Human- oder Tiermedizin: Wer verordnet mehr Antibiotika?

Rund 700 Tonnen. Beim Antibiotiakeinsatz liegen Human- und Tiermedizin in Deutschland auf vergleichbarem Level. (Foto/Montage: WiSiTiA jh/pixabay)

Geht es um den Antibiotikaeinsatz bei Tieren, geht es schnell um Tonnen. Die lassen sich zählen. Inzwischen aber liegen die Mengen bei Human- und Tiermedizin mit rund 700 Tonnen auf vergleichbarem Level. Was aber bedeutet das? Wurde genug getan? Wie sind die Mengen der kritischen Antibiotika verteilt? Eine Einordnung.

Einordnung und Kommentar von Jörg Held

Es gibt zwei Entwicklungen:

  • Die Tiermedizin hat die eingesetzte Antibiotikamenge seit 2011 mehr als halbiert (um -56,5 % von 1.706 t auf 742 t – mehr hier)
  • Dagegen sinkt die Gesamtsumme der Verordnungen in der Humanmedizin nur langsam. Die Tagesdosen je 1.000 Versicherte (DID) haben sich seit 2012 um etwa acht Prozent reduziert (2012 = 13,1 / 2014 = 12,8 / 2016 = 12,1 – Zahlen: Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände/ABDA).

Die Auswertung der Apotheker erfasst allerdings nur orale Wirkstoffe und es fehlen die Privatversicherten und die Krankenhäuser. Die veröffentlichte humanmedizinische Datenlage ist insgesamt erschreckend dünn. Die aktuellsten Daten auf Versorgungsatlas.de stammen aus dem Zeitraum 2008 bis 2014 (veröffentlicht 2016) und zeigen einen allenfalls moderaten Rückgang.

Wenig Bewegung bei Antibiotikaverordnungen über alle Altersgruppen in der Humanmedizin (Grafik: © verordnungsatlas.de)

700 Tonnen Antibiotika – Tier- und Humanmedizin fast gleichauf

700 Tonnen – für die Antibiotikamenge in der Humanmedizin gibt es keine präzisen Daten, nur Schätzwerte. (Grafik: © verordungsatlas.de)

Bei den absoluten Antibiotikamengen liegen Tier- und Humanmedizin inzwischen ungefähr auf einem Level. Das sagen sowohl die Zahlen aus dem Versorgungsatlas, als auch eine Rechnung, die Dr. Jürgen Wallmann vom Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (BVL) im aktuellen Deutschen Tierärzteblatt aufführt: Durch Hochrechnungen des Verordnungsvolumens im ambulanten Bereich (ca. 500–600 t/Jahr), was einem Anteil von 85 Prozent am Gesamtvolumen entsprechen soll, lasse sich die Gesamtmenge in der Humanmedizin auf ca. 700 t schätzen.

Haben Tierärzte mit Antibiotika „rumgeaast“?

Angesichts dieser Zahlen schwenken Kritiker des Antibiotikaeinsatzes bei Nutztieren auf eine neue Argumentation um: Die großen Mengenreduzierungen (-56 %) in der Tiermedizin liessen darauf schließen, dass die Branche zuvor unverhältnismäßig viele Antibiotika eingesetzt, also damit regelrecht „rumgeaast“ habe. So sei es leicht, die Tonnage schnell in großem Umfang zu reduzieren.
Ein gewisses Maß an Sicherheitsverordnungen in der Vergangenheit lässt sich in der Tat nicht wegdiskutieren. Auch gab es einen Nachfragedruck seitens der Tierhalter.

Entwicklung der Antibiotikaabgabemengen in der Tiermedizin von 2011 bis 2016. (Tabelle: © BVL)

Doch das ist menschlich, beziehungsweise „ärztlich“ – und gilt auch für die Humanmedizin. Aktuell betonen Krankenkassen und Ärztevertreter im Deutschen ÄrzteblattEtwa 30 Prozent der Antibiotikaverordnungen in der Humanmedizin seien unnötig. Eine Zahl die auch schon 2014 der DAK-Antibiotika-Report nannte. Patienten verlangen zu oft Antibiotika – und Ärzte geben dem nach.

Drei Gründe, warum Menschen bei Erkältung ein Antibiotikum einnehmen wollen.

