Bei der Ferkelkastration liegen die Nerven blank. Der Bayerische Bauernverband sieht die Tierarztverbände als Blockierer des „4. Weges“, der den Landwirten Lokalanästhesie und Kastration erlauben soll. Die Tierärzte fühlen sich unter Druck gesetzt, eine nicht rechtskonforme Methode zu befürworten. Die Politik sondiert derweil eine Terminverschiebung. Eskaliert der Streit um das Ende der betäubungslosen Ferkelkastration?
von Jörg Held
Es scheint eine harmlose Umfrage: Bayerns Bauernverbandspräsident Walter Heidl will von Ferkelerzeugern und Hoftierärzten wissen, wer den „4. Weg“ bei der Ferkelkastration befürworte – die Kastration und örtliche Betäubung durch den Landwirt? Im Begleitschreiben aber greift Heidl die Tierarztverbände gleich mehrfach an:
Die Bayerische Landestierärztekammer (BLTK) und der Bundesverband der praktizierenden Tierärzte (bpt) hätten im April nach einem wissenschaftlichen Fachgespräch ein Positionspapier zur Notwendigkeit des ‚4. Weges‘ nicht unterzeichnet, „obwohl seitens der Wissenschaft (Veterinär- und Humanbereich) die Wirksamkeit fachlich klar bestätigt wurde.“
wir-sind-tierarzt-Bericht zum Papier und den Konsequenzen hier
Außerdem formuliert Heidl:
„Gerade die unterschiedliche Bewertung durch die Tierärzte bzw. deren Organisationen ist in der öffentlichen und politischen Diskussion problematisch. Denn neben der Ablehnung durch die Organisationen – aus welchen Gründen auch immer – gibt es viel Unterstützung seitens der praktischen Tierärzte, die die Bestände der Landwirte betreuen. So haben z.B. in Niedersachsen mehrere Organisationen und 80 Tierarztpraxen, die zusammen 300.000 Zuchtsauen in Betreuung haben, in einem Unterstützungsschreiben an das BMEL die Lokalanästhesie und die postoperative Schmerzlinderung als eine Möglichkeit bezeichnet „Tierschutz und Praktikabilität am effektivsten zu verbinden“. Gleichermaßen haben sich die Tierärztekammern Nordrhein und Westfalen-Lippe bereits im Juli 2017 für den 4. Weg ausgesprochen.“
Eine Rückmeldung sei für die politische Diskussion von höchster Bedeutung.
BTK kontert: „Nicht unter Druck setzen lassen“
Die Bundestierärztekammer (BTK) antwortet mit einer Presseerklärung: „Tierärzte sollten sich von Verbänden nicht unter Druck setzen lassen.“ BTK-Präsident Dr. Uwe Tiedemann bestätigt darin klar die Ablehnung „4. Weges“ als Verfahren, „dass eindeutig nicht die Vorgaben des Tierschutzgesetzes“ erfülle. Injektionen in Richtung der Samenstränge könnten oft nicht präzise platziert werden – „schon gar nicht, wenn sie durch Laien im Akkord vorgenommen werden“. Auch existiere derzeit kein Arzneimittel, das den Anforderungen einer lokalen Anästhesie genügt.
Teil 2: Die Position der BTK – Wortlaut hier
Auch die Bayerische Landestierärztekammer und der bpt-Bayern schreiben an ihre Mitglieder, dass zum „ 4. Weg“ bislang keine wissenschaftlichen und fundierten Erkenntnisse vorliegen, die eine rechtskonforme Umsetzung mit Anwendung in der Praxis ermöglichen.
Für den Bundesverband der praktizierenden Tierärzte (bpt) betonte Präsident Dr. Siegfried Moder, sein Verband schließe keinen Weg aus. Allerdings müsse er rechtskonform sein. Das sei der „4. Weg“ aktuell nicht.
Die Tierärztliche Vereinigung für Tierschutz lehnt die Kastration unter Lokalanästhesie durch die Halter („4. Weg“) vehement ab und fordert stattdessen die Impfung gegen den Ebergeruch – die Immunokastration. Sie kann nicht nachvollziehen, warum der Verbraucher tierfreundlicher produziertes Schweinefleisch ablehnen sollte?
