Verbrauch an „Reservantibiotika“: Humanmedizin 300 – Tiermedizin 15,8 Tonnen

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Fast schaffen es Bündnis 90/Die Grünen ein Papier vorzulegen, dass beim Antibiotika-Resistenz-Problem die wahren Verhältnisse beschreibt: „Schlaglicht – Wenn nichts mehr wirkt“, ist die Präsentation der Bundestagsfraktion überschrieben. Darin diese Zahlen: 50 Prozent der 600-Tonnen in der Humanmedizin verordneten Antibiotika sind „Reserveantbiotika“. 30 Prozent der Verordnungen sind unnötig. Damit benennen die Grünen erstmals annähernd gleich gewichtet die Resistenzprobleme in Human- und Tiermedizin.  

Update: Im Juni 2017 hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) erstmals eine namentliche Liste der Reserveantibiotika vorgelegt: Welche das sind, lesen Sie hier.

Ein Kommentar von Jörg Held

Dieses Papier wäre womöglich eine politisch gut verwertbare Grundlage, wenn die Grünen die nötigen Schlussfolgerungen daraus auch öffentlich ziehen. Vielleicht sind sie auf dem Weg dahin? „Antibiotikaresistenzen in Veterinär- und Humammedizin gemeinsam denken“, twittert immerhin der Grüne Landwirtschaftssprecher Friedrich Ostendorff (MdB).
Aber natürlich steht für ihn die Veterinärmedizin bei Resistenzfragen immer noch an erster Stelle – auch im aktuellen Papier. Erst nach acht Seiten hat man sich zur Humanmedizin vorgearbeitet. Und inzwischen halten – laut BfR-Umfrage – ja auch 53 Prozent der Bevölkerung die Tiermast für das Hauptproblem: Sie sei Schuld an den Antibiotikaresistenzen beim Menschen. Deshalb stimmt das aber immer noch nicht.

  • Als top Missstand nennen die Grünen die Abgabemenge von 1.452 Tonnen Antibiotika in der Tiermedizin (Stand 2013 – aktuelle Zahl 2015: minus 50% auf 805 Tonnen).
  • Natürlich geht es vor allem um sogenannte aber nicht näher definierte „Reserveantibiotika“. Aber statt für die Tiermedizin rigoros „verboten“ sollen sie (zumindest in diesem Papier) nur noch „aus den Ställen verbannt“ werden.
  • Und man muss mit den Grünen darüber streiten, ob alles was an Keimen auf Fleisch „nachgewiesen“ werden kann auch „krankheitsauslösend“ ist – es geht um eine realistische Risikobewertung und eine Ursachenanalyse.

Die Grünen: Humanmediziner verordnen zu 50 % „Reserveantibiotika“

Doch dann wird es interessant: Im Papier der Grünen steht immerhin auch diese Grafik, die eindrucksvoll zeigt, wo die humanmedizinischen Resistenzen gegen „Reserveantibiotika“ wohl wirklich entstehen:

Verbrauch der "Reserveantibiotika" in der Humanmedizin – aus einer Präsentation von Bündnis 90/Die Grünen.

Verbrauch der „Reserveantibiotika“ in der Humanmedizin – aus einer Präsentation von Bündnis 90/Die Grünen.

Knapp 50 Prozent der im Humanbereich verordneten Antibiotika stammen demnach aus diesen „Reserve“-Wirkstoffklassen. Wieso reden wir da in Deutschland überhaupt noch von „Reserve“? Warum verwenden wir nicht das international gültige „critically important“ – was das Problem deutlich treffender beschreibt. Mit dem Begriff „Reserve“ gehen Politiker nämlich noch weit verantwortungsloser um, als es Ärzte jemals mit den Medikamenten tun würden (s.u.). „Kritisch“ aber sind diese Mengen und vor allem die ungebrochene steigende Tendenz im Humanbereich auf jeden Fall.

Sorry, liebe Politiker: Wo bleibt der Aufschrei?

Wenn man jetzt in die bei den Grünen so beliebte Tonnenrechnung mit Zahlen aus eben diesem Grünen-Papier einsteigt, dann müsste die politische Konsequenz eine ganz andere sein: 600 Tonnen im Humanbereich verbrauchte Antibiotika nehmen die Grünen an. Andere Studien nennen 800 bis über 1.000 Tonnen – was im übrigen nur zeigt, dass selbst die Erfassung in der Humenmedizin nicht verlässlich geregelt ist. Der Tiermedizin aber wurde per DIMDI-Verordnung eine Abgabemengenerfassung ebenso vorgeschrieben, wie jetzt mit der 16. AMG-Novelle das Therapiehäufigkeits-Monitoring.
Rechnet man also die (unsichere!) Datenlage der Humanmedizin unter Berücksichtigung der wichtigsten Dosierungen in circa-Tonnen* um, dann dürfte das in etwa auf folgende Relation hinauslaufen:

Etwa 300 Tonnen „Reserveantibiotika“ verbraucht die Humanmedizin pro Jahr – 15,8 Tonnen die Tiermedizin. Macht ein Verhältnis  von 19 : 1.

Sorry, liebe Politiker: Bei diesem Verhältnis müsste der Aufschrei in der politischen Debatte über einen verantwortungsvollen Einsatz dieser „Reserven“ in Sachen Humanmedizin doch auch mindestens 19 mal so laut ausfallen.
Wo sind hier Eure „harten“ Forderungen nach indikationsbezogenen Verordnungsvorschriften? Nach verpflichtenden Leitlinien? Wenn doch das Papier zugleich von „30 Prozent unnötigen Verordnungen“ spricht. Wo sind die bei den Grünen so beliebten Reduktionsziele in Tonnen und Prozent, die Halbierung?
Stattdessen empfiehlt das Papier: Fachgespräche, mehr Hygiene, Versorgungsforschung, Problemsensibilisierung, mehr Verbraucherinformation – all das, was man den Veterinärmedizinern, wenn sie es für nötig erklären, indirekt als verzögernde Untätigkeit anlastet.

