COVID-19-Pandemie: 12 Stunden-Schichten in Tierarztpraxen erlaubt

Längere Arbeitszeit, kürzere Ruhzeiten – ist die befristete "Corona-Ausnahme" vom Arbeitszeitgesetz zusätzliche Belastung für Mitarbeiter oder womöglich eine Chance für neue Arbeitszeitmodelle? (Foto: © bpt / Montage: WiSiTiA/jh)

Bis 30. Juni gilt eine befristete Ausnahme vom Arbeitszeitgesetz für bestimmte Branchen, darunter auch Tierarztpraxen: Täglich darf bis zu zwölf Stunden gearbeitet und die Ruhezeiten auf neun Stunden verkürzt werden. Längere Arbeitszeit bei weniger Kunden, macht das jetzt Sinn? (Mit Kommentar)

von Jörg Held

Schon seit einiger Zeit gibt es auf Länderebene „Corona“-Ausnahmegenehmigungen vom Arbeitszeitgesetz, etwa in NRW in den Regierungsbezirken ArnsbergDetmold und Münster. Jetzt hat das Bundesarbeitsministerium (BMAS) eine bundesweite, bis 30. Juni befristete Regelung in eine eigene „COVID-19-Arbeitszeitverordnung“ gefasst (Details siehe 5. Absatz). Sie gilt für darin aufgelistete Tätigkeiten, unter anderem …

“ … 6. in der Landwirtschaft und in der Tierhaltung sowie in Einrichtungen zur Behandlung und Pflege von Tieren, …“

COVID-19-Arbeitszeitverordnung – Bundesministerium für Arbeit und Soziales – (mehr Details im PDF-Download: FAQ zur Auslegung)

Bis zu 12 Stunden am Tag arbeiten in Corona-Zeiten?

Auf den ersten Blick klingt es seltsam: Es kommen weniger Kunden in die Tierarztpraxen. Die Inhaber klagen über rückläufige Umsätze. Es gibt die Möglichkeit, Kurzarbeitergeld zu beantragen. Und dann erlaubt die Bundesregierung eine verlängerte tägliche Arbeitszeit von 8 auf 12 Stunden und verkürzt die Ruhezeiten von 11 auf bis zu 9 Stunden? Eine Flexibilisierung, die Tierarztverbände zwar immer wieder forderten, insbesondere um Nacht- und Wochenendnotdienste zu sichern. Aber zu diesem Zeitpunkt?

Mitarbeiter durch zeitliche Distanzierung schützen

Durch die Ausbreitung von COVID-19 rechnet das Bundesarbeitsministerium unter anderem mit einem stark erhöhten Kranken- und Quarantänestand bei den Beschäftigten. Deshalb sollen die Arbeitszeitsonderregeln helfen, die öffentliche Sicherheit und Ordnung, das Gesundheitswesen und die pflegerische Versorgung sowie die Daseinsvorsorge aufrecht zu erhalten.

Gerade für größere Tierarztpraxen oder Tierkliniken machen längere Schichten noch aus einem anderen Grund durchaus Sinn: Sie können so den Kontakt zwischen den Teams durch tageweise wechselnden Schichtdienst deutlich reduzieren. Und sie können den ohnehin schon schwierig aufrecht zu erhaltenden Notdienst leichter sicherstellen (siehe auch Kommentar am Artikelende).

BaT: Kein Freibrief

Für den Bund angestellter Tierärzte (BaT) ist die Ausnahmeverordnung „kein Freibrief“, Arbeitszeitregeln außer Kraft zu setzen. Der BaT weißt in einer Stellungnahme noch einmal auf die weiter geltenden Regeln des Arbeitszeitgesetzes hin:

  • Die Arbeitszeit müsse verpflichtend erfasst werden (mehr zur Dokumentationspflicht hier).
  • Mehrarbeit müsse zwingend ausgeglichen werden.
  • Zur Umsetzung der Ausnahmen brauche es eine vertragliche Regelung.
  • Die Ausnahmen seien an spezifische Voraussetzungen geknüpft und zeitlich begrenzt.

