Videosprechstunde: Zweierlei Maß für Human- und Tiermedizin?

Telemedizin – Ferndiagnosen per Internet in der Humanmedizin bald Alltag, für die Tiermedizin aber verboten? (Foto: © Intel Free Press)

Videosprechstunde per Internet – die Humanmedizin erprobt in Pilotprojekten die Telemedizin. In Baden-Württemberg sollen bald sogar Erstdiagnosen inklusive Medikamentenverordnung erlaubt sein. Für die Tiermedizin aber gilt genau der entgegengesetzte Weg. Warum? Ein Pro und Contra.

von Jörg Held

Warum dürfen die das und wir nicht? Diese Frage stellen sich viele Tierärzte. In verschiedenen Bundesländern – etwa in Hessen (FAZ-Bericht hier) oder in Baden-Württemberg (FAZ-Bericht hier) – laufen Telemedizin-Projekte. Die virtuelle Praxis soll den Patienten lange Wege und Wartezeiten ersparen. Das sei ein sinnvoller Schritt, heißt es.
So können Humanmediziner in Baden-Württemberg künftig anhand von per Smartphone übertragenen Fotos eine Diagnose erstellen, die Patienten beraten, eine Therapie anordnen und sogar Rezepte ausstellen. Die Berufsordnung wurde für Modellversuche extra geändert. Bislang ist diese Form der Telemedizin höchstens für „Bestandspatienten“ üblich, bei denen schon eine Diagnose gestellt ist.

Video-Doc statt Landarzt?

Der Hintergrund der Humanpläne ist ganz pragmatisch: (Land)Ärztemangel. Die Ärztekammer Baden-Württemberg rechne damit, dass in den nächsten fünf Jahren im Südwesten 500 Hausärzte fehlen werden, schreibt die FAZ. Die Zahl der Ärzte nehme zwar zu, aber immer mehr Mediziner machten von den Möglichkeiten der Teilzeitarbeit Gebrauch. Außerdem sind Ärzte zunehmend schlecht verteilt: Zu viele in der Stadt, zu wenige auf dem Land. Diese „Diagnose“ gilt aber 1:1 auch für die Tiermedizin.

Telemedizin – Ferndiagnosen per Internet in der Humanmedizin bald Alltag, für die Tiermedizin aber verboten? (Foto: © Intel Free Press)

Keine Verordnung ohne Tierarztkontakt

In der Tiermedizin geht die Entwicklung jedoch genau in die entgegengesetzte Richtung. So macht der aktuelle Entwurf für die Neufassung der Tierärztlichen Hausapothekenverordnung (TÄHAV) die Verordnung eines Medikamentes davon abhängig, dass:

  • … die Tiere oder der Tierbestand in angemessenem Umfang klinisch untersucht worden sind …

Diese Formulierung präzisiere den Begriff der „ordnungsgemäßen Behandlung“, argumentiert das zuständige Bundeslandwirtschaftsministerium: Tiere oder ein Tierbestand müssten vom Tierarzt klinisch untersucht worden sein; eine tierärztliche Behandlung, die ausschließlich auf einer „audiovisuellen Kommunikation“ zwischen Tierhalter und Tierarzt beruht, entspräche nicht einer „ordnungsgemäßen Behandlung“. Die setze „unmittelbaren physischen Kontakt“ mit dem Tier voraus.

Unterscheidet sich eine „ordnungsgemäße Behandlung“ bei Mensch und Tier wirklich derart, das zeitgleich in beiden Medizinsparten völlig gegenläufige Entwicklungen forciert werden?
Dazu gibt es – auch in der Redaktion von wir-sind-tierarzt.de – durchaus unterschiedliche Meinungen. Zwei Positionen als Diskussionsanstoß:

Pro: One Health, aber unterschiedliche Therapiefreiheiten?

Jörg Held – Die Politik proklamiert zu Recht den One-Health-Gedanken. Die Gesundheit von Mensch und Tier darf man nicht getrennt betrachten. Zu stark sind die Wechselwirkungen – sowohl bei (viralen) Infektionen als auch bakteriellen Erkrankungen und deren Folgen für beide (ein Stichwort: antimikrobielle Resistenzen).
Aber warum entwickeln sich die rechtlichen Rahmenbedingungen für Veterinär- und Humanmedizin dann immer weiter auseinander? Die Möglichkeit der Telemedizin ist da nur ein Beispiel.
Der Gesetzgeber greift mit Verordnungen und Vorschriften viel stärker in die Tiermedizin ein. Zu nennen wären das gesetzlich vorgeschriebene Antibiotikamonitoring, geplante verpflichtende Resistenztests oder Anwendungsbeschränkungen beim Antibiotikaeinsatz.
Bei der Humanmedizin setzt man dagegen auf „Prudent Use“ und „Awareness“, fördert Fortbildung und „sensibilisiert“ – ansonsten aber überlässt man den Medizinern weiterhin uneingeschränkt die Wahl der Therapie.
Wenn es aber Probleme – oder eben auch Chancen – gibt, dann sollte man diese für Veterinär- und Humanmedizin vergleichbar und gleichberechtigt regeln.
Ich habe momentan den Eindruck, dass politische Entscheider den Tierärzten deutlich weniger medizinische Verantwortung und Therapiefreiheit zugestehen. Dass ein Tierarzt „audiovisuell“ nicht „ordentlich“ behandeln kann, der Humanmedizinern aber durchaus, ist dafür ein Beispiel.

