Telemedizin (I): Chance oder Risiko

Slogan auf der Startseite des Online-Tierarztes "Dr Sam".

Die Corona-Krise verändert den Blick auf die Telemedizin. Bisher wehrt sich die Branche gegen externe Player, die versuchten sich mit digitalen Geschäftsmodellen zwischen Tierarzt und Patientenbesitzer zu platzieren. Jetzt zeigt Corona: Das Digitale kann ein wichtiger Kommunikationskanal für Beratungs- und womöglich auch einfache Behandlungsleistungen sein. Die kann jeder Tierarzt erbringen – rechtliche Chancengleichheit vorausgesetzt.

von Jörg Held


Teil II des Artikels finden Sie hier

Beitrag aktualisiert: 6.5.2020
(Gesamt-Artikel zuerst erschienen im bpt-Info 5/2020)

Die Telemedizin-Zahlen für Deutschland sind ernüchternd: In der aktuellen Corona-Krise bieten 16 Prozent der deutschen Tierarztpraxen Online-Konsultationen an. In Großbritannien sind es – sicher auch notgedrungen durch einen strengeren Lock-Down – 86 %, in den USA und Australien über 40 %, in Spanien und Italien 30er Prozentzahlen. Deutschland liegt damit auf dem vorletzten Platz (vor Frankreich mit 12 %). Die Daten stammen vom Marktforschungsunternehmen CM-Research, dass seit Anfang März international die Marktauswirkungen der Covid-19-Pandemie auf die Tiermedizin mit 14-tägigen-Panels beobachtet (PDF-Downlaod hier).

Großbritannien und USA: Online Rezept erlaubt

Die Corona-Krise sorgt zumindest im angelsächsischen Raum für dynamische Entwicklungen: Um Tiere trotz Lock-Down zu behandeln, dürfen Tierärzte in Großbritannien als Ausnahme(!) auch Rezepte ohne Praxisbesuch online aus/zustellen. Auch in den USA haben Bundesstaaten die Regeln noch einmal gelockert. Dort ist jetzt auch Erstkontakt und Verordnung per Video erlaubt. Ob, wann und in welchem Umfang diese Ausnahmen nach der Covid-19-Pandemie tatsächlich zurückgenommen werden, ist offen. Das dürfte auch von den Reaktionen der Tierbesitzer abhängen.

Telemedizin – ein Milliardenmarkt?

Schon bisher galt der Digital Health Markt als Wachstumsfeld. So sagt die Unternehmensberatung Roland Berger der Humanmedizin in Deutschland ein Wachstum auf 38 Mrd. Euro jährlich voraus. Humanärzten war – in Pilotprojekten – schon vor Corona eine komplette Fernbehandlung von der Video-Diagnose bis zum elektronischen Rezept erlaubt. Politischer Treiber war hier die Angst vor Versorgungslücken. Aktuell sind Lösungen wie die erlaubte Online-Krankschreibung schlicht Seuchenschutz. Doch die Telemedizin wird zur notwendigen Realität.

Das Marktvolumen wird in der Tiermedizin niedriger, die Entwicklungsdynamik aber vergleichbar sein. Regionalen Tierarztmangel und – mit Corona noch einmal forciert – steigende Serviceerwartung der Kunden gibt es auch hier. Die rechtlichen Vorgaben sind aber strenger. Anders als in der Humanmedizin ergibt sich digital eben kein direkter (Tier)Arzt-Patient-Kontakt, sondern dazwischen steht immer(!) der kommunikative Umweg über die Besitzerwahrnehmung – mit allen Risiken für Fehlinterpretationen und Missverständnisse.