Der BaT fordert Arbeitgeber und Arbeitnehmer deshalb auf, in „Absprachen für beide Seiten vernünftige Lösungen zu finden.“

Details der Verordnung

Die Ausnahmen und die Voraussetzungen sind nachzulesen in der „COVID-19-Arbeitszeitverordnung“ und dem erläuternden Frage-und-Antwort-Katalog des Bundesarbeitsministeriums. Erlaubt sind (u.a.) folgende, für Tierarztpraxen relevante Abweichungen vom Arbeitszeitgesetz:

  • Die werktägliche Arbeitszeit kann auf bis zu zwölf Stunden verlängert werden – wenn sie nicht durch vorausschauende organisatorische Maßnahmen (Arbeitszeitdisposition, Einstellungen, sonstige personalwirtschaftliche Maßnahmen) vermieden werden kann.
  • Innerhalb von sechs Monaten muss ein Ausgleich auf acht Stunden werktäglich (max. 48 Stunden wöchentlich) erfolgen.
  • Die tägliche Ruhezeit darf um bis zu zwei Stunden (von 11) verkürzt werden. Eine Mindestruhezeit von neun Stunden darf nicht unterschritten werden.
  • Jede Verkürzung der Ruhezeit ist innerhalb von vier Wochen auszugleichen. Der Ausgleich ist nach Möglichkeit durch freie Tage zu gewähren, ansonsten durch Verlängerung anderer Ruhezeiten auf jeweils mindestens 13 Stunden.
  • Wird von den Abweichungen Gebrauch gemacht, darf die Arbeitszeit 60 Stunden wöchentlich nicht überschreiten.

Wie die Verordnung auszulegen ist, beantwortet eine FAQ-Liste des Ministeriums (PDF-Download).

Laufzeit und Ausnahmen der Bundesländer

Die bundesweite Ausnahme gilt zunächst bis zum 30. Juni 2020. Das Verordnungsende selbst ist aber erst auf den 31.7.2020 festgelegt. Das BMAS begründet das so: Hierdurch werde sichergestellt, dass der verpflichtende Ausgleich bei verkürzter Ruhezeit sowie bei Sonntagsarbeit innerhalb der Laufzeit der Verordnung erfolgt.
In den Bundesländern waren schon zuvor zum Teil eigene Verordnungen mit Arbeitszeitausnahmen erlassen worden. Diese gelten weiter. Aus dem Bundesarbeitsministerium heißt es dazu: Die Länder können über die neue Regelungen hinaus auch längere Arbeitszeiten zulassen. Außerdem dürfen die Länder auch von Regelungen des Arbeitszeitgesetzes abweichen, die nicht Gegenstand der aktuellen Bundesverordnung sind.

wir-sind-tierarzt.de kommentiert:
Corona-Krise lindert Notdienstkrise

(jh) – Jetzt macht Covid-19 – für begrenzte Zeit – möglich, was Tierarztverbände schon länger fordern: flexiblere tägliche Arbeitszeiten bei unveränderter maximaler Gesamtstundenzahl in der Woche.
Die aktuelle Corona-Krise hilft so womöglich, die schon länger bestehende Notdienstkrise in der Tiermedizin zu lindern. Denn was auf den ersten Blick nach zusätzlicher Belastung aussieht – längere Schichtzeiten – kann jetzt zum einen mehr Schutz bieten (Trennung der Teams). Zum anderen hilft es, Tiere nachts und am Wochenende besser zu versorgen.
Spannender Nebenffekt: In Absprache mit den Mitarbeitern können Praxen und Kliniken in den kommenden zehn Wochen bis zum Ende dieser Ausnahmegenehmigung am 30. Juni rechtskonform(!) zugleich Erfahrungen mit neuen Arbeitszeitmodellen sammeln.
Das ist eine Chance: Angestellte können prüfen, wie diese Arbeitszeiten in ihren Alltag passen. Arbeitgeber sehen, ob längere tägliche Arbeitszeiten tatsächlich die Nacht-/Notdienstplanung verbessern/sichern.
Die Ausnahmen sind zeitlich befristetet. Warum aber in der Tiermedizin auch danach unbedingt eine Debatte über flexiblere Arbeitszeiten geführt werden muss, hat schon dieser Kommentar deutlich gemacht:

„Warum keine vier-Tage-Woche?“

Die weiteren Vorgaben des Arbeitszeitgesetzes gelten unverändert – worauf Praxen dabei unbedingt achten müssen, steht hier:

Quellen:
COVID-19-Arbeitszeitverordnung“ des Bundesarbeitsministeriums (BAS – PDF-Download)
FAQ zur Verordnung des BAS (PDF-Download)
BAS-Webseite mit Hintergründen zur Verordnung

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Über den Autor

Jörg Held

Jörg Held (jh) ist Journalist, Kommunikationswirt und Redaktionsberater mit 30 Jahren Berufserfahrung. Seit 2007 auch im Bereich Tiermedizin unterwegs, davon 5 Jahre als Redaktionsleiter der VETimpulse. Auch bei wir-sind-tierarzt.de leitet er die Redaktion und ist schwerpunktmäßig für berufspolitische Themen und die Nachrichten verantwortlich. Kontakt: joerg.held(at)wir-sind-tierarzt.de
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