Verändert die Digitalisierung die Medizin schneller als gedacht? Die Debatte um eine ärztliche Fernbehandlung inklusive Medikamentenverordnung per Video oder Chat erreicht ein neues Level: Der Deutsche Ärztetag plant, den niedergelassenen Ärzten auch „ausschließliche Fernbehandlung“ ohne jeden vorherigen Patientenkontakt zu erlauben. Die Humanmedizin fürchtet, dass sonst IT-Firmen das Feld der Videosprechstunden besetzen. Eine Entwicklung, die auch für die Tiermedizin relevant werden kann.
von Jörg Held
Der 121. Deutsche Ärztetag will das Ende des ‚ausschließlichen Fernbehandlungsverbotes‘ durchsetzen. „Wir wollen auf diesem Ärztetag die Möglichkeiten schaffen, dass Ärzte künftig auch Patienten, die sie noch nicht kennen, per Video und Telefon behandeln können“, sagte der Präsident der Bundesärztekammer, Frank Ulrich Montgomery, der WELT am Sonntag.
Tiermedizin: „Ordnungsgemäße Behandlung“ nur mit „physischem Kontakt“
In der Tiermedizin dagegen hat das zuständige Bundeslandwirtschaftsministerium in der Tierärztliche Hausapothekenverordnung gerade noch einmal explizit festgelegt – und auch mit Strafen bedroht – dass für eine „ordnungsgemäße Behandlung“, in deren Rahmen apothekenpflichtige Medikamente abgegeben werden, die Tiere oder der Tierbestand vom Tierarzt klinisch untersucht worden sein muss. Eine tierärztliche Behandlung, die ausschließlich auf einer „audiovisuellen Kommunikation“ zwischen Tierhalter und Tierarzt beruht, entspräche nicht einer „ordnungsgemäßen Behandlung“ (TÄHAV §12 – nachzulesen hier).
Die setze „unmittelbaren physischen Kontakt“ mit dem Tier voraus. Ein Telefonat, eventuell gestützt auf (Video)Bilder, reicht nicht aus – selbst wenn der Tierarzt den Tierbestand kennt.
Humanmedizin: Ausschließliche Behandlung via Video soll erlaubt sein
Bisher regeln in der Humanmedizin die Berufsordnungen (basierend auf der Musterberufsordnung), dass Ärzte „nicht ausschließlich über Print- und Kommunikationsmedien“ behandeln dürfen. Genau diesen Hürde des zwingenden unmittelbaren Kontaktes aber soll fallen – zumindest wenn es nach dem Vorstand der Bundesärztekammer geht. Künftig soll es im Standesrecht heißen: „Eine ausschließliche Beratung oder Behandlung über elektronische Kommunikationsmedien ist erlaubt, wenn dies im Einzelfall ärztlich vertretbar ist.“
Zweierlei Maß für Human- und Tiermedizin – wir-sind-tierarzt berichtete hier (mit Pro & Contra)
Ärzte streiten: Dammbruch oder notwendige Modernisierung?
In der Ärzteschaft selbst ist der Vorstoß allerdings nicht unumstritten. So hat die Vertreterversammlung der Ärztekammer des Saarlandes fast mit Zweidrittel-Mehrheit klargestellt: Beratung und Behandlung von Patienten via Internet oder Telefon, ohne den Patienten gesehen zu haben, komme für sie nicht in Frage – von einem „Dammbruch“ sprechen die Kritiker. Auch Brandenburg hat sich dagegen positioniert; Schleswig-Holstein wiederum ist dafür. Der Hausärzteverband fordert „klar definierte Regeln“, wann ohne vorherige persönliche Konsultation eine Fernbehandlung erfolgen dürfe. Es sei sicherzustellen, dass „der persönliche Arzt Patientenkontakt auch zukünftig die Regel bleibt“.

Knappe Mehrheit für die Telemedizin – Online Umfrage der Ärztezeitung (Screenshot: aerztezeitung de)
Eine (nicht repräsentative) Online-Umfrage der Ärztezeitung ergab (Stand 6.5.2018) mit rund 58% eine Mehrheit für das Ende des Fernbehandlungsverbotes – wenn man die Umsetzung in Modellvorhaben dazuzählt (wir-sind-tierarzt berichtete über solche Modelle hier).
Vorreiter sein oder das Nachsehen haben?
Der Grund für die Aktivitäten in der Humanmedizin – und das dürfte analog auch für die Tiermedizin gelten – ist die Sorge vor digitalen Medizinanbietern:
Ärztekammerpräsident Montgomery plädiert dafür, das Thema standesrechtlich zu regeln – und zwar bevor ausländische Unternehmen, die bereits Videosprechstunden anbieten, aber der Aufsicht hierzulande weitgehend entzogen seien, den deutschen Markt unter sich aufteilen.
Schon länger aktiv – und auch von der Ärztekammer zunächst heftig kritisiert – ist etwa das britische Portal „Dr Ed.com“.
Als Vorreiter in der Telemedizin gilt auch die Schweiz. Dort bieten Firmen seit 2000 rund um die Uhr ärztliche Beratungen per Telefon oder Video an und stellen auch Rezepte aus. Auch der dadurch entstehende Druck hat dazu geführt, dass das benachbarte Baden-Württemberg wiederum in Deutschland ein Vorreiter in Sachen Telemedizin-Modellprojekte ist.
Bundesärztekammer: Keine Verweigerungshaltung einnehmen
Die deutsche Ärzteschaft müsse sich dem internationalen Wettbewerb stellen und dürfe keine Verweigerungshaltung einnehmen, sondern sollte den Prozess „mit konstruktiven Regelungen“ begleiten, argumentiert Montgomery laut Ärztezeitung.
Der Goldstandard ärztlichen Handelns bleibe aber das persönliche Gespräch: „Digitale Techniken sind ein wichtiges unterstützendes Instrument, dürfen aber nicht den Goldstandard ärztlichen Handelns ersetzen.“