Kaum eine Tierkrankheit ist so umstritten, wie der sogenannte „chronische“ oder „viszerale Botulismus“ beim Rind. Nachdem die Medien zunächst intensiv über Theorien zur Krankheitsentstehung und Krankheitsbild berichteten, ist es zuletzt ruhig geworden. Wohl auch weil eine aufwändige Fall-Kontrollstudie der Tierärztlichen Hochschule Hannover die Krankheit nicht nachweisen konnte. Dieser Artikel gibt einen Überblick über die „Botulismus“-Debatte und verlinkt die relevanten Quellen.
Die Medienberichte führten auch zu einer politischen Debatte über die „chronische“ Tierkranhkeit – abzulesen an einer Anfrage von Bündnis 90/ Die Grünen in 2011 an die Bundesregierung. Letztlich förderte die Bundesregierung mit 2,2 Millionen Euro eine großangelegte Fallkontrollstudie zum Thema. Doch obwohl die tierärztliche Hochschule Hannover (TiHo) in Zusammenarbeit mit dem Friedrich-Loeffler-Institut (FLI ) 140 Milchviehbetriebe untersuchte, von denen etwa 100 annahmen ein „Botulismus-Problem“ zu haben, lautet die klare Abschlussaussage:
„Unsere Ergebnisse besagen, dass es keine Beziehung zwischen Clostridium botulinum und einem chronischen Krankheitsgschehen, weder auf Betriebsebene noch auf Tierebene gab. Daraus folgt, dass wir keine Hinweise auf den sogenannten chronisch-viszeralen Botulismus finden konnten.“
Dokumentation der Studie
Die Studienergebnisse wurden bereits im September 2014 auf einem Symposium und einer Pressekonferenz sowie auch auf Kongressen vorgestellt. Eine eigene Webseite dokumentiert die Ergebnisse jetzt ausführlich. Die wichtigsten Links:
- Eine FAQ-Liste mit Antworten auf die häufig gestellte Fragen zum Krankheitsbild und zum Projekt
- Alle Abstracts der Vorträge des Abschluss-Symposiums 2014 als PDF Download
Die Kritiker – vertreten von einer „IG-Botulismus“ – aber bleiben bei ihrer Definition des „chronischen Botulismus“ und werfen der TiHo-Studie unter anderem vor, eine falsche Auswahl der Betriebe getroffen zu haben. An der Studie selbst aber hat man trotz Anfrage nicht mitgearbeitet.
Wie definiert man eine Tierkrankheit?
Die zentrale Frage bleibt dann auch: Gibt es das Krankheitsbild des „chronischen Botulismus“ überhaupt oder addieren sich hier unterschiedliche Faktoren zur chronischen Erkrankung einer Milchvieherde?
Seit Jahren ist der „chronische Botulismus“ fester Bestandteil des Vokabulars medizinischer Laien und sogar Titel der Bachelor-Arbeit von Elisabeth Großmann von der Hochschule Neubrandenburg. In der Realität aber tun sich Wissenschaftler schwer, dieses Krankheitsbild zu beschreiben, denn es fehlen eine Reihe von fachlichen Bestätigungen:
- Etwa die der klinischen Diagnose eines neuen Krankheitsbildes durch mindestens einen unabhängigen ausgewiesen klinisch arbeitenden Spezialisten (Neurologen);
- die Darlegung valider labordiagnostischer Nachweise und deren Bestätigung durch unabhängige Labore;
- sowie weitere Kriterien, die einen kausalen Zusammenhang zwischen dem sogenannten „chronischen Botulismus“ und Clostridium botulinum Neurotoxin (BoNT) zweifelsfrei beweisen.
Professorin Dr. Martina Hoedemaker, Leiterin der TiHo-Studie, kommt auf Basis ihrer Untersuchungen zu dem Ergebnis:
„Bislang existiert keine Studie, welche einen Kausalzusammenhang zwischen dem chronischen Krankheitsgeschehen in Milchviehbetrieben und dem Vorkommen von BoNT beim Rind nachweist. Auch in unserer Fall-Kontrollstudie ergab sich kein Hinweis auf einen Zusammenhang zwischen einem chronischen Krankheitsgeschehen und dem Vorkommen von BoNT beim Rind.“
Humanmedizin: Kein Beweis für chronischen Botulismus
Doch nicht nur Tierärzte tun sich schwer mit dem „neuen“ Krankheitsbild. In einer Stellungnahme der deutschen Gesellschaft für Neurologie (02/2012) heisst es, dass es keinen eindeutigen Beweis für chronischen Botulismus beim Menschen gibt. Doch ein solches Human-Kranheitsbild wird von den Befürwortern des „chronischen Botulismus“ bei Tieren als Beleg angefügt.
Futterqualität als Krankheitsauslöser?
Bereits in der Antwort des Deutschen Bundestages auf die Anfrage von Bündnis 90/Die Grünen wird ein wesentlicher und von den „Betroffenen“ gerne ignorierter Aspekt angesprochen: „Haltungs- und Fütterungsbedingungen in den betroffenen Beständen sind in vielen Fällen suboptimal.“
Zu gleichen Ergebnissen kommen die Studie der Kollegen aus Hannover.
