Tag des Grauens – Chronik eines Tiertransport-Unfalls

Die Meldung über den Unfall eines Schweinetransporters auf der A45 klang im Radio fast nach Wild-West: Die Polizei erschießt umherirrende Tiere auf der Autobahn. Doch für die Amtstierärzte vor Ort war es ein Tag des Grauens – mit ungeahnten bürokratischen Folgen. Ein Unfallbericht aus einer etwas anderen Sicht.

A45 Unfall Schweinetransporter

Großeinsatz auf der A 45: Amtstierärzte, Tiergesundheitsaufseher, Metzger, Transporteure, Polizei und Feuerwehr.

von Henrik Hofmann

Die reinen Fakten sind schnell zusammengefasst: Ein mit 193 Schweinen beladener Viehtransporter mit Anhänger gerät am 9. September auf der A45 bei Wölfersheim in der Wetterau durch einen Reifenplatzer ins Schleudern. Der Lastzug prallt gegen die Mittelleitplanke und kippt um. Am Ende der Bergungsarbeiten haben 112 Tiere überlebt. Sie werden am Folgetag geschlachtet. Doch bis dahin war es eine grausame (siehe auch Video am Textende) und phasenweise auch frustrierende Arbeit für die Amtstierärzte und Metzger.

Mit Bolzenschussgeräten zum Unfallort

„Wir hatten schon beim Anruf der Autobahnpolizei das Schlimmste befürchtet“, berichtet Amtstierärztin Dr. Veronika Ibrahim vom zuständigen Veterinäramt Friedberg. Noch auf dem Weg zur Unfallstelle orderten die Veterinäre Metzger mit Bolzenschussgeräten, um verletzte Tiere fachgerecht erlösen zu können. „Als wir ankamen, hatten die Polizisten bereits etliche Schweine erschossen.“ Die umherirrenden Tiere gefährdeten die Sicherheit auf Autobahn. Auf Standstreifen und Fahrbahn lagen tote Schweine. Zwischen LKW-Trümmern und Einsatzwagen rannten 30 bis 40 verletzte Tiere umher, während die Einsatzkräfte versuchten, sie mit Hilfe von Leitern provisorisch einzupferchen, erinnert sich Ibrahim. Später wurde mit Bauzäunen ein Gatter errichtet. Doch das war der vergleichsweise einfach zu beherrschende Teil.

Stapelweise tote Schweine im LKW-Wrack

Die Mittelleitplanke hatte den Anhänger durchbohrt, das oberste Stockwerk war abgerissen. Im umgefallenen und gestauchten Hänger stapelten sich tote, verletzte und geschockte Tiere. „Manche waren aufgespießt, andere so tief begraben, dass wir erst nach Stunden an sie heran kamen.“ Über drei Stunden mussten sich Metzger und Amtstierärzte durch die Trümmer arbeiten, leichtverletzte Tiere befreien, eingequetschte und schwerverletzte erlösen. „Die Metzger waren völlig fertig. Wir sind mit Messern und Bolzenschussgeräten über bergeweise tote und lebende Tiere geklettert, haben 100 Kilo schwere Schweine rausgezogen, geschossen …“ – die Erinnerung lässt die Amtstierärzte immer noch grausen. Am Ende lebten von 193 Schweinen noch 112 – zum Teil leicht verletzt.

A45 Unfall Schweinetransporter

Die Toten und die Lebenden lagen stapelweise übereinander.

Bestimmung: Parmaschinken

Die ungarischen Fahrer waren mit dem LKW-Gespann auf dem Weg von Vechta über eine Sammelstelle in Steinfurt nach San Severo in Italien. Auftraggeber war ein holländischer Händler. Es waren „ausgesuchte Schweine mit gutem Fundament, die in Italien weiter ausgemästet werden sollten“, berichtet Amtstierärztin Ibrahim. Ihre Bestimmung: Parmaschinken.