Drei Gründe, warum Menschen bei Erkältung ein Antibiotikum einnehmen wollen. (© DAK Antibiotika-Report 2014)

Aus Routinen ausbrechen

Der Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Infektiologie, Prof. Gert Fätkenheuer fordert deshalb aktuell in der Süddeutschen Zeitung von seinen Humankollegen beim Antibiotikaeinsatz, „ein Innehalten, eine zumindest kurze Unterbrechung der Routine. Möchte ich wirklich meinem ersten Impuls und den Gewohnheiten folgen, die sich über Jahre ärztlicher Tätigkeit eingeschliffen haben?“.
Aus dieser Routine haben sich Tierärzte – beileibe nicht völlig freiwillig, sondern auch durch strikte gesetzliche Vorgaben – zu großen Teilen verabschiedet. Genau das zeigt die deutliche Mengenreduzierung.
In der Humanmedizin dagegen besteht hier noch erhebliches Potential. Laut Prof. Fätkenheuer berichten viele Ärzte, dass Patienten häufig sehr energisch den Einsatz von Antibiotika einfordern. Der Gesetzgeber könnte auch die Humanmediziner stärken, indem er ähnlich klare Vorgaben erlässt wie für die Tiermedizin.

Humanmedizin: Fast 30 Prozent „Reserveantibiotika“ verordnet

Bleibt ein zweiter Vorwurf an die Tiermedizin: Sie sei von „klassischen“ Wirkstoffen, die ein großes Mengenvolumen ausmachen (Penicilline / Tetrazykline), umgestiegen auf moderne, hochwirksame und für die Menschen besonders wichtige „kritische“ Wirkstoffe, die um ein Vielfaches niedriger dosiert werden (Fluorchinolone/Cephalosporine 3./4. Generation). Es habe also weniger eine Reduzierung, sondern eher eine Verschiebung gegeben.
Die Zahlen (siehe Tabelle oben) sprechen dagegen: In der Tiermedizin haben diese „kritischen“ Wirkstoffe  mit 12,7 von 742 Tonnen noch einen Anteil von 1,7 Prozent an der Gesamtmenge.  Die Tendenz ist seit 2012 (Cephalosporine) bzw. 2014 (Fluorchinolone / –24,4%)  rückläufig – auch wenn 2016 die Menge der 3.G-Cephalosporine noch um 11,9 Prozent (0,2 t) und die der Fluorchinolone um 13,2 Prozent (1,1 t) über dem ersten Erfassungsjahr 2011 lagen. Hier kann also vermutlich noch weiter reduziert werden.

In der Humanmedizin aber sagen die Daten: Der Anteil der Verschreibung von  Cephalosporinen sowie Fluorchinolonen ist in den letzten Jahren gestiegen. Insbesondere bei den Cephalosporinen „bereitet der steigende Einsatz Sorgen“, schreibt der Versorgungsatlas.
Aktuelle Verordnungsdaten aus der Humanmedizin die wir-sind-tierarzt.de einsehen konnte, zeigen für 2016 wieder keine spürbare Trendwende: So lagen die Cephalosporine auch 2016 auf Platz 2 der in der Humanmedizin am häufigsten verordneten Antibiotika (22,5 Prozent), die Fluorchinolone belegen Platz 5 (4,5 Prozent). Die umgangssprachliche Bezeichnung „Reserveantibiotika“ ist daher reichlich deplaziert. Rechnet man die humanmedizinische Messgröße „Tagesdosen“ (DDD) grob in Tonnen um, dürften beide Wirkstoffe vorsichtig geschätzt über 200 Tonnen der Human-Antibiotikamenge ausmachen. Diese Wirkstoffe werden beim Menschen allerdings auch deutlich höher dosiert als bei Tieren.

Was ist ein „Reserveeantibiotikum“ – mehr Informationen zur Einstufung hier

Resistenzen minimieren: Was ist zu tun?

Die Humanmedizin setzt weiter auf „Prudent Use“ und „Antibiotic-Stewardship-Programme“ – also Aufklärung und Bewusstseinswandel. Professor Fätkenheuer nimmt seine Kollegen in die Pflicht: „Ärzte müssen noch viel stärker als bisher lernen, das Für und Wider von Antibiotika-Verschreibungen gegeneinander abzuwägen.“ Fätkenheuers zweites Handlungsfeld ist die Patientenaufklärung: Die sollten verstehen, „dass Antibiotika keine Allheilmittel sind und dass nicht jede banale Infektion damit behandelt werden muss.“
Bisher belegen die Antibiotikaverordnungsdaten der Humanmedizin aber nicht, dass diese Ansätze eine spürbare Wirkung zeigen.

