180.000 oder 13.000 – wie hoch ist die Zahl gravider Rinder am Schlachthof wirklich?

Screenshot aus einem TV-Beitrag von Report Mainz – der Fötus ist noch nicht im letzten Trächtigkeitsdrittel. (©Report Mainz)Screenshot aus einem TV-Beitrag von Report Mainz – der Fötus ist noch nicht im letzten Trächtigkeitsdrittel. (©Report Mainz)

180.000 trächtige Rinder würden jährlich geschlachtet – diese Zahl hat Tierschützer und Politik aufgerüttelt. Doch stimmt sie? Das sollen zum einen Forschungsprojekte klären, zum anderen gibt es jetzt Rückmeldungen aus den Schlachthöfen: Sie nennen eine Größenordnung von 13.000 trächtigen Tieren. Die Zahlen weichen enorm voneinander ab. Eine Einordnung.

von Jörg Held

Als „absolut inaktzeptabel“, hatte es zuletzt Bundeslandwirtschaftsminister Christian Schmitt im TV-Interview bezeichnet, dass trächtige Tiere unerkannt zur Schlachtung kommen – und ein Verbot angekündigt. Da die Föten bei der Schlachtung nicht mit betäubt werden, ersticken sie. Zumindest im letzten Trächtigkeitsdrittel geht die Wissenschaft dabei auch von einem Schmerzempfinden aus, was das Thema besonders tierschutzrelevant macht. Aktuell fragt die Bundestagsfraktion der Linken in einem Antrag, wann und wie die Bundesregierung, dieses Praxis unterbinden will.

[box]Weitere Berichte auf wir-sind-tierarzt.de
Hier eine Übersicht über die wissenschaftliche Debatte der Schlachtung gravider Tiere.
Hier eine Übersicht der beschlossenen und beabsichtigten politischen Maßnahmen,
mit denen ungeborene Kälber vor der Schlachtung geschützt werden sollen. [/box]

Nur ein statt zehn Prozent trächtiger Rinder am Schlachthof?

Screenshot aus einem TV-Beitrag von Report Mainz – der Fötus ist noch nicht im letzten Trächtigkeitsdrittel. (©Report Mainz)

Screenshot aus einem TV-Beitrag von Report Mainz – der Fötus auf dem Schlachtband ist noch nicht im letzten Trächtigkeitsdrittel. (©Report Mainz)

Tatsächlich valide Zahlen, wie viele Rinder deutschlandweit trächtig zur Schlachtung kommen, gibt es aber bisher nicht. Daten aus einer bei der AVA-Tagung 2015 vorgestellten Studienübersicht (PDF-Download) nennen Zahlen zwischen einem und 15 Prozent (siehe auch Folien-Slide-Show unten).

Jetzt legt der Verband der Fleischwirtschaft (VDF) aktuelle Daten aus Schlachhofrückmeldungen vor (Zeitraum 1.3. bis 16.8.2015):

  • Trächtig im letzten Drittel waren demnach 3.246 Rinder oder 0,72% der erfassten Tiere.
  • Die Daten basieren auf den gemeldeten Schlachtbefunden von 432.842 weibliche Rindern. Das waren 75% der laut amtlicher Statistik in diesem Zeitraum geschlachteten rund 575.000 weiblichen Rinder.
  • Hochgerechnet auf die Jahres-Schlachtzahlen von 1,76 Millionen weiblicher Rinder würde dies bedeuten: Etwa 13.000 im letzten Drittel trächtige Tiere kämen jährlich zur Schlachtung.

Seit Jahresbeginn 2015 erfassen die Schlachthöfe Trächtigkeiten im letzten Drittel, die sie im Rahmen der amtlichen Fleischuntersuchung feststellen. So haben es die Länderarbeitsgemeinschaft Verbraucherschutz (AFFL), das Bundeslandwirtschaftsministerium (BMEL) und der VDF Ende 2014 vereinbart. Die Tierhalter erhalten eine Rückmeldung, und müssen ihr Management überprüfen. Auch im privatwirtschaftlichen Qualitätsssicherungssystem (QS) müssen die Trächtigkeiten als für das QS-Prüfsiegel relevanter Befund gemeldet werden.
In den Bundesländern würde die Erhebung inzwischen weitgehend umgesetzt, meldet der VDF. Allerdings zeigen die Zahlen, dass etwa ein Viertel der Schlachtbetriebe noch nicht melden.
Die Bundestierärztekammer fordert zusätzlich für trächtig am Schlachthof angelieferte Tiere ein vom Hoftierarzt ausgestelltes Begleitdokument: Darin müsse ab dem 187. Trächtigkeitstag/Tag nach der Besamung eine medizinische Indikation für die Schlachtung aufgeführt sein.