Den ganzen Bestand im Blick haben – lassen sich (insbesondere bei Nutztieren) in der Telemedizin zu viele Aspekte „ausblenden“? (Foto: Sauenbestand/Abferkelbuchten © WiSiTiA/jh)

Contra: Ein Tier ist kein Mensch

Annegret Wagner – Das wichtigste Gegenargument zur Videobehandlung  lautet:

  • Ein Tier ist eben kein Mensch. Es kann nicht selbst beschreiben, ob, wo und wie es Schmerzen fühlt, woran es leidet, was ihm fehlt. Bei der „Telemedizin“ würde der Arzt aus der Ferne mit einem dritten (dem Tierhalter) darüber reden, was beide sehen oder zu sehen glauben. Dabei weiß jeder Praktiker, wie lückenhaft die Beobachtungen der Tierbesitzer häufig sind. Die unmittelbare Reaktion des und die Interaktion mit dem Patienten fehlt. Kann das dann eine „ordnungsgemäße Behandlung“ sein?
  • Bei lebensmittelliefernden Nutztieren kommt hinzu, dass hier die Behandlung und der Medikamenteneinsatz nicht nur Folgen für den Patienten haben kann, sondern auch für das Produkt und damit für die Menschen.

Dass insbesondere im Zuge der Debatte über antimikrobielle Resistenzen der Gesetzgeber sicherstellen will, dass der Tierarzt einen „unmittelbaren physischen Kontakt“ mit dem Tier oder dem Bestand hat, kann ich verstehen. Und so will ich auch den Tieren zuliebe arbeiten. Haltungsmissstände lassen sich in Bildern und Videos wunderbar ausblenden.
Wir Tierärzte sind außerdem vehement und aus guten Gründen gegen den Internetversandhandel mit verschreibungspflichtigen Medikamenten –  insbesondere bei lebensmittelliefernden Tieren. Für Missbrauch gibt es leider immer wieder Beispiele. Die Anerkennung von „Telemedizin“ als gleichwertig mit einer klinischen Untersuchung würde den illegalen Versand befeuern.
Es ist also nicht mit „Videotalk“ und „Email-Rezept“ getan. Das Medikament gibt es von uns. Und dann sollten wir auch gleich untersuchen. Die Telemedizin ist also nicht das ideale Beispiel für eine Ungleichbehandlung von Human- und Tiermedizin – andere gäbe es aber schon.

Nachtrag: Was soll in der TÄHAV stehen?

Alle Berichte über die Neufassung der Tierärztlichen Hausapothekenverordnung hier

Die tierärztlichen Berufsverbände fordern keine Freigabe der Telemedizin. Ihnen geht es in der aktuellen Debatte um die TÄHAV-Neufassung generell um Regelungen, die im Praxisalltag umsetzbar sind und wirklich der Reduzierung antimikrobieller Resistenzen dienen.
Die wichtigste Forderung speziell für die in der Antibiotika-Kritik stehende Nutztiermedizin ist die nach einer verpflichtenden tierärztliche Bestandsbetreuung für jeden Betrieb durch einen Hoftierarzt (Position der Bundestierärztekammer hier). Für solche Hoftierärzte, die ihre Bestände kennen und sie in vorgeschriebenen Abständen besuchen und untersuchen, sollte der Gesetzgeber den Behandlungsaufwand – und für die Tierhalter die Kosten – nicht durch zusätzliche Auflagen noch erhöhen.
Für die anstehende TÄHAV-Neufassung fordern die Verbände daher konkret, sich an der Formulierung zu orientieren, die momentan auch das kommende EU-Tierarzneimittelrecht vorsieht – zumal dieses nach Verabschiedung dann sowieso in deutsches Recht umgesetzt werden muss:

  • Eine Verordnung soll nur durch einen Tierarzt für die von ihm behandelten Tiere „nach klinischer Untersuchung oder einer anderen angemessenen Prüfung des Gesundheitszustandes des Tieres oder der Tiergruppe“ erfolgen.

Ob und unter welchen Bedingungen irgendwann die Telemedizin eine „angemessene Prüfung des Gesundheitszustandes“ bei Tieren sein kann, wäre dann zu entscheiden.

Quellen im Artikel verlinkt

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Über den Autor

Jörg Held

Jörg Held (jh) ist Journalist, Kommunikationswirt und Redaktionsberater mit 30 Jahren Berufserfahrung. Seit 2007 auch im Bereich Tiermedizin unterwegs, davon 5 Jahre als Redaktionsleiter der VETimpulse. Auch bei wir-sind-tierarzt.de leitet er die Redaktion und ist schwerpunktmäßig für berufspolitische Themen und die Nachrichten verantwortlich. Kontakt: joerg.held(at)wir-sind-tierarzt.de
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