Tiergerechtheit und Tiergesundheit – ein Widerspruch?

Rangordnungskampf bei Weidehaltung (Foto:©WiSiTiA/aw)

Landwirtschaftliche Nutztierhaltung befindet sich derzeit in einem Dilemma: Das Ausleben von natürlichem Verhalten, wie es von einer zunehmenden Zahl an Interessengruppen gefordert wird, lässt sich nicht unbedingt mit einer guten Versorgung der Tiere vereinbaren. In einer gerade erschienenen Veröffentlichung beschäftigt sich ein Team der University of British Columbia um Marina von Keyserlingk mit verschiedenen Aspekten moderner Milchviehhaltung und deren Tiergerechtheit.

(aw) – Dabei überprüfen die Autoren zunächst den Begriff „natürliches Verhalten“. Der Begriff „Natürlichkeit“ stelle schon deswegen ein Problem dar, weil er von verschiedenen Gruppen (z.B. Tierärzten, Verhaltensforscher oder Philosophen) zum Teil recht gegensätzlich definiert wird. Es sei ein gängiges Missverständnis zu meinen, dass „natürliches Leben“ automatisch besser für die Tiere sei und positive Emotionen stimuliere. Ein „natürliches Leben“ würde nämlich auch bedeuten, dass Kühe nicht vor Raubtieren oder extremen Wetterbedingungen geschützt wären, was sich wiederum nicht mit dem Verständnis guter Tierhaltung decken würde. Die Möglichkeit, das gesamte Verhaltensrepertoire auszuleben – also auch: vor Wildtieren zu fliehen oder extremen Wetterbedingungen zu trotzen, sei keine Voraussetzung für eine gute Haltung. Wichtig so die US-Autoren sei lediglich: Die Kühe müssen ein der jeweiligen Situation angemessenes Verhalten ausleben können.

Domestizierte Tiere haben andere Bedürfnisse als wildlebende

Nutztieren wie Milchkühe profitierten durchaus von einem breitgefächerten Repertoire an natürlichen Verhaltensweisen, die sowohl positive Kurzzeit- und Langzeitfolgen für die Gesundheit der Tiere haben können. Zunächst müssten daher die Verhaltensmuster identifiziert werden, die für die Kühe wichtig seien, damit im Anschluss daran das Haltungssystem entsprechend angepasst werden könne. Dabei müsse auch beachtet werden, dass sich moderne Nutztiere durch die über Generationen betriebene Zucht im Bezug auf ihre Bedürfnisse von wild gebliebenen Arten unterscheiden. Allerdings herrsche auch über die Rolle des Menschen im System keine Einigkeit. Einige Interessengruppen seien der Ansicht, dass der Kontakt zu Menschen auf ein Minimum beschränkt werden sollte, um ein natürliches Umfeld zu schaffen. Dagegen ist der schwedische Philosoph Pär Segedahl der Meinung, dass bei domestizierten Tieren der Mensch zum natürlichen Umfeld gehöre.

Generell sei es nötig, zwischen „natürlichem Leben“ und „natürlichem Verhalten“ zu unterscheiden, wobei Ersteres nicht Voraussetzung für Letzteres ist.

Einzeltierbetreuung oder Ausleben von Verhalten?

