großen Forschungsbedarf …“
Aktuell sieht die Arbeitsgemeinschaft Deutscher Rinderzüchter (ADR) die Entwicklung aber auf einem guten Weg, da Lebensleistung und Nutzungsdauer der kritisierten Holstein-Frisian-Rassen steigen.

Positive Entwicklung? Nutzungsdauer und Lebensleistung von Hochleistungsrassen steigen. (Tabelle: ©ADR)

Positive Entwicklung? Nutzungsdauer und Lebensleistung von Hochleistungsrassen steigen. (Tabelle: ©ADR)

Schafft Tierzucht problematische Fakten?

Kritisch ausgelegt, bedeutet die DGFZ-Aussage allerdings, dass zunächst Tatsachen (hohe Leistungen) durch die Tierzucht geschaffen worden sind, über deren Voraussetzungen (Fütterung) nun im Nachgang geforscht werden muss. Diese Erkenntnis hilft den jetzt betroffenen Tieren und auch den nächsten Tiergenerationen nicht, die „programmierte“ Milchleistung ohne gesundheitliche Probleme zu erbringen. Des Weiteren kritisiert die DGFZ: „Die Göttinger Erklärung macht als Ursache eine ‚chronische Entzündungssituation‘ aufgrund von ‚gewebs- und organspezifischen Entwicklungsstörungen‘ verantwortlich … Diese sehr unspezifische Aussage wird durch keine Quellenangabe gestützt.“

Problem „metabolisches Syndrom“ vom Menschen bekannt

Diese Formulierung suggeriert, dass die „chronische Entzündungssituation“ eine reine Erfindung der Referenten sei. Dies stimmt nicht. Diese Entzündungen sind beim Menschen im Zusammenhang mit Diabetes Typ II und dem metabolischen Syndrom schon lange bekannt. Auch Barry Bradford von der Kansas State University hat sich mit Entzündungsprozessen bei Milchkühen in der Transitphase beschäftigt und kommt in einem Artikel aus dem Jahr 2015 zu dem Schluss: „Mehr oder weniger alle Kühe entwickeln eine systemische Entzündung. Ein fortbestehender Entzündungsprozess unterbricht oft den Stoffwechsel durch Inhibierung der Insulinregulierung“.
Das bedeutet vereinfacht, dass gerade hochleistende Kühe schon während der Transitphase (vor der Abkalbung) unter einer unspezifischen Entzündungssituation leiden, die die Futteraufnahme reduziert und den Energiestoffwechsel beeinträchtigt.

wir-sind-tierarzt.de meint:

(aw) – Tatsächlich stellt sich die Frage, ob die genetisch erzielte Steigerung der Milchleistung ethisch vertretbar ist, da sie billigend eine Beeinträchtigung der Tiergesundheit in Kauf nimmt. Es ist ein wenig banal, darauf hinzuweisen, dass es Betriebe gibt, die solche Leistungen managen und die Kühe bei guter Gesundheit halten können. Ein großer Teil der Landwirte ist bereits jetzt hoffnungslos überfordert, wenn es darum geht, die Ansprüche zu erfüllen, die hochleistende Tiere an Haltung, Fütterung und Management stellen.
Gerade stark schwankende Wetterbedingungen machen es immer wieder unmöglich, ausreichende Futtermengen von der nötigen hohen Qualität zu erzeugen.
Während die US-Amerikaner – wie auf der gerade beendeten World Dairy Expo zu sehen – weiter auf eine Steigerung der Leistung setzen, sollten wir die Frage stellen:  Sind nicht gewisse Grenzen bereits überschritten worden? Die Situation ist in den USA übrigens etwas anders, weil den amerikanischen Landwirten preisgünstige hochwertige Futterkomponenten zu Verfügung stehen, die es in Europa schlichtweg nicht gibt.

Wo stehen die Tierärzte?

Die Tierärzte müssen sich in Zukunft entscheiden, wie sie sich positionieren:
Im Interesse der Tiergesundheit – und das ist der Aspekt an dem die Verbraucher den Berufsstand messen – müssten sich die Leistungsanforderungen an die Tiere an den erfüllbaren Voraussetzungen orientieren und nicht an unter optimalen Bedingungen eventuell machbaren. Dafür sollten Tierärzte nach öffentlicher Einschätzung eintreten, denn die Bürger erwarten, dass dem Tierarzt zuerst die Gesundheit der Tiere am Herzen liegt.
Oder stellen sich die Tierärzte auf die Seite der wirtschaftlich immer stärker unter Drucke geratenen Tierhalter und versuchen den Stoffwechsel der Kühe so zu überlisten, dass  höhere Milchleistungen möglich werden. Andernorts erfolgt das zum Beispiel durch die – in Deutschland illegale – Verwendung von Insulin oder rBST.
Auch Medikamentenentwicklungen wie das auf der World Dairy Expo als eines der Top 10 Dairy Innovators (innovative Produkte für die Milchviehhaltung) ausgezeichnete Imrestor® der Firma Elanco stellt (wie bereits Kexxtone®) spalten die Tierärzteschaft:

  • Für die eine Seite ist die Anwendung praktizierter Tierschutz: Mit ihrer Hilfe lassen sich Stoffwechselstörungen vermeiden, die durch Fütterungsdefizite etc. entstehen. Sie lindern das Leid der Tiere.
  • Für die anderen sind derartige Medikamente nicht akzeptabel: Sie würden es auch langfristig ermöglichen, Managementfehler im Bereich der Haltung und Fütterung zu kaschieren, so dass die Kühe trotz nicht optimaler Bedingungen die genetisch mögliche Milchleistung erbringen.

In Zeiten eines weltweiten eklatanten Überangebots an Milch, ist die Notwendigkeit einer Steigerung der Milchleistung des Einzeltieres auf Kosten seiner Gesundheit aus meiner Sicht nicht mehr vermittelbar. Auch die Berechnungen der Betriebswirtschaftler, nach der einfachen Formel „Mehr Milch = Größerer Gewinn“ sind in vielen Fällen reine „Milchmädchenrechnungen“, die nur selten alle Nachteile monetär objektiv berücksichtigen.
Es ist Zeit für ein Umdenken.

Die Teilnahme an der AVA-Tagung zum Thema „Hochleistungskühe“ ist auch ohne Voranmeldung möglich: Termin Donnerstag, 13.10. ab 09.30 Uhr bis Freitag 14.10. bis 14.30 Uhr in Uslar (bei Göttingen).

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Über den Autor

Annegret Wagner

Dr. Annegret Wagner (aw) hat in Gießen Tiermedizin studiert und arbeitet seit 1991 in der Großtierpraxis; seit 2005 niedergelassen in eigener Praxis mit Schwerpunkt Milchrind im Raum Rosenheim. Seit 2006 arbeitet sie auch als tiermedizinische Fachjournalistin. So hat sie für die VETimpulse die Nutztierthemen betreut und übernimmt diese Aufgabe auch bei wir-sind-tierarzt.de. Um nicht zum Mia-san-mia-Bayer zu mutieren, schaut sie intensiv über den Alpenrand hinaus, vorzugsweise ins englischsprachige Ausland. Kontakt: annegret.wagner(at)wir-sind-tierarzt.de
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