Kommentar: Die Wurst sorgt für Sachlichkeit in der Glyphosat-Debatte

"Karzinogen für Menschen" – die WHO stuft den Frühstückswurstteller in die höchste Gefahrenstufe ein – wenn man denn täglich 50g "processed meat" verzehren würde. (Foto: © WiSiTiA/jh)"Karzinogen für Menschen" – die WHO stufte 2015 den Frühstückswurstteller in die höchste Gefahrenstufe ein – wenn man denn täglich 50g "processed meat" verzehren würde. (Foto: © WiSiTiA/jh)

Wenn’s um die Wurst geht, entsteht plötzlich vielerorts beredtes Schweigen. Die WHO/IARC-Einschätzung, dass „processed meat“ krebserregend sei, zeigt vor allem eines: Wissenschaftliche Formulierungen und Bewertungen taugen keineswegs sofort als Beleg für politischen Aktionismus. Das gilt für Wurst und für Glyphosat.

Kommentar von Jörg Held

Die Räucher-Salami könnte sich zum Retter des Unkrautvernichters Glyphosat entwickeln. Warum?
Beide hat die „International Agency for Research on Cancer“ (IARC), die Agentur für Krebsforschung der Weltgesundheitsorganisation WHO, als Krebsrisiko eingestuft: die „Wurst“ – oder wie es offiziell heißt, das „processed meat“ (WHO-Erklärung hier) – sogar in der höchsten Risikoklasse „karzinogen für Menschen“; den Unkrautvernichter  Glyphosat dagegen „nur“ als „wahrscheinlich krebserregend“ (die zweithöchste Risikoklasse – siehe Kasten unten).

Nun tobt aber seit geraumer Zeit im Vorfeld der anstehenden, erneuten Europa-Zulasssung von Glyphosat eine politisch befeuerte mediale Meinungsbildungsschlacht: Weil das Unkrautvernichtungsmittel „wahrscheinlich krebserregend“ sei, müsse es sofort verboten, statt erneut zugelassen werden – fordern mit enormer Vehemenz vor allem Grüne-Politiker und NGOs. Da wird sogar dem als Gutachter tätigen Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) Faktenbeugung unterstellt.

"Karzinogen für Menschen" – die WHO stuft den Frühstückswurstteller in die höchste Gefahrenstufe ein – wenn man denn täglich 50g "processed meat" verzehren würde. (Foto: © WiSiTiA/jh)

„Karzinogen für Menschen“ – die WHO stuft den Frühstückswurstteller in die höchste Gefahrenstufe ein – wenn man denn täglich 50g „processed meat“ verzehren würde. (Foto: © WiSiTiA/jh)

Logische Konsequenz: Wurstverbot

Legt man die Logik der „Glyphosat-Verbots-Debatte“ zugrunde, dass eine IARC-Einstufung sofort Konsequenzen habe müsse, gäbe es nur eine Lösung: Die sogar noch eine Kanzerogenitäts-Stufe“ gefährlichere „Wurst“ gehört sofort komplett verboten – also  Räuchersalami und Schinken raus aus dem Supermarktregal – so wie es Glyphosat im Baumarkt ergangen ist.
Und das ebenfalls von der IARC als analog zum Glyphosat „wahrscheinlich krebsgefährdend“ eingestufte sogenannte „rote Fleisch“ (also Steak & Co) müsste man gleich mit verbannen.

Nur: Diese Wurst-Verbots-Konsequenz bringen weder die Grünen – nach dem Veggie-Day-Desaster – noch Greenpace & Co auf. Da fürchtet man doch zu sehr des Volkes Zorn und dessen Essgewohnheiten. Mir ist zumindest nicht bekannt, dass solche politischen Verkaufsverbotsforderungen für Salami und Schinken auf dem Tisch liegen*. Stattdessen gibt es erste „Solidaritäts-Adressen“ aus der Politik an die Wurst.