Der Tiermedizin könnten mit der geplanten, aber im Moment (Regierungswechsel) auf Eis liegenden Novellierung der Tierärztlichen Hausapothekenverordnung weitere Vorschriften drohen: Resistenztestpflicht, Umwidmungsverbote und aufwändige Dokumentationen.

wir-sind-tierarzt.de meint:
Falsche und gefährliche Entwicklung

(jh) – Es bewegt sich eine ganze Menge beim Thema Antibiotikaeinsatz. In der Politik beschäftigt das Thema Regierungschefs auf G7- und G20-Gipfeln, es gibt Strategiepapiere (DART 2020) und WHO-Programme. Doch „gehandelt“ wird mit zweierlei Maß: In der Tiermedizin mit Vorschriften; in der Humanmedizin mit Appellen.

Ich finde: Es ist an der Zeit, dass der Gesetzgeber auch in der Humanmedizin zumindest alle Verschreibungen verpflichtend erfasst und jährlich Zahlen veröffentlicht. Dann wird sichtbar, wohin die Reise geht. Das sollte leicht möglich sein, da die Krankenkassen ja ohnehin wissen, welche Medikamente sie bezahlen.
Und: Nein, dass ist kein Ablenkungsmanöver der Tiermedizin und auch kein Mit-dem-Finger-auf-andere-Zeigen.

Im Gegenteil, Politik funktioniert leider allzu oft nur über „Aufmerksamkeit“. So lange aber nur die Tiermedizin mehrmals jährlich Daten vorlegt (Mengenerfassung und Therapiehäufigkeitsindex), lenkt das die öffentliche Debatte immer wieder neu in eine verhängnisvolle Richtung: Mit schöner Regelmäßigkeit und unter großer medialer Aufmerksamkeit wird dann nämlich nur über die „Massentierhaltung“ und deren vermeintliches Antibiotikaproblem debattiert.

Das schadet dem viel wichtigeren Thema, der Resistenzminimierung vor allem in der Humanmedizin, denn es entlässt „die Menschen“ aus der Verantwortung.
Mit traurigem „Erfolg“, wie eine Umfrage des Bundesinstitutes für Risikobewertung (BfR) belegt: Nur 24 Prozent der Bürger glauben, dass ihr eigener Umgang mit Antibiotika etwas mit dem Resistenzproblem zu tun hat. 53 Prozent geben der Tierhaltung die Schuld.

Das ist falsch, lenkt ab und ist deshalb gefährlich! Es ist Aufgabe der Politik, diese Fehleinschätzung zu beenden, denn das Resistenzproblem der Humanmedizin lässt sich nicht in den Ställen lösen.

Folge der öffentlichen Debatte? Über die Hälfte der Menschen glaubt, dass Antibiotikaresistenzen aus der Tierhaltung kommen. (© BfR-Verbrauchermonitor 2015)

Quellen:
Antibiotika-Zahlen der Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände (ABDA)
Deutsches Ärzteblatt 26/2016: „Antibiotikaverordnung in der ambulanten Versorgung“ (PDF-Download)
Versorgungsatlas: Antibiotika in der Humanmedizin (2/2016 / PDF-Download)
DAK-Antibiotika-Report 2014 (PDF-Download)
Deutsches Tierärzteblatt 12/2017 – Artikel „Wallmann/DIMDI (PDF-Download)
Süddeutsche Zeitung: Gastbeitrag Prof. Fätkenheuer zum Antibiotikaeinsatz

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Über den Autor

Jörg Held

Jörg Held (jh) ist Journalist, Kommunikationswirt und Redaktionsberater mit 30 Jahren Berufserfahrung. Seit 2007 auch im Bereich Tiermedizin unterwegs, davon 5 Jahre als Redaktionsleiter der VETimpulse. Auch bei wir-sind-tierarzt.de leitet er die Redaktion und ist schwerpunktmäßig für berufspolitische Themen und die Nachrichten verantwortlich. Kontakt: joerg.held(at)wir-sind-tierarzt.de
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