Wie sind die Zahlen einzuordnen:

  1. Wichtig: Gemeldet und gezählt wurden in der VDF-Erhebung jetzt nur Trächtigkeiten im letzten Drittel (dem als tierschutzrelevant geltenden Zeitraum). Bisherige Studien und Zahlen zählten und schätzten (zum Teil) auch frühere Trächtigkeitsstadien mit. Dies dürfte einen Teil der Abweichungen erklären.
  2. Die Zahl 180.000 trächtiger Tiere – die die Medienberichte geprägt und die öffentliche Debatte ausgelöst hatte – stammt aus einer Studie aus dem Jahre 2010/2011 – wobei  55 Prozent der Tiere im letzten Trächtigkeitsdrittel waren.
  3. Der jetzige Erhebungszeitraum März bis August 2015 ist sehr aktuell – er liegt aber gut zweieinhalb Jahre von dem Zeitpunkt entfernt, an dem das Thema erstmals im Verband der Fleischwirtschaft offiziell diskutiert wurde (2012). Daraufhin angestoßene Erhebungen des VDF aus 2013 und 2014 zeigten, dass am Schlachthof rund ein Prozent der Rinder im letzten Drittel trächtig waren (= rd. 17.500 Tiere).
  4. Ende 2013/Anfang 2014 griffen Medien das Thema im größeren Stil auf (exemplarisch ein NDR-Bericht), was dann zu verstärkten politischen Aktivitäten führte.
  5. Der VDF geht selbst davon aus, dass sich die Trächtigkeitsquote weiter rückläufig entwickeln wird, wenn die getroffenen Maßnahmen (Erfassung und Rückmeldung an den Tierhalter) wirken.
  6. wir-sind-tierarzt geht davon aus, dass die jetzt erhobenen Zahlen bereits rückläufige Zahlen sind, weil die öffentliche und brancheninterne Debatte in den letzten zweieinhalb Jahren die Nutztierhalter stärker für das Thema sensibilisiert hat.
  7. Eine einfache 1:1 Gegenüberstellung der „alten“ (180.000) und der „neuen“ (13.000) zahlen ist also aus diesen Gründen nicht zulässig.

wir-sind tierarzt.de meint:

(jh) – Betrachtet man die Zahlen und die Entwicklung, dürfte die Dimension des Problems mit 180.000 trächtigen Rindern (zahlenmäßig) dennoch deutlich überschätzt, womöglich gar übertrieben worden sein. Fachlich und tierschutzrechtlich ist aber auch die jetzt deutlich geringere Zahl von 13.000 Tieren noch zu hoch. Sie muss weiter sinken. 
Deshalb ist und war es gut und wichtig, dass die öffentliche Empörung nach Medienberichten und der so entstandene Druck das Thema ins Bewusstsein gerückt hat. Dabei müssen sich Verbände und Politik vorhalten lassen, ein bereits seit 2011/2012 bekanntes Problem erst in 2015 konsequent anzugehen.
Leidtragende sind – neben den Tieren – auch die große Mehrheit der ordentlich arbeitenden Landwirte. Sie haben öffentlich immer wieder beteuert, dass sie keineswegs absichtlich trächtige Rinder zur Schlachtung geben – ohne das ein Schlachtgrund vorliegt (Krankheit/Verletzung).
In den Medienberichten wurde dies aber nur selten differenziert dargestellt. Zu groß war die Zahl von 180.000 betroffenen Tieren (= zehn Prozent der geschlachteten weiblichen Tiere), als dass man sie als „Einzelfälle“ hätte einordnen können. Die neue Größenordnung von einem Prozent dürfte eher realistisch sein, muss aber noch weiter verifiziert werden. Evtl. sollten auch frühere Trächtigkeitsstadien noch erfasst werden.
Bitter ist, dass es zunächst immer solcher Polarisierungen bedarf, bevor ein Problem konsequent angegangen wird.

 

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Quellen:
Pressemeldung des Verbandes der Fleischwirtschaft (8.9.2015)
Pressemeldung des Qualitätssicherungssystems QS (9.5.2015)

Beitragsbild: Screenshot aus einem TV-Beitrag von Report Mainz (zu sehen in HIER der Mediathek) – der Fötus ist noch nicht im letzten Trächtigkeistdrittel – entgegen der ursprünglichen gesendeten Fassung wurden die Bilder im Video in der Mediathek inzwischen unkenntlich gemacht.

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Über den Autor

Jörg Held

Jörg Held (jh) ist Journalist, Kommunikationswirt und Redaktionsberater mit 30 Jahren Berufserfahrung. Seit 2007 auch im Bereich Tiermedizin unterwegs, davon 5 Jahre als Redaktionsleiter der VETimpulse. Auch bei wir-sind-tierarzt.de leitet er die Redaktion und ist schwerpunktmäßig für berufspolitische Themen und die Nachrichten verantwortlich. Kontakt: joerg.held(at)wir-sind-tierarzt.de
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