Corona-Krise: Tierarztpraxen dürfen öffnen

Inzwischen ist es offiziell: Tierarztpraxen und Tierkliniken dürfen trotz Ausgangsbeschränkungen weiter Patienten behandeln. Bund und Länder haben dies vereinbart. Was aber noch nicht abschliessend geklärt ist: Bedeutet „öffnen dürfen“, dass eine Praxis auch zur „Kritischen Infrastruktur“ gehört?

von Jörg Held

Hinweis: Dieser Artikel wird ergänzt, insbesondere wenn die Tierarztverbände eine offizielle Antwort auf ihren Brandbrief erhalten haben. Bisher (Stand: 24.3.2020 – 19:00) liegen uns nur mündliche Auskünfte, bzw. die Informationen aus den im Artikel verlinkten Quellen vor.
Inzwischen (27.3.2020) ist von der Buzndesregierung die Systemrelevanz offiziell bestätigt – Bericht hier.

Es mutete an wie ein föderaler Flickenteppich: Sind Tierärzte nun Ärzte oder Dienstleister? Gehören sie zur „Kritischen Infrastruktur“ (KRITIS)? Dürfen sie trotz Ausgangsbeschränkung oder gar Ausgangssperre geöffnet bleiben? Da eine bundesweit einheitliche Positionierung fehlte, haben die Tierarztverbände in einem „Brandbrief“ um Klärung gebeten (Bericht hier).

Bund-Länder-Einigung: Tierarztpraxen dürfen geöffnet bleiben

Inzwischen haben sich Bund und Länder auf eine Regelung geeinigt. Die Leitlinien zur Epidemie-Bekämpfung berücksichtigen auch tierärztliche Tätigkeiten. Das Bundesministerium für Landwirtschaft und Ernährung antwortet auf entspechende Medienanfragen:

„Von den zwischen Bund und Ländern aktuell vereinbarten Maßnahmen zur Reduzierung sozialer Kontakte wird die Versorgung von Tieren in menschlicher Obhut nicht berührt. Das heißt, tierärztliche Kliniken und Praxen dürfen grundsätzlich geöffnet bleiben.“

Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (23.3.2020)

Human- und Tiermedizin gleich bewerten

Wie immer, wenn etwas „grundsätzlich“ gilt, kann es – so wird das Wort im Juristendeutsch verwendet – auch Ausnahmen geben. So können hier nicht nur die Bundesländer, sondern auch Städte und Gemeinden theoretisch noch abweichende, strengere Vorgaben machen. Die Formulierung in vielen Länderverordnungen lautet aber:

>> Insbesondere sind weiterhin zulässig:
die Inanspruchnahme ambulanter oder stationärer medizinischer und veterinärmedizinischer Versorgungsleistungen (z. B. Arztbesuch, medizinische Behandlungen; Blutspenden sind ausdrücklich erlaubt) sowie der Besuch bei Angehörigen medizinischer Fachberufe, soweit dies medizinisch dringend erforderlich ist (z. B. Psycho- und Physiotherapie), … <<

Bsp. Niedersächsische Allgemeinverfügung v. 23.3.2020 (PDF) – Hervorhebung WiSiTiA

Wichtig für die Veterinärmedizin ist hier, dass sie in einem gemeinsamen Passus mit der Humanmedizin aufgeführt, also formal gleichgestellt ist.

Einige Bundesländer hatten in der Frage schon zuvor für Klarheit gesorgt, etwa Bayern. Dort gelten bereits seit dem 20.3.2020 strengere Ausgangsbeschränkungen. In der entsprechenden Allgemeinverfügung (PDF-Download) war die „Inanspruchnahme medizinischer und veterinärmedizinischer Versorgungsleistungen“ erstmals gleichgesetzt. Die bayerische Verfügung diente dann wohl auch als Blaupause für die bundesweite Einigung.
Auch Sachsen erwähnte die Tierärzte bereits früh in einer Anlage (PDF-Download), die die „Sektoren der Kritischen Infrastruktur“ auflistet – auch hier in einer Reihe mit der Humanmedizin (siehe auch Absatz „Systemrelevanz“ unten).
Aktuell (23.3.2020) hat auch Berlin „Tierärzte und -Pfleger/innen“ als „weiteres Personal der kritischen Infrastruktur“ aufgelistet.

Andere Bundesländer allerdings sind in der Kommunikation noch nicht so klar. So twittert die NRW-Staatskanzlei am 23. März dieses Bild mit relevanten Berufen: Tierbedarfsmärkte sind aufgelistet, Tierärzte nicht – wohl auch, weil es hier um „Handel“ geht?

