Telemedizin (II): Netflix-Mentalität der Tierhalter?

Kontakt zu einem "echten Tierarzt" zu "jeder Zeit" via App – das Beispiel der US-Tierarztkette Banfield. Sie gehört – wie in Deutschland die Klinikkette Anicura – zur Mars-Petcare-Division. (Foto: Screenshot-Banfield-Webseite 2019)

Corona macht die Videosprechstunde attraktiv. Doch schon zuvor war klar: Für die junge Generation der Tierbesitzer wird „virtual care“ ein wichtiger Faktor bei der Tierarztwahl. Welche Angebote gibt es in den USA oder Großbritannien? Was hindert sie nach Deutschland zu kommen?

von Jörg Held

Dies ist der zweite Teil einer Artikelserie „Telemedizin“ – Teil I finden Sie hier.
(Gesamt-Artikel zuerst erschienen im bpt-Info 5/2020)

Schon vor Corona galt: Aufhalten lässt sich die Digitalisierung der Kundenkontakte auch in der Tierarztbranche nicht. Die „Always-on“-Generation der Millennials sucht „niederschwellige“ Angebote mit idealerweise einer 24-Stunden-online-Erreichbarkeit. Sie ist vertraut mit Abo-Modellen a la Netflix oder Spotify. Sie erwartet Beratung und Information via Handy – und sie stellt nach und nach die Mehrheit der Tierhalter. Mit den Covid-19-Kontaktbeschränkungen bekommt diese Entwicklung eine neue Dynamik in sehr viel breiteren Bevölkerungsgruppen.

USA: Für jungen Tierhalter ist digitaler Tierarztkontakt ein „must have“

Digitale Tiermedizin (virtual care) ist für Generation der jungen Tierhalter ein „must have“. (Quelle: US-Zahlen via @CanVetMedAc – Tweet vom WSAVA-Kongress 2019)

Wer sich solchen Kundenwünschen künftig verweigert, wäre schlecht beraten. In den USA verlangten in Umfragen 78% Zugang zu „virtual care“; 2/3 würden perspektivisch ihren Tierarzt wechseln, wenn er ihnen KEINE digitalen Services anbieten kann.
Entsprechend erfolgreich sind digitale Angebote – das zeigt der Blick in die USA oder auch nach Großbritannien – wenn sie als Kundenbindungsinstrument direkt mit einer Tierarztpraxis/marke verknüpft sind.

Die Praxisketten dort haben deshalb bereits oft eigene Apps und Digitallösungen für die Onlineberatung ihrer Kunden etabliert. Peace of Mind – Kundenzufriedenheit und ein sicheres Gefühl, das sind in den USA die Treiber für Vet-Apps. Das Beispiel Banfield (Foto) gehört – wie in Deutschland auch die Klinikette Anicura – zum weltweit größten Tiermedizinanbieter Mars-Petcare. Die App und der 24/7-Vet-Service sind dort Teil eines Petcare-Plans: Für monatliche Pauschalen kauft man Behandlungspakete und eben den Rund-um-die-Uhr-Zugang zum Tierarzt.

Kontakt zu einem „echten Tierarzt“ zu „jeder Zeit“ via App – das Beispiel der US-Tierarztkette Banfield. Sie gehört – wie in Deutschland die Klinikkette Anicura – zur Mars-Petcare-Division. (Foto: Screenshot Banfield-Webseite)

Limitierender Faktor: Geld und Digitalkompetenz

Für die „einfache“ Tierarztpraxis hierzulande erschweren zwei Kriterien den Zugang zum digitalen Markt: Erstens fehlt das technische Know-how und das Geld für die Entwicklung von Apps & Co. Zweitens sind die rechtlichen Rahmendbedingungen nicht sehr ‚digitalfreundlich‘ (Details nächster Absatz). Inhaltlich/fachlich könnten Praxen die Angebote stemmen. Personell kann es schwieriger werden.
Aber es gibt Denkmodelle, hier den hohen Frauenanteil in der Tiermedizin und damit den Wunsch nach flexibler (Heim) Arbeit zu nutzen.

Die eigentliche Marktlücke in der digitalen Tiermedizin ist dabei weniger die skalierbare Vermittlung tiermedizinischer Leistung über eine Plattform. Was fehlt ist die erschwinglich (Praxis) Software, die Onlineangebote inklusive Bezahlstruktur integriert.
Das haben auch Pharmaunternehmen erkannt. Boehringer-Ingelheim hat ein eigenes Digitallabor etabliert und bietet beispielsweise in den USA kettenunabhängigen Tierärzten die App-Plattform PetPro-Connect an. Mit der können diese für ihre Praxis die Funktionen eines Online-Tierarztes abbilden. Obwohl die App auch schon bei den deutschen Pressemitteilungen auftaucht, ist offen, ob und wann die Software nach Deutschland kommt. Auf Anfrage konnte Boehringer dies noch nicht sagen: Man untersuche alle Möglichkeiten. Voraussetzung sei eine „tiefgehende“ Integration in die Praxissoftware.

Da dürfte der europäische Datenschutz die US-Lösung zunächst ausbremsen. Die bpt-Notdienst-App „Tino“ ist ein anderer Schritt (Mehr siehe bpt-Info 2/2020), der dem Tierarzt die Datenhoheit lässt.
Spannend wäre es, in Deutschland über eine Brancheninitiative nachzudenken, die den Tierärzten technische Lösungen anbietet – ohne als eigene Marke a la „Dr. Sam“ mit ihnen in Konkurrenz zu treten.
Auch deutsche Software-Anbieter implementieren erste App-Lösungen – etwa VetZ mit PetsXL – es sind erste Schritte auf dem Weg zur kompletten Online-Tierarztlösungen mit Chat-, Video-, und Bezahlfunktionen.