Grafische Aufbereitung was laut US-Tierärzteverband alles unter den Oberbegriff Telehealth fällt
„Telehalth“ ist mehr als „Telemedizin“. Der US-Tierärzteverband AVMA definiert die Unterschiede so. (Grafik © AVMA)

„Telehealth“ ist keine „Telemedizin“

Die euphorischen Umsatzprognosen gelten außerdem für den „digitalen Gesundheitsmarkt“ insgesamt – international auch „Telehealth“ genannt. Der reicht von der digitalen Gesundheitsberatung über Sensortechniken und Datenauswertung via künstlicher Intelligenz bis hin zu dem, was eigentlich als „Telemedizin“ gilt: Es geht um Diagnose und Behandlung(sempfehlungen). Beides ist in der Tiermedizin per Gesetz (AMG) in Deutschland an einen physischen Kontakt geknüpft.

>>Telemedizin …
… ist ein Sammelbegriff für verschiedenartige tierärztliche Konzepte, die als Gemeinsamkeit den prinzipiellen Ansatz aufweisen, dass tiermedizinische Leistungen in den Bereichen Diagnostik, Therapie und Prophylaxe sowie bei der tierärztlichen Beratung über räumliche Entfernungen hinweg erbracht werden. Hierbei werden digitale Medien zur Kommunikation und Visualisierung eingesetzt.<<

(Definition der BTK-Arbeitsgruppe Telemedizin)

„Spar Dir das Wartezimmer“

Werbeslogans wie dieser sorgen dafür, dass Tierärzte das Thema „Telemedizin“ emotional diskutieren. Zu oft erkennen sie den Versuch von mit Risikokapital finanzierten Startups, sich als digitale Vermittler in der Schnittstelle zwischen Tierarzt und Tierbesitzer zu positionieren, also Kundenströme zu leiten.
So recht entscheiden können sich die Anbieter noch nicht. Wollen sie in Konkurrenz zu den Tierarztpraxen treten? Die zum Teil aggressive Werbung lässt es vermuten. Sie arbeitet mit Abgrenzung und zielt auf vermeintliche Defizite in den Praxen: lange Wartezeiten, unnötige Wege, Stress für die Tiere, umständliche Bezahlung oder häufig wechselnde Ansprechpartner.
Gerne wird im Gegenzug suggeriert, man sei die moderne Alternative zum Tierarztbesuch, auf die all das nicht zutrifft.

Umgekehrt suchen die Anbieter dann wieder den Schulterschluss mit der Branche. Der „Online Tierarzt Dr. Sam“ warb per Anzeige im Deutschen Tierärzteblatt darum, für Tierarztpraxen der „Helfer im Notdienst“ zu werden. Sprich: Man wollte als Dienstleister den digitalen/telefonischen Erstkontakt außerhalb der Sprechzeiten übernehmen. Aktuell bietet Dr. Sam eine „Tierarzt-Flatrate“ (Eigenwerbung) an: Ein Jahr Zugang zur Beratung ab 29,90 Euro im Quartal (= 119,60 € / Jahr).

Auch die Berliner Felmo testete zunächst, ob die im angelsächsischen Raum etablierten, sogenannten Petcare-Plans im deutschen Markt eine Chance haben: Für monatliche Pauschalen (bei Jahressummen zwischen 120 und 300 Euro) kauft man Behandlungspakete. Die müssten letztlich allerdings von möglichst vielen (freien) Tierarztpraxen „akzeptiert“ und in der Fläche in tiermedizinische Leistungen umgesetzt werden. Inzwischen bietet man Hausbesuche und Videosprechstunden an – die Videominute kostet 1.- Euro.

Die ebenfalls in Berlin ansässige vetevo, ist als OP-Vermittler gestartet (zuletzt laut eigener Aussage mit „100+ Partnertierärzten“), hat dann Kotprobenanalysen draufgesattelt und ist jetzt beim digitalen Impfmanagement und Genanalysen gelandet.

Eine Plattform, über die Tierärzte ihre eigene Videoberatung anbieten und abrechnen können ist vetelya.com.

Österreich: Futtermittelhersteller „powered“ Video-Tierarzt

In Österreich steigt die Nestle-Futtermitteltochterfirma Purina in das Geschäft als Videotierarzt mit ein. (Screenshot Webseite Pezz)

In Österreich ist ein Videotierarzt gestartet (Pezz), der einen interessanten Finanzier hat: die Nestle Futtermitteltochter Purina. Die „bezahlt“ 50 Prozent der Kosten für die Videokonsultationen, die über WhatsApp abgewickelt werden sollen. Nestle hält auch einen Anteil an der Tierarztkette Evidensia.