Für Tierärzte ist die gesamte aktuelle NRW-Verordnung (PDF/Stand 22.3.2020) aber unübersichtlich: Sie regelt, was geschlossen bleiben muss oder z. B. geöffnet haben darf (u.a. siehe Tweet). Tierärzte sind hier weder bei den Verboten noch bei den Öffnungsausnahmen erwähnt – ebensowenig wie übrigens die Humanmediziner. Im Umkehrschluss könnte man also auch hier von einer Gleichsetzung ausgehen? Die Tierärztekammer Nordrhein sieht das so und schreibt auf ihrer Webseite: „Alle Praxen/Kliniken bleiben weiterhin geöffnet.“ (Stand 23.3.20).

Bedeutet „öffnen dürfen“ auch „systemrelevant sein“?

„Geöffnet haben“ dürfen bedeutet allerdings NICHT zugleich, dass Tierarztpraxen zwingend zur „Kritischen Infrastruktur“ gehören (oft auch mit „systemrelevant“ umschrieben). Hier steht eine offizielle, bundesweit einheitliche Regelung noch aus. Die Einstufung ist aber wichtig für den Zugang zur Kinderbetreuung. Tiermedizin ist ein weiblicher Beruf. Frauen sind in den Tierarztpraxen in der großen Mehrheit – ob als Tierärztinnen oder Tiermedizinische Fachangestellte (TFA). Sie sind besonders betroffen, wenn die Kinderbetreuung wegfällt.

wir-sind-tierarzt kommentiert:
Sind Tierärzte jetzt Arzt oder Dienstleister?

(jh) – Es mutet, vorsichtig formuliert, etwas befremdlich an, dass in den Anfängen der Corona-Krise Frisöre anders, nämlich als systemrelevanter, behandelt wurden als Tierärzte – wenn es um staatliche Auflagen oder Ausnnahmen ging.
Mehr als eine Woche hat es jetzt gedauert, in Abstimmung zwischen den Bundesministerien für Landwirtschaft und Gesundheit und den Bundesländern offiziell festzulegen, welche Rolle Tierarztpraxen in der öffentlichen Versorgung spielen.

Ein Problem dabei mögen die unterschiedlichen Ausrichtungen der tierärztlichen Praxen gewesen sein:

Die Notwendigkeit der medizinischen Versorgung von lebensmittelliefernden Nutztieren ist politisch unstrittig. Hier sind Tierärzte im Stall oder auch der Fleischbeschau unverzichtbarer Teil der Lebensmittel(sicherheits)kette von „stable to table“. Die ist als solche schon in sich „systemrelevant“. Dazu kommt die Tierseuchenbekämpfung.
Sichtbar wird das aktuell einmal mehr angesichts der in einem Putenbetrieb im Landkreis Aurich ausgebrochen, hochansteckenden Vogelgrippe. Oder dem Nachweis der Afrikanischen Schweinepest in einem polnischen Nutztierbetrieb nahe der deutsch-polnischen Grenze.

Schwieriger war es wohl bei den Haus- und Hobbytieren. Welche Rolle spielen da die unterschiedlichsten Praxisstrukturen und auch Geschäftsmodelle mit Spezialisierungen/Reduzierungen der tierärztlichen Tätigkeit? Nicht zuletzt, wenn manche Praxis, die eigene Systemrelevanz durchaus in Frage stellt, wenn sie sich mit kreativen Begründungen aus der Notdienstversorgung verabschiedet? Wie lässt sich so etwas in einer „Allgemeinverfügung“ abbilden? Wie schwer wiegt demgegenüber der im Grundgesetz verankerte Tierschutz?

Eine Lehre aus der Corona-Krise sollte also für die Tierärzteschaft sein, noch einmal klar zu formulieren und auch durch Tun deutlich zu machen: Wo stehen wir? Wo sehen wir die Zukunft des gesamten(!) Berufsstandes.

Ein öffentlicher Gradmesser wird da sicher die flächendeckende Notdienstversorgung sein – gerade in der Corona-Krise pochen die Länder jetzt darauf!
Systemrelevant sein wollen, aber sich nicht an der Notdienstsicherung beteiligen? Das dürfte erhebliche Verstimmung auslösen.

Hinweis: Auch andere Länder tun sich aktuell nicht leicht mit der Einordnung der Tiermedizin als systemrelvanter Bereich – Artikel folgt

Quellen: direkt im Artikel verlinkt

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Über den Autor

Jörg Held

Jörg Held (jh) ist Journalist, Kommunikationswirt und Redaktionsberater mit 30 Jahren Berufserfahrung. Seit 2007 auch im Bereich Tiermedizin unterwegs, davon 5 Jahre als Redaktionsleiter der VETimpulse. Auch bei wir-sind-tierarzt.de leitet er die Redaktion und ist schwerpunktmäßig für berufspolitische Themen und die Nachrichten verantwortlich. Kontakt: joerg.held(at)wir-sind-tierarzt.de
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