In der intensiv betriebenen Milchviehhaltung ist das Ausleben natürlichen Verhaltens zum Teil problematisch. Noch immer werden viele Kühe in Anbindehaltung gehalten; laut Keyserlingk arbeiten in den USA rund 39 Prozent und in Kanada sogar noch 74 Prozent der Milchviehbetriebe mit dieser Haltungsform.
Die Anbindehaltung hat auch Vorteile für die Tiere: individuelle Fütterung, keine Rangkämpfe um Futter, Wasser oder Liegeflächen und eine gute Tierbeobachtung. Andererseits können die Tiere nicht mit anderen aus der Gruppe interagieren. Die Anbindehaltung bietet ein Maximum an Einzeltierbetreuung zu Lasten natürlicher Verhaltensmöglichkeiten.
Die Tiergesundheit in Laufställen schneide in der Regel schlechter ab als in Anbindeställen, doch die Möglichkeit zum Ausleben kuhtypischen Verhaltens sei umfänglicher möglich. Zum typischen Verhalten gehörten aber auch Rangkämpfe und andere Formen von Aggression, denen Kühe in Anbindehaltung nicht ausgesetzt seien.
Daher könne aufgrund einer alleinigen Erfassung von Gesundheitsmerkmalen (inklusive Blutuntersuchungen) kein Vorteil der Laufstallhaltung ausgemacht werden. Die Bewertung der Lebensqualität oder von Präferenzen seitens der Rinder sei schwierig zu messen, am ehesten seien Motivationstests (das Tier muss eine Aufgabe erledigen, bevor es das Verhalten – z.B. Fellpflege an der Putzbürste – ausleben kann) geeignet, um abzuwägen, was Tieren wichtig sei.

Stallgestaltung wichtig für Ausleben von Verhalten

Liegekomfort auf der Weide – Klauen haben Möglichkeit rundherum abzutrocknen (Foto:©WiSiTiA/aw)

Bodenbeschaffenheit und Stalldesign spielen eine wichtige Rolle, damit Kühe ihre Verhaltensmuster ausleben können. Hohe Bewegungsaktivität während der Brunst etwa vertrage sich nicht mit harten Böden (Beton), daher sei unbedingt Wert auf weiche, rutschfeste Böden zu legen. Kühe die Weidegang haben oder auf Kompost oder natürlichem Boden (dirt surfaces = nur in Regionen mit wenig Niederschlag möglich) gehalten werden, zeigen ein deutlich ausgeprägteres Brunstverhalten als Kühe auf Betonböden. Die Beschaffenheit der Liegeboxen wiederum sei maßgeblich für natürliches Liegeverhalten. Geräumige Boxen ohne Restriktionen (Nackenriegel) und mit sauberer, trockener Einstreu führen in nicht überbelegten Ställen zu längeren Liegezeiten.
Dabei seien Liegezeiten allerdings nicht immer ein Zeichen für höheren Komfort, sondern können auch ein Hinweis auf Lahmheiten sein. Tiere, die sich nur unter Schmerzen bewegen können, liegen ebenfalls überdurchschnittlich viel. Auch Kühe auf der Weide verbringen deutlich weniger Zeit liegend. Das könnte mit einem besseren Stehkomfort zu tun haben. Oder aber mit größeren Aufwand bei der Futteraufnahme, da Gras eine geringere Energiedichte hat als eine speziell zubereitete Mischration.

Platz oft limitierender Faktor für Tiergerechtigkeit

Problematisch in Laufställen ist auch das Platzangebot, das niemals das Niveau erreichen kann, das auf der Weide oder in der Natur geboten wird. Daher kann es sein, dass die Tiere trotz Bewegungsmöglichkeit aufgrund der beengten Verhältnisse aggressiv und gestresst sind, vor allem wenn zusätzlich eine Überbelegung der Ställe stattfindet. Gehäuftes gegenseitiges Belecken etwa gilt als Versuch, sozialen Stress abzubauen und nicht als Sympathiebekundung. Wildwiederkäuer leben normalerweise in übersichtlichen (etwa 20 Tiere) stabilen Gruppen. Die ständigen Umgruppierungen in der modernen Laufstallhaltung entsprechen ebenfalls nicht den natürlichen Bedürfnissen der Rinder und verursachen daher nach Ansicht der Autoren unnatürlichen Stress.

