NRW gegen den Rest der Republik – diesen Eindruck hat manchmal, wer die Landwirtschaftspolitik des Rot-Grün-regierten Bundeslandes verfolgt: Ein Tötungsverbot für Eintagsküken, wissend, dass letztlich doch erst Musterprozesse entscheiden werden – einzige Ja-Stimme zur Abschaffung des tierärztlichen Dispensierrechtes beim Fachdiskurs der Bundesregierung in Berlin – Puten- und Hühnerstudien, die Antibiotika-Missstände aufzeigen aber zugleich dramatisieren. Die klare Botschaft: NRW stellt die Systemfrage – auch an die Tierärzte.
Die einordnende Zusammenfassung eines Weihnachtsbriefes aus NRW – von Jörg Held
„Genetisch auf Höchstleistung getrimmte Tiere halten gerade noch bis zur Schlachtung durch.“
Der oberste Veterinär Nordrhein-Westfalens, Prof. Friedhelm Jaeger, ist bei der Wortwahl in seinem Weihnachtsbrief an die Tierärzte in den Veterinärverwaltungen des Bundeslandes zunächst nicht zimperlich. Er sieht ganz klar „grundlegenden Reformbedarf im System der tierhaltenden Landwirtschaft insgesamt“. Die Tiere seien genetisch so auf Höchstleistung getrimmt, dass sie gar nicht mehr anders könnten als eine Leistung zu erbringen und das „in einem für Viele in unserer Gesellschaft mehr als grenzwertig empfundenen Ausmaß. … Nutztiere sind durchweg (Stoffwechsel-) leistungsmäßig überfordert und halten gerade noch bis zur Schlachtung durch“ (Beispiele am Ende dieses Artikels).
Politisch richtungsweisend – zumindest für NRW – sind die Konsequenzen, die Jaeger für die Rolle der Tierärzte in diesem System zieht. Zwar schreibt er an die Veterinäre in den Ämtern, doch Wortwahl und Themensetzung zielen – so lese ich es – in mindestens gleichem Maße auf Praktiker:
Antibiotikaminimierung ist kein Selbstzweck
1) „Kranke Tiere müssen vom Tierarzt behandelt werden. Es darf nicht dazu kommen, dass notwendige Behandlungen etwa unterbleiben, um den Arzneimittelverbrauch zu reduzieren oder gar Tiere im Bestand einfach hilflos sterben zu lassen.“
Eine derart klare Vorrangformulierung trifft der Grüne NRW-Landwirtschaftsminister Johanes Remmel nicht. Er reklamiert ganze antibiotische Wirkstoffgruppen ausschließlich für die Humanmedizin, ohne Verständnis für Therapieanforderungen in der Praxis zu zeigen – so zuletzt bei der Vorstellung der NRW-Putenstudie.
Prof. Jaeger differenziert da mehr – aber in jede Richtung. So stellt er auch die Frage: „Warum dies (die Behandlung mit (Reserve-) Antibiotika / Anm. d. Red.) aber immer und vor allem unter unserer Verantwortung der gesamte Bestand sein ‚muss‘, werden wir Tierärzte uns zusehends fragen lassen müssen?“
Das aber ist letztlich eine Systemfrage, die in den bestehenden Geflügelbestandsstrukturen ein Praktiker nur schlicht mit „Weil es nicht anders geht“, beantworten kann – zumindest, wenn Bestand die mehrere tausende Tiere in einem Stallgebäude meint – kranke Tiere herausfangen, wie es wohlmeinende Tierschützer zuletzt auch in der ZEIT forderten ist unmöglich.
Der Tierarzt als „Reparateur“ von Systemschäden
2) „Losgelöst von einer einzelbetrieblichen Betrachtung – sehe ich uns Tierärzte zunehmend in der Rolle eines ‚Reparaturbetriebs‘ im System einer insgesamt reformbedürftigen Tierhaltung.“ Jaeger fordert von den Tierärzten eine eher distanzierte Betrachtung auf dieses gesamte System der landwirtschaftlichen Tierhaltung. „Das halte ich berufspolitisch für essentiell.“ Aus wohlverstandenem Eigeninteresse sollte „unser Berufsstand“, in vorderster Reihe den Stellenwert des Tierschutzes mit aller Deutlichkeit vertreten und mehr als bisher auch im öffentlichen Bewusstsein verankern. Sonst, so warnt Prof. Jaeger, „setzen sich diejenigen Stimmen durch, die dem tierärztlichen Berufsstand vorhalten, dass „Großveterinäre … das gesamte System überhaupt erst am Laufen halten“ (Zitat aus dem ZEIT-Artikel: Dauernd Stoff vom Arzt).