Und auch ein Merkblatt, in dem ein Hersteller von biologisch pharmazeutischen Präparaten aus Natursubstanzen über die Zunahme des „chronischen Krankheitsbildes“ berichtet, verweist auf die „Schlechte hygienische Qualität der Silage“ und rät zum Thema „Therapie von Botulismus“, dass zuvorderst allgemeine Hygienemaßnahmen einzuhalten sind und das Futter wiederkäuergerecht sein muss.
Spielt Glyphosat eine Rolle?
Prof. Dr. Monika Krüger, die am Institut für Bakteriologie und Mikrobiologie der Universität Leipzig forscht, hat noch einen anderen Schuldigen identifiziert: Glyphosat. Der Wirkstoff kommt in Herbiziden vor (z.B. Roundup®) und Prof. Krüger macht ihn (grob vereinfacht) dafür verantwortlich, die normalen Mikroben im Boden zu schädigen und so die Dominanz von Clostridium botulinum zu fördern.
Diese Theorie erklärt aber nicht, warum das Krankheitsbild fast ausschließlich in Schleswig-Holstein, Niedersachsen, dem nördlichen Nordrhein-Westfalen und dem Küstengebiet Mecklenburg-Vorpommerns gefunden wird. Das Herbizid wird weltweit eingesetzt. Ein Krankheitsbild „chronischer Botulismus“ wird aber selbst in den endemischen Botulismusregionen (Israel, Südafrika, Teile Australiens) nicht beschrieben.
Impferfolge nur bei Clostridium perfringens Typ A
In diesen bekannten Problemländern halten Impfungen das dort erwiesene Botulismusproblem erfolgreich unter Kontrolle. Impfungen gegen Clostridium perfringens Typ A werden auch in Deutschland mit gutem Erfolg gegen das – ebenfalls in Norddeutschland beobachtete – Hemorrhagic Bowel Syndrom (HBS) beim Rind eingesetzt. Bei dieser Erkrankung konnte allerdings auch ein Zusammenhang mit einer Clostridieninfektion nachgewiesen werden. Beim sogenannten „chronischen Botulismus“ ist ein solcher Nachweis von BoNT bislang nicht gelungen.
Ein Problem der zu großen Familienbetriebe?
In Deutschland tritt die beschriebene Problematik vor allem dort auf, wo überdurchschnittlich viele Rinder – zumeist in Familienbetrieben – gehalten werden. 2013 lag deutschlandweit der durchschnittliche Bestand pro Betrieb bei 52 Milchkühen. In Baden-Württemberg ( Ø 37), Bayern (Ø 33) oder auch Hessen (Ø 42) wird die „Erkrankung“ so gut wie nicht beschrieben. In Schleswig-Holstein (Ø 82) und Niedersachsen (Ø 71) wird sie dagegen gehäuft wahrgenommen. Mecklenburg-Vorpommern (Ø 204) hat die höchsten Tierzahlen pro Betrieb in Deutschland und meldet ebenfalls viele „Erkrankungen“. Die anderen östlichen Bundesländer mit ihren traditionell großen Strukturen (Sachsen-Anhalt Ø 185, Sachsen Ø 133, Thüringen Ø 162) haben deutlich weniger Probleme mit einem „chronischen Krankheitsgeschehen“ als die Kollegen im Norden.
Richtige Bezeichnung: Faktorenkrankheit
Diese statistischen Betrachtungen lässt Zweifel aufkommen, ob es sich beim „chronischen Botulismus“ tatsächlich um eine separate Erkrankung handelt, oder ob nicht der Begriff „Faktorenkrankheit“ nach wie vor besser zutrifft. Denn liest man sich Fallberichte durch oder schaut Bestandsvideos an, dann drängt sich oftmals der Eindruck einer Überforderung der entsprechenden Betriebsleiter mit den gehaltenen Tierzahlen auf: Schlechte Tierbeobachtung, zu spätes Handeln im Krankheitsfall (v.a.Lahmheiten und Stoffwechselstörungen), unzureichende Futterqualität, relativ zu hohe Milchleistungen und mangelhafte Hygiene.
wir-sind-tierarzt.de fragt: Versagt die landwirtschaftliche Beratung?
(aw) – Sollte es sich bei der Faktorenkrankheit, die mit dem Namen „chronischer Botulismus“ belegt wurde, tatsächlich um ein deutschland-spezifisches Problem handeln, dann stellt sich eine Frage:
Ist womöglich die landwirtschaftliche Beratung wesentlich schlechter ist als in anderen Ländern? Wird den Landwirten allzu vorschnell suggeriert, dass das Management großer Betriebe kein wirkliches Problem darstellt. Während in den USA gerade der Tierkomfort in Hochleistungsherden eine übergeordnete Rolle spielt, wird deutschen Landwirten häufig zur Überbelegung ihrer Laufställe geraten. Auch die in Deutschland empfohlenen, preisgünstigen Offenställe für Milchkühe, die es in vergleichbaren Gegenden der USA und Kanadas so nicht gibt, tragen nicht dazu bei, die Gesundheit der Tiere zu verbessern oder die Motivation der Betriebsleiter zur Tierbeobachtung bei schlechtem Wetter zu erhöhen.