Ein großer Vorteil der Stallhaltung gegenüber der Weidehaltung liegt in der bedarfsgerechten Fütterung, die sich eng an der Leistung der Kühe orientiert und eine bessere Energieversorgung gewährleistet. Rationen, die nicht genügend Raufutter enthalten, können allerdings zu Defiziten führen, die nicht nur die Gesundheit, sondern auch das Verhalten negativ beeinflussen. Zungenrollen etwa sei ein Ausdruck von zu kurzen Wiederkauzeiten durch konzentriertes Futter und werde bei Weidehaltung so gut wie nie beobachtet.

Trennung von Kuh und Kalb

Auch die Kälberhaltung in Einzeliglus will die EU-Bürgerinitiative „End the Cage Age“ beenden. (Foto: © WiSiTiA/jh)

Die Trennung von Kuh und Kalb in der Milchviehhaltung stellt vor allem für Laien ein Problem dar. Diese würden eine muttergebundene Aufzucht vorziehen, weil ihnen der Gedanke widerstrebt, ein neugeborenes Tier von seiner Mutter zu trennen. Diese Trennung erfolgt in der modernen Milchviehhaltung aus verschiedenen Gründen, so spielt etwa die Gesundheitskontrolle der Neugeborenen eine Rolle, aber auch die Vermeidung des Trennungsschmerzes, wenn die Kälber vor dem Absetzten mehrere Wochen mit ihren Müttern zusammen bleiben dürfen. Kälber die bei ihrer Mutter trinken können, zeigen weniger Verhaltensauffälligkeiten wie etwa das Besaugen von Gegenständen oder anderen Kälbern. Außerdem lernen sie von ihrer Mutter verschiedenste Formen von Sozialverhalten und reagieren neugieriger auf ihre Umwelt. Langzeitstudien zeigen aber keine reproduzierbaren Unterschiede im Verhalten der Kälber im späteren Leben.

Drenchen nur im Notfall

Überhaupt nicht einverstanden sind die Autoren damit, den neugeborenen Kälbern einfach mehrere Liter Kolostrum per Sonde einzugeben. Diese Praxis sei zwar zeitsparend für das Personal, aber nur angebracht bei Kälbern, die innerhalb der ersten Lebensstunden keinen ausreichenden Saugreflex zeigen. Während in den USA rund 24 Prozent aller Kälber per Sonde mit Biestmilch versorgt werden, begrüßen es die Autoren ausdrücklich, dass dieses Verfahren in vielen europäischen Ländern verboten ist, da es nicht dem natürlichen Saugbedürfnis der Kälber gerecht werde.

Auch die Einzelhaltung älterer Kälber sehen die Autoren kritisch. In den ersten Lebenstagen sei die Einzelhaltung noch mit natürlichem Verhalten vereinbar, da Kühe ihre Kälber häufig einige Tage von der Herde fern halten, doch spätestens ab dem fünften Lebenstag werden die Kälber in die Herde integriert. Nach Auffassung der Autoren sollten Kälber daher nicht bis zum Absetzen in Einzelboxen gehalten werden, sondern frühzeitig Kontakt mit anderen Kälbern bekommen, um Sozialverhalten spielerisch zu erlernen. Außerdem reagieren Kälber, die früh in Gruppen gehalten werden, gelassener auf das Absetzen oder spätere Umgruppierungen.