Behelfsquartier: Schafstall

Nach vier Stunden Aufräumarbeiten „konnten wir die überlebenden Schweine schließlich für die Nacht in einem Schafstall unterbringen“, berichtet die Kollegin. Am nächsten Tag folgte die Suche nach einem Schlachthof, der ad hoc 112 Schweine schlachten konnte. „In unserem Kreis brauchten wir da gar nicht erst zu suchen.“ Tierschützer wollen die überlebenden Schweine übernehmen, doch der Eigentümer will sie – und musste es wohl versicherungsrechtlich – bestmöglich verwerten. Zunächst will der Händler die 112 Schweine sogar weiter nach Italien transportieren lassen. Mit den Kollegen vom Amt aber ist das nicht zu machen. „Die waren schlichtweg für diese Entfernung nicht mehr transportfähig!“

Fieberhafte Suche nach einem Schlachthof

„Wir waren ziemlich unter Druck. Die Schweine waren fix und fertig,“ erinnert sich Ibrahim. „Wir konnten sie in dem Schafstall auch nicht richtig füttern und tränken.“ Schließlich beginnen sie auch noch an, miteinander zu kämpfen. Ibrahim ruft bei Schlachthöfen von Simon und Tönnies in der weiteren Umgebung an.Zumindest Simon wäre bereit, die Tiere zu nehmen. Doch dann meldet sich der holländische Besitzer erneut: Seine Versicherung verlange die Verbringung nach Mannheim. Was sie nicht sagt, was aber wohl dahinter stand: Es war eine Preisfrage.

A45 Unfall Schweinetransporter

Verladen der Tierkörper und Aufräumarbeiten zogen sich bis tief in die Nacht. Die Überlebenden hatten im provisorisch umgenutzten Schafstall nur scheinbar eine Idyelle auf Stroh.

Warten auf den Transport

Der Holländer sucht nun einen Spediteur, der schnellst möglich 112 Schweine transportieren kann. Er findet ihn in Stuttgart – mit drei Stunden Anfahrt. „Die konnten dann frühestens um 18 Uhr bei uns sein und frühestens um 21 Uhr in Mannheim.“ Doch zu der Zeit wiederum würde auf dem Schlachthof niemand mehr arbeiten. Es muss erst eine Mannschaft zusammen gestellt werden, die eine Nachtschicht einlegen würde. „Schließlich bekamen wir das OK, dass alles geregelt sei und der Transport machte sich auf den Weg“, erinnert sich Amtsleiter Dr. Rudolf Müller.

Schlachtverbot: Fehlender Schlagstempel

Doch am Abend erhält Müller einen erneuten Anruf – der Schlachthof: Man könne doch nicht schlachten, die Tiere hätten ja keine Standarderklärung und seien nicht durch Schlagstempel gekennzeichnet. Formal ist das korrekt, denn die Schweine waren nicht zur Schlachtung, sondern zur Weitermast bestimmt.

Schlachtung mit Ausnahmeregelung

Bei den Kollegen in Friedberg wechselt Stimmung von engagierter Sorge zunehmend in frustrierten Zorn. „Die Schweine haben genug gelitten“, entschied Ibrahim. „Einen Schlagstempel kriegen die auf keinen Fall mehr!“ Sie baten, die Schweine gesondert zu schlachten und ausnahmsweise eine Standarderklärung nachliefern zu dürfen.“ Statt Schlagstempel schlagen die Friedberger Amtstierärzte die Nummern der Transportbescheinigung vor. „Ich stand kurz vor einem Tobsuchtsanfall“, blickt Müller zurück: „Das konnte doch alles nicht wahr sein!“ Zum Glück lassen sich die Kollegen aus Mannheim auf eine Ausnahmeregelung ein.

Aber so konnten erst 44 Stunden nach dem Crash auch die verbliebenen Schweine erlöst werden.