Das aber scheint auf der politischen Ebene in NRW bereits der Fall, denn anders lässt sich das ebenfalls von Jaeger wie folgt beschriebene Szenario auf der Pressekonferenz zur „NRW-Putenstudie“ kaum interpretieren:
„Weiterhin hat sich Herr Minister Remmel klar für eine Abschaffung des tierärztlichen Dispensierrechtes ausgesprochen. Auf die Nachfrage eines Journalisten, was denn die Abschaffung des tierärztlichen Dispensierrechtes mit dem Reformbedarf in der Landwirtschaft zu tun habe, lautete die prompte Antwort: ‚Weil die Tierärzte Teil dieses Systems sind‘.“
Appell an den Sachverstand
Trotzdem appelliert Prof. Jaeger an die Tierärzte in Verwaltung – und eben auch Praxis – diesen Systemgraben nicht zu tief werden zu lassen:
3) „Es sollte aber nicht bei einem bloßen Aufzeigen von Missständen und Kritikpunkten bleiben, sondern gerade wir Tierärzte sollten uns proaktiv anbieten, an vorderster Stelle nach konkreten Lösungen zu suchen und gemeinsam mit der Landwirtschaft Wege aus der Krise zu finden.“ Welcher Berufsstand, wenn nicht die Tierärzte als tierbezogen-wissenschaftlich Ausgebildete, wäre sonst in der Lage, den dazu notwendigen Sachverstand einzubringen? ln diesem Sinne sollten Tierärzte mit dem gebotenen Selbstbewusstsein die Öffentlichkeit suchen.
Jaeger sieht bereits „erfreuliche Verlautbarungen von Seiten der Tierärzteschaft, die Fehlentwicklungen im System der Tierhaltung aufzeigen und die ebenfalls einen grundlegenden Reformbedarf deutlich machen“, etwa von Seiten der Bundestierärztekammer, dem Bundesverband beamteter Tierärzte sowie der Tierärztlichen Vereinigung für Tierschutz. Er wünscht, dass – nicht nur zu Weihnachten – diese Ansätze „aufgegriffen, vertieft und vor allem mehr als bisher in die öffentliche Wahrnehmung gerückt werden“.
Auftrag per Gesetz
4) „Wir als Tierärzte stehen hier in besonderer konstruktiver Verantwortung nicht nur, weil wir uns gemäß dem tierärztlichen Berufsbild generell als berufene Tierschützer verstehen, sondern weil wir hierzu sogar einen klaren tierschutzgesetzlichen Auftrag haben.„ Diese Rolle als sachverständiger Berufsstand sei den Tierärzten per Tierschutzgesetz zugesprochen und „Auftrag und Ansporn zugleich“, sich bei Politik und Öffentlichkeit mit Strategien hin zu mehr Tierschutz in der Nutztierhaltung ins Bewusstsein zu bringen. „Ich gehe davon aus, dass diese Thematik im kommenden Jahr einen wesentlichen Schwerpunkt in unserer Tierschutzarbeit einnehmen wird.“
Prof. Friedheln Jaeger ist Referatsleiter Tierschutz, Tiergesundheit, Tierarzneimittel im Ministerium für Klimaschutz, Umwelt, Landwirtschaft, Natur- und Verbraucherschutz des Landes NRW.
wir-sind-tierarzt.de meint:
(jh) – Wie bei jedem guten politischen Statement kann man es ausgehend von der eigenen Position durchaus unterschiedlich auslegen: Als Aufruf zur Einheit, aber eben auch als Auftrag, von Behördenseite dem Tierschutzgesetz mehr Geltung zu verschaffen. Die künftige „Rolle des Tierarztes im System“ definiert Prof. Jaeger dabei klar: Es ist die des Veränderers. Und in dieser Rolle möchte er den gesamten Berufsstand sehen – auch die Praktiker.
Den vollständigen Brief können Sie hier als PDF-Datei herunterladen
Beispiele zur Überzüchtung aus dem Brief:
Bei Rindern habe man genetisch und damit tierzüchterisch gewollt einen selbst erhaltender Regulationszyklus geknackt, der eigentlich von der Natur als Schutz vorgesehen sei und verhindern solle, dass die Tiere leistungsmäßig „ausbluten“ (Quelle: Prof. Dr. Holger Martens, FU Berlin). Verkürzte Lebenszeiten, schmerzhafte Klauenschäden und vor allem Stoffwechselimbalancen seien weit verbreitete Probleme in der Milchkuhhaltung.
Beim Schwein sieht Jaeger „systematische Stoffwechselimbalancen mit Entzündungen und Nekrosen in Haut und inneren Organen“ (Quelle: Tierärztliche Umschau, Nr. 9/2014).
Beim Geflügel sei es nicht viel anders: Erste „Screenshots“* deuteten auch hier darauf hin, dass es verbreitet in den Geflügelherden zu relevanten Stoffwechselimbalancen mit entzündlichen Reaktionen komme als Ausdruck einer zu intensiven Stoffwechselleistung.
*Ergänzung der Redaktion: Dies dürfte sich auf die NRW-Putenstudie beziehen, bei der die am häufigsten eingesetzte Mastrasse Big 6/BUT 6 eine um 21 Prozent höhere antibiotische Therapiedichte im Vergleich mit anderen Rassen aufwies – unabhängig von den Haltungsbedingungen.