In Österreich „powered“ die Nestle Futtermitteltochter Purina ein Online-Tierarzt-Startup namens „Pezz“, indem sie – zunächst befristet – 50 Prozent der Kosten für eine Videoberatung via WhatsApp übernimmt.

In Österreich steigt die Nestle-Futtermitteltochterfirma Purina in das Geschäft als Videotierarzt mit ein. (Screenshot Pezz)

Gefordert: Regeln statt Regulierung

Deutschlandtypisch gibt es dann noch eine zweite Bremse: Die rechtlichen Rahmenbedingungen. Berufsträger – also die Tierärzte – unterliegen einem komplexen Regelwerk (Kammerrecht / Heilberufegesetze / GOT). Dass Tierärzte sich diesen Regeln unterwerfen, ist auf der einen Seite Beleg für höhere Standards und medizinische Ethik. Sie sollen die Kunden schützen.

Für branchenfremde Firmen gelten diese Vorschriften auf der anderen Seite aber nicht unmittelbar. Diese testen per Versuch und Irrtum aus, welche Marktanteile sich erobern und Grenzen sich verschieben lassen. Sie rudern zurück, wenn sie abgemahnt werden. Dergestalt einfach mal machen dürfen deutsche Tierarztpraxen dagegen nicht. Einen pauschal honorierten Petcare-Plan für die eigenen Kunden anzubieten, ist Tierärzten zum Beispiel verboten – einer branchenfremden Firma dagegen – als Vermittler – erlaubt.

Digitale Videoberatung ist möglich

Digitale Beratung aber wäre in den Praxen durchaus möglich und sie liesse sich auch GOT-konform abrechnen. Die Gebührenordnung erlaubt Analogien (§7) – etwa den Bezug auf die (telefonische) Beratungsleistung.
Eine klare berufspolitische Forderung bei der bpt-Kleintiertagung 2020 in Bielfeld, um die sich bpt und auch die Bundestierärztekammer im neuen Arbeitskreis Telemedizin kümmern werden, lautet deshalb:

Die digitale Tiermedizin braucht keine Verbote, aber ein Regelwerk, das Tierarztpraxen und externe Anbieter gleichstellt.

bpt und BTK-Arbeitsgruppe Telemedizin

Dr. Volker Jähning, Vizepräsident der Sächsischen Landestierärztekammer und Mitglied der BTK-Arbeitsgruppe Telemedizin, positionierte sich in Bielefeld klar: „Telemedizin ist zwar ein Randgebiet, aber es muss fester Bestandteil der Tierarztpraxis werden.“ Und auch Telehealth-Angebote – die digitale Kundenberatung – sei für eine Kundenbindung unverzichtbar. Auf einem „Level Playing Field“ müssten sich innovative Praxen dabei vor externen Anbietern nicht fürchten. Das zu erreichen werde aber nicht leicht, da Gesetze zu ändern sind.

Fazit: Keine Angst vor digitaler Konkurrenz

Spürbar war beim berufspolitischen bpt Forum in Bielefeld, dass die Tierärzte mehrheitlich tatsächlich keine Angst vor einer digitalen Konkurrenz haben.
In der aktuellen Marktphase sind die digitalen Startups nämlich noch stark darauf angewiesen, Partnerpraxen in der realen Welt zu finden. Es liegt also an den Tierärzten, ihnen durch Zusammenarbeit den Marktzugang als konkurrierende Marken zu erleichtern – oder eben eigene Angebote zu machen.

Fazit: Spätestens seit der COVID-19-Einschränkungen wird und muss bei den Praxen das Bewusstsein wachsen, dass es notwendig ist, in die eigene digitale Markenbildung und eigene Online-Angebote zu investieren. Die Erwartung der Kunden, von ihrem – oder einem anderen – Tierarzt „virtual care“-Angebote zu bekommen, wird definitiv steigen.

Warum Tierärzte sich mit Digitalisierung beschäftigen sollten – Ausschnitte aus einem Twitterdialog des europäischen Tierärztedachverbandes FVE (2019)

‚Telemedizin …
… ist ein Sammelbegriff für verschiedenartige tierärztliche Konzepte, die als Gemeinsamkeit den prinzipiellen Ansatz aufweisen, dass tiermedizinische Leistungen in den Bereichen Diagnostik, Therapie und Prophylaxe sowie bei der tierärztlichen Beratung über räumliche Entfernungen hinweg erbracht werden. Hierbei werden digitale Medien zur Kommunikation und Visualisierung eingesetzt.‘

(Definition der BTK-Arbeitsgruppe Telemedizin)

Quellen: im Artikel verlinkt

Offenlegung: Den Artikel hat der Autor im Auftrag des Bundesverbandes praktizierender Tierärzte (bpt) für das Mitgliedermagazin bpt-info geschrieben – erschienen in Ausgabe 5/2020 – für wir-sind-tierarzt wurde er aktualisiert und um weiterführende Links ergänzt.

Teil I der Artikelserie „Telemedizin“ finden Sie hier

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Über den Autor

Jörg Held

Jörg Held (jh) ist Journalist, Kommunikationswirt und Redaktionsberater mit 30 Jahren Berufserfahrung. Seit 2007 auch im Bereich Tiermedizin unterwegs, davon 5 Jahre als Redaktionsleiter der VETimpulse. Auch bei wir-sind-tierarzt.de leitet er die Redaktion und ist schwerpunktmäßig für berufspolitische Themen und die Nachrichten verantwortlich. Kontakt: joerg.held(at)wir-sind-tierarzt.de
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