Bevölkerungs­wachstum: Muss Deutschland die Welt ernähren?

Können wir weltweit neun oder gar elf Milliarden Menschen mit Nahrungsmitteln versorgen? Das ist die Frage, die sich Zukunftsforscher und Ernährungsexperten stellen. Und die hat unmittelbaren Einfluss auf die Tierhaltung in Deutschland, denn die „Welternährung“ ist ein Argument für die immer höhere Produktivität hierzulande.

Ein Debattenbeitrag von Annegret Wagner

Die Vereinten Nationen (UN) gehen davon aus, dass im Jahr 2050 etwa 9,6 Milliarden Menschen auf der Erde leben werden und bis 2100 sogar 10,9 Milliarden. Diese Menschen wollen ernährt werden. Den Lebensmittelbedarf schätzt die Food and Agriculture Organisation (FAO) der UN um 60 Prozent höher als den der Gegenwart. Da die Erde nur über begrenzte Flächen verfügt, die landwirtschaftlich genutzt werden können, liegt der Schluss nahe, dass die Nahrungsmittelproduktion und damit auch die Tierhaltung intensiviert werden muss.

Bittere Folgen für Nutztiere

Die daraus entstehenden gesundheitlichen Folgen für landwirtschaftliche Nutztiere sind schon jetzt unübersehbar. Milchkühe, die bis zu 100 Tage im Jahr mit einem Energiedefizit aufgrund hoher Milchleistung klar kommen müssen; Schweine, Hähnchen und Puten, die so hohe Gewichtszunahmen haben, dass ihr Knochenbau nicht mithalten kann und hochfruchtbare Sauen, deren zahlreiche, aber untergewichtige Ferkel extrem schlechte Startbedingungen für ein gesundes Leben haben.

Umstrittene Milliarden-Zahlen

Die UN-Prognose mit 10+ Milliarden ist allerdings umstritten. Das in Wien ansässige International Institute for Applied Systems Analysis (IIASA) geht davon aus, dass die Weltbevölkerung ihren Höchststand mit 9,4 Milliarden Menschen im Jahre 2070 erreicht hat. Während die UN erwarten, dass sich die Bevölkerung in Afrika bis zur Jahrhundertwende auf vier Milliarden Einwohner vervierfacht, hat Wolfgang Lutz vom IIASA eine weniger dramatische Prognose, denn: Die Geburtenrate hänge direkt mit dem Bildungsniveau junger Frauen zusammen und dieses verbessere sich in Afrika deutlich. „Die UN übersehen den Einfluss von Bildung auf das Bevölkerungswachstum“, kritisiert Lutz. Dabei sehe man am Beispiel Bangladesch, wie Aufklärung in Sachen Familienplanung wirken kann. In den 1970er-Jahren waren hohe Geburtenraten (sechs Kinder pro Frau) und Überbevölkerung ein großes Problem. Durch intensive Aufklärung ist die Geburtenrate inzwischen auf 2,3 Kinder pro Frau gesunken.

Hunger durch Krieg

Doch auch in Ländern mit hohem Bevölkerungswachstum könnte die Ernährung durch bessere Ausnutzung bestehender Resourcen garantiert werden, erklärt John Bongaarts, Leiter des Population Council in New York. Er betont: Die meisten Hungerkatastrophen entstünden immer noch durch Kriege und andere politisch instabile Verhältnisse. Es läge selten am tatsächlichen Mangel an Nahrungsmitteln. „Je mehr Menschen auf der Welt leben, desto größer werden die Umweltprobleme. Es wird zu einem Mangel an Land, Trinkwasser und Sonstigem kommen“, prophezeit Bongaarts. Vermutlich werden die Lebensmittel generell teurer werden, sodass vor allem arme Menschen sich weniger leisten können. Dass generell nicht genug Lebensmittel produziert werden können, hält er für unwahrscheinlich. Es sei eine Frage der Verteilung.

Meine Meinung:

In Deutschland erleben wir gerade einen durch Überproduktion verursachten Preisverfall bei landwirtschaftlichen Produkten – egal ob Milch und Milchprodukte, Schweinefleisch, Kartoffeln, Getreide. Bislang kann er nicht vollständig durch Exporte kompensiert werden. Auch weil andere Nationen – China etwa – mit Hilfe europäischer Nahrungsmittelproduzenten eigene und immer effektivere Landwirtschaftsstrukturen aufbauen. Wenn man das den Experteneinschätzungen zur Bevölkerungs- und Bildungsentwicklung gegenüberstellt, ist für mich fraglich, ob Asien – und langfristig auch Afrika – wirklich auf Nahrungsmittelexporte aus Europa setzen werden, um ihre Bevölkerung zu ernähren? Ich wage das zu bezweifeln. Und ich frage mich deshalb auch sehr laut: Sind die hohen – und stellenweise noch steigenden – Produktionsanforderungen an unsere Nutztiere hierzulande tatsächlich notwendig und ethisch vertretbar? (aw)

 

 Auf das Thema aufmerksam geworden durch: dairyherd

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Über den Autor

Annegret Wagner

Dr. Annegret Wagner (aw) hat in Gießen Tiermedizin studiert und arbeitet seit 1991 in der Großtierpraxis; seit 2005 niedergelassen in eigener Praxis mit Schwerpunkt Milchrind im Raum Rosenheim. Seit 2006 arbeitet sie auch als tiermedizinische Fachjournalistin. So hat sie für die VETimpulse die Nutztierthemen betreut und übernimmt diese Aufgabe auch bei wir-sind-tierarzt.de. Um nicht zum Mia-san-mia-Bayer zu mutieren, schaut sie intensiv über den Alpenrand hinaus, vorzugsweise ins englischsprachige Ausland. Kontakt: annegret.wagner(at)wir-sind-tierarzt.de
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