Der Tierfutterhersteller Nestle-Purina übernimmt 50 Prozent der Kosten für den Videotierarzt „Pezz“ (Screenshot Pezz-Webseite)

Es ist damit zu rechnen, das weitere Anbieter auf den Markt drängen. Ähnlich wie bei den Klinikketten, kommen einige aus Märkten in Skandinavien oder Großbritannien, in denen die Telemedizin bereits weiter fortgeschritten ist. Etwa First Vet oder Pawsquad. Letztere wurden schon 2015 gegründet .

Für das ZDF-Morgenmagazin hat eine Journalistin einen „Selbstversuch“ mit einem Video-Tierarzt gemacht – und findet das gut. Der Beitrag enthält auch einen kurzen Statement-Ausschnitt der Bundestierärztekammer.

Am Ende braucht es doch die „echte“ Praxis

Fakt bei all diesen Konzepten: Diese Art „digitaler Doktor“ hilft dem (kranken) Tier in Deutschland vorerst nur begrenzt. Er kann außer freundlichem digitalen (Beratungs-) Service kaum echte tierärztliche Leistung erbringen: Ferndiagnosen sind nicht erlaubt – eine Fernbehandlung ist schlicht noch nicht möglich – für Medikamente braucht es ein Rezept. Alle Anbieter brauchen damit am Ende zu oft dann doch einen Besuch in der echten Tierarztpraxis.

Dass verschiedenste Anbieter dabei mit unterschiedlichen Ansätzen experimentieren, zeigt auch: Man sucht noch die „Killerapplikation“, die einen von der klassischen Tierarztpraxis so stark abhebt, dass man ihr damit am Markt überlegen wäre. Trotzdem gilt der Markt als lukrativ.
Was vorerst bleibt, ist der Versuch, sich in irgendeiner Forma als Vermittlungsplattform zwischen Leistungserbringer (Tierarzt) und Kunde (Tierbesitzer) zu platzieren – dabei via App immer auch Daten zu sammeln und womöglich damit und durch Marktreichweite für Affiliate-Partner als Produktvermittler interessant zu werden.
Im vermeintlichen Kerngeschäft – der digitalen tierärztlichen Kompetenz – braucht es aber, anders als bei der datenbankgetriebenen Vermittlung von Hotelzimmern, Kfz-Versicherungen oder Handytarifen, letztlich doch qualifizierte Tierärzte, die online und „live“ beraten. Der Kostenvorteil einer Automatisierung, entscheidend für erfolgreiche digitale Plattform-Geschäftsmodelle, schrumpft damit rapide. Von einer 24/7-Rund-um-die-Uhr-Erreichbarkeit ist bei den Anbietern aktuell keine Rede mehr.

Teil II der Artikelserie zur „Telemedizin“ finden Sie hier: Was erwarten Tierbesitzer, was können/dürfen Tierärzte „digital“ tun und was bremst sie in Deutschland aus.

Quellen: im Artikel verlinkt

Offenlegung: Den Ursprungsartikel hat der Autor im Auftrag des Bundesverbandes praktizierender Tierärzte (bpt) für das Mitgliedermagazin bpt-info geschrieben – erschienen in Ausgabe 5/2020 – für wir-sind-tierarzt wurde er aktualisiert und um weiterführende Links ergänzt

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Über den Autor

Jörg Held

Jörg Held (jh) ist Journalist, Kommunikationswirt und Redaktionsberater mit 30 Jahren Berufserfahrung. Seit 2007 auch im Bereich Tiermedizin unterwegs, davon 5 Jahre als Redaktionsleiter der VETimpulse. Auch bei wir-sind-tierarzt.de leitet er die Redaktion und ist schwerpunktmäßig für berufspolitische Themen und die Nachrichten verantwortlich. Kontakt: joerg.held(at)wir-sind-tierarzt.de
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