Die Wurst sorgt für neue Sachlichkeit

Und damit hat die aktuelle Debatte um die Wurst und deren Krebsrisiko ein wirklich Gutes: Sie zeigt, dass wissenschaftliche Bewertungen und Begriffe nicht für simplifizierenden politischen Aktionismus taugen. Politik (und Medien) müssen abwägen und einordnen, was wirklich bedrohlich ist – und sie sollten dabei Begriffe wie Risiko und Gefahr auseinanderhalten (können). Sie können das im Ansatz durchaus, wenn sie wollen. Denn verfolgt man die Berichte über das „krebserregende Lebensmittel Wurst“, so findet sich dort eine ganz andere sprachliche und faktenerklärende Sachlichkeit als in denen über das „krebserregende Pestizid Glyphosat“ – obwohl die „Wurst“ formal sogar „gefährlicher“ ist. Sogar BILD wird zum Faktenerklärer mit pro Wurst Unterton.

Neuer Raum für fachgerechte Entscheidungen

Ich wage mal eine Prognose: Jetzt können Regierungen und internationale Aufsichtsbehörden deutlich unaufgeregter und mit erheblich weniger „Mediendruck“ auf der Basis der Studienergebnisse die Risiken gegen den Nutzen der als „karzinogen klassifizierten“ Produkte abwägen – sei es nun Wurst oder Glyphosat.
Am Ende kann trotzdem sowohl ein Verbot (Beispiel: Asbest) aber auch eine Anwendungswarnung (Beispiel: Rauchen) stehen. Und natürlich werden die Behörden berücksichtigen, dass der Verbraucher bei der Wurst selbst entscheiden kann, wie viel er konsumiert, während er beim Unkrautvernichter darauf angewiesen ist, dass die Anwendung stets korrekt erfolgt.
Aber seit Paracelsus gilt: Alle Dinge sind Gift, allein die Dosis macht, dass ein Ding kein Gift ist.

[box]Darum gehts – der Hintergrund der Wurst/Glyphosat-Debatte

Nach einer Analyse von mehr als 800 Studien hat die IARC/WHO Produkte aus verarbeitetem – sogenanntem „processed meat“, also etwa gepökeltem oder geräuchertem Fleisch – in die Kategorie „krebserregend für Menschen“ (Lancet Oncol 2015, online 26. Oktober) eingestuft. Das ist die höchste IRAC-Risikostufe Gruppe 1. Damit finden sich Salami und geräucherter Schinken in der gleichen „Gruppe 1“ wie auch Formaldehyd oder Asbest.
„Rotes Fleisch“ gilt dagegen „nur“ als „wahrscheinlich krebserregend“ (Gruppe 2) und ist damit in der gleichen Gruppe wie das Unkrautvernichtungsmittel „Glyphosat“ eingestuft.
Die Einordnung sagt weniger etwas über die unmittelbare Gefährlichkeit einer Substanz aus als vielmehr etwas über die wissenschaftliche Evidenzbasis, die Karzinogenität betreffend.[/box]

Quellen:
Auslöser der Wurst-Debatte – WHO/IARC Veröffentlichung im Lancet
WHO-Erklärung der Begrifflichkeiten in der „Wurst-Debatte“ (engl.)

Risiko oder Gefahr – eine Begriffsdefinition (BfR)
Unterschied zwischen „risk“ und „hazard“ (BfR – PDF-Download)

*eine erste Petition fordert von REWE die Auslistung von Wurstprodukten

Teilen
Über den Autor

Jörg Held

Jörg Held (jh) ist Journalist, Kommunikationswirt und Redaktionsberater mit 30 Jahren Berufserfahrung. Seit 2007 auch im Bereich Tiermedizin unterwegs, davon 5 Jahre als Redaktionsleiter der VETimpulse. Auch bei wir-sind-tierarzt.de leitet er die Redaktion und ist schwerpunktmäßig für berufspolitische Themen und die Nachrichten verantwortlich. Kontakt: joerg.held(at)wir-sind-tierarzt.de
Web Design MymensinghPremium WordPress ThemesWeb Development

Wildtiere: Hilfe kann auch Leid bedeuten

9. März 20169. März 2016
Ein Faltblatt gibt Tipps zum Umgang mit Wildtieren. (©Landestierschutzbeauftragte Hessen / Erni/Fotolia.com)„Wildtiere brauchen in den aller seltensten Fällen menschliche Hilfe," sagt die Landestierschutzbeauftragte Hessen. Was tun kann, wer ein Wildtier findet – oder aber auch besser lassen sollte – erklärt ein Flyer, den Dr. Madeleine Martin zusammen mit der Landestierärztekammer Hessen herausgegeben hat. (mehr …)