Schwänze kupieren – ein Spagat zwischen Gesetz und Tierschutz ?

Schwanznekorse – eine Einladung zum Schwanzbeissen. (Foto: © Miriam Lechner)Schwanznekorse – eine Einladung zum Schwanzbeissen. (Foto: © Miriam Lechner)

Der Ringelschwanz beim Schwein entwickelt sich zum Symbol: Als Indikator für eine tiergerechte Haltung. Doch ein kompletter Kupierverzicht scheint ohne neue erhebliche Tierschutzprobleme nicht möglich. Es braucht praktikable und wiederholbare Lösungsansätze. Genau die aber fehlen den Praktikern.

(aw/jh) – Der Kompetenzkreis Tierwohl des Bundeslandwirtschaftsministeriums empfiehlt in einem neuen Papier ein schrittweises Vorgehen – aber mit konkreten Zielen: Ab 2016 sollen in jedem Bundesland fünf Prozent der Betriebe mindestens fünf Prozent der Schweine unkupiert halten, um so Projekterfahrungen zu sammeln und eben die „praktikablen und wiederholbaren Lösungsansätze“ zu finden. Die Zahl müsse dann aber stetig steigen.

Praktiker im Beratungsdilemma

bpt-Kongress-logo-2015Doch selbst ein schrittweiser Einstieg stößt in der Praxis auf Skepsis. „Beschäftigungsmaterial, Klima, Wasser, Futter mit verschiedensten Rohfaserträgern, mehr Fläche – wir haben alles ausprobiert, bekommen vier, fünf Partien sauber durch und haben dann plötzlich wieder einen Einbruch“. Landwirt Thomas Asmussen aus Kiel arbeitet seit vier Jahren in verschiedensten Forschungsprojekten der Universität Kiel mit (Arbeitsgruppe Prof. Joachim Krieter). Er klagte auf dem bpt-Kongress in München: „Wir haben noch nie so sauber gearbeitet. Wenn der Gesetzgeber jetzt einen Kupierverzicht anordnet, macht er uns zum Tierquäler.“

Auch die Schweinepraktiker betonten in der Diskussion immer wieder: Sie könnten als Dienstleister ihren Kunden doch nicht zum Experimentieren raten. Es sei bisher unmöglich eine Vorhersage zu machen, was im laufenden System funktioniert und passieren wird.
Entsprechend hatte die bpt Fachgruppe Schwein nach dem bpt-Kongress in München erklärt: „Es ist immer noch zu wenig über die auslösenden Faktoren bekannt, um einfach das Kupieren der Schwänze einzustellen und billigend in Kauf zu nehmen, dass schwerwiegende Verletzungen und Todesfälle auftreten.“ Sie warnt nachdrücklich vor einem voreiligen Kupierverzicht.

Politik: Kein sofortiger Komplettausstieg

„Beim Thema Schwanzbeißen geht es um eine Systemfrage.“ Professor Dr. Friedhelm Jaeger machte deutlich, warum die Politik dennoch auf dem „Einstieg in den Ausstieg“ beharrt. Der Referatsleiter Tierschutz im (Grün geführten) NRW-Landwirtschaftsministerium (MKULNV) ist überzeugt, man müsse etwas stabilisieren, dass aus dem Ruder gelaufen sei. 60 Prozent aller Antibiotika beim Schwein würden weitestgehend für Darmkrankheiten eingesetzt. „Der Ringelschwanz ist der sichtbare Teil einer systemischen Entzündungsthematik,“ betonte Jäger, sagte aber auch: „Die Politik gibt ihnen Zeit, vier, fünf Jahre – aber fangen sie jetzt an.“ Für den Ausstieg gebe es eine Roadmap aber keine fertige Blaupause der Maßnahmen.

Auch Professor Thomas Blaha versuchte die Praktiker für den schrittweisen Ausstieg zu motivieren: „Beginnen sie doch mit ein oder zwei Buchten. Erfahrungen aus den Pilotbetrieben helfen ihnen in der Fläche wenig. Es wird bei einem so multifaktoriellen Geschehen nicht reichen, von den Besten zu lernen – sie müssen die Lösung individuell in ihren Betrieben herausfiltern.“

Nekrosen am Ringelschwanz als Folge der Ödemkrankheit. (Foto: © Miriam Lechner)

Nekrosen am Ringelschwanz als Folge der Ödemkrankheit. (Fotos: © Miriam Lechner)

Schwanzbeißen: Steht die Diagnose?

„Wir wissen woran es liegt.“ Für Professor Jaeger, steht die Diagnose: Die primäre Form des aggressiven Schwanzbeißens lasse sich in den Griff kriegen. Das sekundäre Schwanzbeißen gehöre zum Faktorenkreis der Ödemkrankheiten, als deren Folge Schwanzspitzennekrosen einen Kannibalismus geradezu herausforderten. „Hier müssen Tierärzte ansetzen.“ Konsens ist, dass das Problem Schwanzbeißen in der Ferkelaufzucht beginnt und dort häufiger auftritt als in der Mast.