Ein ganz normaler Unfall

Den Schaden schätzte die Polizei auf etwa 130.000 Euro. Die Autobahn war nach dem Unfall zwischen Wölfersheim und Florstadt wegen Bergungs- und Sucharbeiten zunächst in beide Richtungen, am Ende noch in Richtung Hanau gesperrt. Die Aufräumarbeiten zogen sich bis tief in die Nacht.
„Es war ein ganz normaler Unfall“, sagt Ibrahim. „Der LKW entsprach den gesetzlichen Vorgaben, die Reifen waren in Ordnung, die Fahrer fit. Es war einfach ein ganz normaler Unfall. Pech eben. Ich bin grundsätzlich kein Freund von Langzeit-Tiertransporten. Aber das hätte auch bei einem kurzen Transportweg passieren können.“

 

Chronologie – Tag 1 – 09. September 2014

Auch die Metzger gingen bei diesem Einsatz weit über ihre Grenzen hinaus.

Auch die Metzger gingen bei diesem Einsatz weit über ihre Grenzen hinaus.

15.25 Uhr – Unfall eines Schweinetransporters auf der A45.

16.00 Uhr – Feuerwehr und Polizei sperren die Autobahn ab, erste umherirrende Schweine werden erschossen.

16.30 Uhr  –Zwei Amtstierärzte, 4 Metzger und 2 Tiergesiúndheitsaufseher treffen vor Ort ein. Gemeinsam mit der Feierwehr befreien sie eingeklemmte und verletzte Tiere aus dem Hänger, müssen die meisten aber töten.

20.00 Uhr – Die überlebenden Tiere werden provisorisch in einen Schafstall untergebracht. Dort sind Fütterung und Wasserversorgung aber schwierig.

20.25 Uhr – Die Tierkörperbeseitigung verlädt die toten Schweine und transportiert sie ab.

24.00 Uhr – Die Nachsuche nach entlaufenen/verendeten Tieren und Aufräumarbeiten dauern bis tief in die Nacht.

Tag 2 – 10. September 2014

08.00 Uhr – Die Amtstierärzte inspizieren die überlebenden 112 Schweine im Schafstall. Das Quartier ist ein Notbehelf, Fütterung und Wasserversorgung schwierig. Es muss schnellstmöglich ein Schlachthof gefunden werden.

08.30 Uhr – Anruf von Tierschützern, sie wollen die Tiere beim Amt freikaufen? Das kann nicht entscheiden, das sie dem Händler gehören. Der muss/will verwerten.

09.00 Uhr – Ein Telefonmarathon beginnt: Wohin mit den Tieren?

13.00 Uhr – Die Entscheidung für den Schlachthof Mannheim ist getroffen; Verhandlungen von Transporteur und Händler.

18.30 Uhr – Der Transporteur trifft ein, verlädt die Schweine.

21.30 Uhr – Der Transport trifft im Schlachthof Mannheim ein. Problem: Keine Schlagstempel, keine Standarderklärung – formal keine Schlachtung erlaubt.

Tag 3 – 11. September 2014

12.00 Uhr – Die Schweine können endlich geschlachtet werden

Bilder&Videosequenz: © 2014 Staatliches Veterinäramt des Wetteraukreises

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Über den Autor

Dr. Henrik Hofmann

Dr. Henrik Hofmann (hh) betreibt seit 1995 eine eigene Tierarztpraxis in Butzbach. Er ist Fachtierarzt für Allgemeine Veterinärmedizin und hat die Zusatzbezeichnung Akupunktur. (www.tierundleben.de) Als Autor und Redakteur hat Hofmann in etlichen Zeitschriften und Zeitungen rund ums Tier geschrieben. Bei wir-sind-tierarzt.de betreut er schwerpunktmäßig Medizinthemen, den Bereich Praxismanagement und die Rubrik Mensch-Tierarzt. Außerdem steuert er die SocialMedia-Aktivitäten und leitet die Bildredaktion. Zuletzt ist sein Buch „Tieren beim Sterben helfen – Euthanasie in der Tierarztpraxis“ erschienen. Kontakt: henrik.hofmann(at)wir-sind-tierarzt.de
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