Tränke- und Absetzregime überdenken

Ein weiterer Kritikpunkt der Autoren an der modernen Kälberaufzucht ist die restriktive Fütterung der Tiere sowie die Fütterung direkt aus dem Eimer. Kälber, die Milch zur freien Aufnahme zur Verfügung gestellt bekommen oder bei ihrer Mutter trinken, nehmen fast doppelt so viel Milch zu sich (89 Prozent), als sie bei restriktiver Fütterung zugeteilt bekommen. Wenn die Milch aus Nuckeln angeboten wird, ist die Tränkeaufnahme physiologischer und die Tränkemenge wird langsamer aufgenommen. Kälber, die in Gruppen gehalten werden und restriktiv gefüttert werden, zeigen ein ausgeprägteres Konkurrenzverhalten und verbringen mehr Zeit stehend, in Erwartung der nächsten Mahlzeit. Im Anschluss an die Milchaufnahme verbringen diese restriktiv gefütterten Kälber eine längere Zeit damit, an dem Nuckel zu saugen, obwohl keine Milch mehr kommt. Dieses Verhalten wird als Ausdruck von Frustration oder Hunger gewertet. Kälber, die ad libitum per Nuckel versorgt werden, zeigen selten unerwünschte Verhaltensmuster wie etwa gegenseitiges Besaugen von Ohren oder Nabel. Die Autoren von der University of British Columbia untersuchen gerade die Haltung von zwei Kälbern pro Stall ab dem dritten Lebenstag. Bei dieser Haltungsform ist das gegenseitige Besaugen im Anschluss an die Fütterung möglich; die ad libitum Tränke scheint gegenseitiges Besaugen zu vermeiden.

Neben der klassischen Kälberfütterung entspricht auch das traditionelle Absetzen der Kälber von der Tränke nicht dem Vorbild der Natur. Kälber, die bei ihrer Mutter trinken können (Mutterkuhhaltung) fangen bereits mit drei Wochen an, Gras aufzunehmen und wiederzukäuen. Nebenher trinken sie noch etwa bis zu einem Alter von zehn Monaten gelegentlich bei ihrer Mutter. Die Umstellungsphase von Milch auf feste Nahrung geschieht also deutlich langsamer als in der modernen Rinderhaltung, wo das Absetzen innerhalb weniger Tage vorgenommen wird.

Neue Studien scheinen darüber hinaus zu belegen, dass es sinnvoll ist, Kälbern schon während der Milchfütterung nicht nur Kraftfutter („Kälberstarter“) zu geben sondern auch Silage. Dadurch werde die Reifung der Pansenbakterien begünstigt und die Futterumstellung besser verkraftet. Die Autoren sind der Ansicht, dass das Absetzen deutlich langsamer und später erfolgen sollte als bisher empfohlen, um Stress, Hunger und Frustration zu senken. Außerdem habe es sich als sinnvoll erwiesen, ältere Kälber in Gruppen mit Absetzern zu bringen, damit die jüngeren Tiere sich deren Verhalten abschauen können. Diese Maßnahme scheint zu helfen, den Stress durch den Milchentzug zu mildern.

Tierleben besteht nicht nur aus Vitalfunktionen

Die Autoren fassen zusammen, dass Tierbesitzern in der Regel die Gesundheit ihrer Tiere sowie deren biologische Funktionen besonders wichtig sind. Daher greifen sie zu Maßnahmen wie Anbindehaltung von Kühen, Einzelhaltung von Kälbern oder Kolostrumgabe mittels Schlundsonde, um eine entsprechende Versorgung sicher zu stellen. Dabei verlieren sie aus den Augen, dass Tierleben nicht nur aus Vitalfunktionen besteht, sondern die Tiere ein weites Spektrum natürlichen Verhaltens ausleben, wenn sie dazu in der Lage sind. Nach Ansicht der Autoren ist eine gute Einzeltierbetreuung auch in Haltungssystemen möglich, die Gelegenheit zu Freilauf und natürlichem Verhalten geben.

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Über den Autor

Annegret Wagner

Dr. Annegret Wagner (aw) hat in Gießen Tiermedizin studiert und arbeitet seit 1991 in der Großtierpraxis; seit 2005 niedergelassen in eigener Praxis mit Schwerpunkt Milchrind im Raum Rosenheim. Seit 2006 arbeitet sie auch als tiermedizinische Fachjournalistin. So hat sie für die VETimpulse die Nutztierthemen betreut und übernimmt diese Aufgabe auch bei wir-sind-tierarzt.de. Um nicht zum Mia-san-mia-Bayer zu mutieren, schaut sie intensiv über den Alpenrand hinaus, vorzugsweise ins englischsprachige Ausland. Kontakt: annegret.wagner(at)wir-sind-tierarzt.de
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