Managementfehler im weitesten Sinne

Beide Formen gehen nach Jaegers Auffassung auf Managementfehler im weitesten Sinne zurück: Das aggressive Beissen werde vor allem durch Langeweile (z.B. fehlende Beschäftigungsmöglichkeiten) oder Überbelegung (zu wenig Ruhe) ausgelöst.
Verantwortlich für das sekundäre Schwanzbeissen, bei dem die Schweine sich aufgrund juckender Nekrosen freiwillig an den Schwänzen beknabbern lassen, sei eine nicht angepasste Fütterung. Für Prof. Jaeger steht fest – und Landwirt Asmussen bestätigt das – dass letztere Form die weitaus häufigste Ursache für Schwanzbeissen ist.

Mit der Vermutung, dass eine fütterungsbedingte Endotoxinbildung für die Schwanznekrosen verantwortlich ist, können sich allerdings nicht alle Schweinepraktiker anfreunden. Die Gegenthese lautet, dass zuerst Verletzungen durch Bisse vorhanden sind, die sich dann entzünden und zu Nekrosen führen.

Dr. Xaver Sidler (Vet Suisse Uni) ist zwar ebenfalls der Meinung, dass die Fütterung eine Ursache für das Schwanzbeissen sein könnte. Er macht allerdings völlig veraltete Fütterungsempfehlungen dafür verantwortlich, dass das Schwanzbeissen in den letzten Jahren in der Schweiz trotz verbesserter Haltungsbedingungn massiv zugenommen habe.

Kein Phänomen der „Massentierhaltung“

Die Praxis des Schwänzekürzens gibt es bereits seit den späten 1960er Jahren, als eher noch kleinbäuerliche Tierhaltungen üblich waren. Das Schwanzbeissen ist kein typisches Ergebnis der sogenannten „Massentierhaltung“. Damals wurde begonnen, züchterisch gezielt die Mastleistungen zu steigern. Man setzte vermehrt neue Schweinerassen aus anderen Ländern ein. Diese Selektion hat womöglich auch zur Ausprägung ungewünschter, aggressiver Verhaltensformen geführt, denn die Sauen, die aufgrund ihrer guten körperlichen Entwicklung für die Zucht verwendet werden, müssen sich bereits beim Kampf um die milchhaltigsten Zitzen besonders gut gegen ihre Wurfgeschwister durchgesetzt haben.

Praktiker erwarten evidenzbasierte Anleitungen

Die Debatte ist noch nicht beendet. Sowohl die Auslöser für Schwanzbeissen sind nach wie vor nicht abschließen geklärt, als auch die Gegenmaßnahmen noch nicht reproduzierbar festgelegt. Gerade die praktizierenden Kollegen, die unmittelbar mit den Landwirten zusammen arbeiten, sind daher eher vorsichtig und fordern weitere evidenzbasierte Untersuchungen, anhand derer sie ihre Landwirte guten Gewissens beraten können.

Quellen:
Empfehlungen des Kompetenzkreises Tierwohl an das Bundeslandwirtschaftsministerium (11/2015 – PDF-Download)
bpt-Pressemeldung: Warnung vor vorzeitigem Kupierverzicht

[box]Die Rechtsfrage

Landwirte, Tierärzte und Behörden stecken auch rechtlich in einem Dilemma, stellte Prof. Dr. Friedhelm Jaeger, Referatsleiter Tierschutz im NRW-Landwirtschaftsministerium (MKULNV) fest:
Zwei Berufszweige, nämlich Landwirte und Tierärzte arbeiteten im Bezug auf das Schwänzekupieren nicht nach geltendem Recht. Sowohl europäisches als auch deutsches Tierschutzrecht verbieten das Kupieren der Schwänze grundsätzlich und lassen formal nur Ausnahmen zu. Diese Diskrepanz zur Realität des flächendeckenden Kupierens der Ringelschwänze lasse sich auf Dauer dem Verbraucher nicht vermitteln, vor allem weil die überwachende Behörde ständig „die Augen zu machen müssen“, wenn sie die aktuelle Praxis nicht zur Anzeige bringe.[/box]

Offenlegung: Jörg Held, Co-Autor dieses Beitrages hat über das Thema Schwanzbeißen auch im Auftrag des bpt berichtet (bpt-info 12/2015)

 

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Über den Autor

Annegret Wagner

Dr. Annegret Wagner (aw) hat in Gießen Tiermedizin studiert und arbeitet seit 1991 in der Großtierpraxis; seit 2005 niedergelassen in eigener Praxis mit Schwerpunkt Milchrind im Raum Rosenheim. Seit 2006 arbeitet sie auch als tiermedizinische Fachjournalistin. So hat sie für die VETimpulse die Nutztierthemen betreut und übernimmt diese Aufgabe auch bei wir-sind-tierarzt.de. Um nicht zum Mia-san-mia-Bayer zu mutieren, schaut sie intensiv über den Alpenrand hinaus, vorzugsweise ins englischsprachige Ausland. Kontakt: annegret.wagner(at)wir-sind-tierarzt.de
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