Feigheit vor dem Wähler?

Drei Gründe, warum Menschen bei Erkältung ein Antibiotikum einnehmen wollen.

Drei Gründe, warum Menschen bei Erkältung ein Antibiotikum einnehmen wollen. (© Bündnis 90/Die Grünen)

Aber an diese bitteren Zahlen der Humanmedizin traut sich so recht kein Politiker ran. Warum ist auch klar – und steht im Grünen-Papier (Quelle: DAK): 76 Prozent der Patienten „wünschen bei hartnäckigen Erkältungen ein Antibiotikum“. Und das sind Wähler.
Kranke Tiere können weder wünschen noch wählen – und Tierärzte oder Tierhalter sind eben nicht genug Wähler.

Endlich: Verantwortung der Humanmedizin benannt

Trotzdem: Dieses Papier benennt – aus meiner Sicht erstmals bei den Grünen – die Verantwortung von Tier- und Humanmedizin in einem Atemzug. Und wer lesen kann, wird auch erkennen wo welcher Teil der Verantwortung und der Problemlösung liegt. Oder, wie es Professor Andreas Hensel, Präsident des Bundesinstitutes für Risikobewertung auf dem BfR-Antibiotika-Forum zur Grünen Woche 2015 klar gesagt hat: „Die Antibiotikaresistenzprobleme der Humanmedizin sind nicht im Stall zu lösen.“

Spitzenpolitiker sollten die eigenen Fraktionspapiere kennen

Und wenn der Grüne-Fraktionsvorsitzende Anton Hofreiter vor seinen öffentlichen Auftritten jetzt noch dieses Papier seiner eigenen Fraktion liest (und versteht), dann dürften so markige Sätze wie folgt zitiert nicht mehr fallen:

„Reserveantibiotika sind Antibiotika, die normalerweise nicht eingesetzt werden sollten, außer ein Mensch ist von einem multiresistenten Keim befallen … um das Leben dieses Menschen zu retten, wird dann ein sogenanntes Reserveantibiotikum eingesetzt.
Extrem problematisch ist, dass die Tierhaltung 17 Tonnen humane Reserveantibiotika einsetzt … dadurch verlieren diese ihren Status als humane Reserveantibiotika.“**

Das ist falsch. Das wissen die Grünen auch. Und jetzt schreiben sie es sogar selbst. Und das ist dann doch mal wirklich etwas Gutes!

Die richtigen Konsequenzen ziehen

Bevor aber jetzt die Vorwürfe auf die Redaktion einprasseln: Nein, dieser Kommentar soll nicht von Missständen in der Veterinärmedizin ablenken. Die gibt es definitiv. Und jedweder Einsatz von Antibiotika muss hier kontrollierter erfolgen. Die Mengen müssen reduziert werden – insbesondere auch bei den als „critically important“ eingestuften Wirkstoffklassen.

Doch die öffentliche Debatte entwickelt eine verhängnisvolle Dynamik in eine Richtung, die der Sache – der Resistenzminimierung – am Ende eher schadet als nutzt:
Ein Segment des Problems – die Nutztierhaltung – wird populistisch zum alleinverantwortlichen Buhmann aufgebaut. Auf den konzentriert sich die öffentliche Aufmerksamkeit. Mit Erfolg, wie die oben zitierte BfR-Umfrage belegt.
Die ärgerliche Folge: Nur noch 24 Prozent der Bürger glauben, dass ihr eigener Antibiotikaeinsatz, der beim Menschen, etwas mit dem Resistenzproblem zu tun hat. Das ist gefährlich!
Ja, die Reduzierung des Antibiotikaeinsatzes in der Tiermedizin ist ein notwendiger Teil der Problemlösung – aber eben der deutlich kleinere. Alle Anstrengungen in der Tiermedizin werden die Resistenzlage in der Humanmedizin nur wenig bessern. Wenn die Menschheit nicht auf das zitierte „post-antibiotische Zeitalter“ zusteuern will, müssen Politik und Medien die Bevölkerung mit sehr, sehr viel mehr Engagement klar und deutlich für das zentrale Problem sensibilisieren: Den hochproblematischen Antibiotikaeinsatz in der Humanmedizin selbst – und zwar weltweit.

Quellen:
Die Grünen-Präsentation „Wenn nichts mehr wirkt – das post-antibiotische Zeitalter“ können Sie hier als PDF herunterladen.
*Ein PDF-Dokument mit den Berechnungsgrundlagen für Tonnenumrechnung der humanmedizinischen Antibiotikaverordnungen finden Sie hier

**Zitat aus der Eröffnungsrede von Anton Hofreiter auf dem Grünen-Forum „Fleisch für die Welt“ am 17.1.2015  anlässlich der Grünen Woche. 

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Über den Autor

Jörg Held

Jörg Held (jh) ist Journalist, Kommunikationswirt und Redaktionsberater mit 30 Jahren Berufserfahrung. Seit 2007 auch im Bereich Tiermedizin unterwegs, davon 5 Jahre als Redaktionsleiter der VETimpulse. Auch bei wir-sind-tierarzt.de leitet er die Redaktion und ist schwerpunktmäßig für berufspolitische Themen und die Nachrichten verantwortlich. Kontakt: joerg.held(at)wir-sind-tierarzt.de
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