Teil 3: Die Position der TVT – Wortlaut hier
Die Angst der Bauern vor dem Exodus der Ferkelerzeugung
Die Ferkelerzeuger aber fürchten ein wirtschaftliches Desaster, wenn das Verbot der betäubungslosen Ferkelkastration zum Jahreswechsel 2018/2019 nur mit den bestehenden Alternativen in Kraft tritt. Die seien entweder zu teuer und zu aufwändig (Isofluran- und Injektionsvollnarkose durch den Tierarzt), von Schlachthöfen und Handel nicht oder nur begrenzt akzeptiert (Ebermast/Immunokastration – Fleisch dieser Tiere könne nur begrenzt verarbeitet werden) und/oder vom Verbraucher abgelehnt (Immunokastration).
Vor allem kleinere Ferkelerzeuger seien mit den deutschen Vorgaben im europäischen Wettbewerb nicht mehr konkurrenzfähig; es drohe ein dramatischer Strukturwechsel.
Schon jetzt werde mehr als 10 Millionen Ferkel importiert, über die Hälfte aus Dänemark mit deutlich steigender Tendenz. In Dänemark dürfe der Landwirt bereits selbst unter lokaler Betäubung kastrieren (Procain). Ab 01.01.2019 sei dies dort verpflichtend vorgeschrieben.
Entwicklung verschlafen?
Allerdings hatten sich Bauernverband, Fleischwirtschaft und Handel in der Düsseldorfer Erklärung 2008 sogar das Ziel gesetzt (Wortlaut), „unter Ausschluss jeglicher Risiken für die Verbraucher und die Tiere auf die Kastration gänzlich zu verzichten“ – und die erforderlichen Verfahren „gemeinsam zu entwickeln und zu finanzieren“.
Zehn Jahre später kämpft man jetzt vehement für eine mehrjährige Übergangsfrist, die zunächst die betäubungslose Kastration weiter erlauben würde. An deren Ende soll dann ein Lokalanästhetikum zugelassen sein, dass die Nutztierhalter anwenden dürfen – denn nur dann macht ein Übergangsfrist überhaupt Sinn. Die Ferkelkastration wird also festgeschrieben. Die laufenden Studien über die Wirksamkeit der Medikamente – die man auch für eine Zulassung nutzen könnte – fördert aktuell der Bund.
Wie Durchsetzungsstark ist QS?
Der Verweis auf die Bedrohung durch Ferkelimporte aus Dänemark oder Holland wirft eine weitere Frage auf:
Die Vermarktung von Schweinefleisch erfolgt in Deutschland ganz überwiegend nach den Vorgaben des wirtschaftseigenen Qualitätssicherungssystems QS. Dessen Geschäftsführer Hermann Nienhoff stellte noch im April klar (Quelle hier):
„Für Lieferanten ins QS-System wird der Grundsatz der Gleichbehandlung gelten. Das heißt: Auch Sauenhalter im Ausland, die ihre Tiere an Schweinemäster im QS-System liefern, müssen ab 2019 die Anforderungen des deutschen Tierschutzgesetzes erfüllen. Außerdem dürfen im QS-System Schweinefleisch und Schlachtschweine auch aus dem Ausland nur dann vermarktet werden, wenn auch die Ferkel, die ab 2019 geboren werden und chirurgisch kastriert werden, nach den Anforderungen des deutschen Tierschutzgesetzes behandelt wurden.“
Die Kastration mit Lokalanästhesie durch den Landwirt erfüllt aktuell nicht die Vorgaben des Tierschutzgesetzes – zuletzt von der Bundesregierung in einer Antwort zum Stand der Ferkelkastration bestätigt (Bundestagsdrucksache Mai 2018 / Antwort zu den Fragen 13-15). Bleibt die Frage, ob und wie QS dies kontrollieren und durchsetzen kann?
Stichtag 1.1.2019: Politik diskutiert Übergangsfrist
Die Diskussion beschäftigt auch die Politik. Bundeslandwirtschaftsministerin Julia Klöckner wolle – so berichtet top-agrar – für diese Woche (KW 27) Sauenhalter an einen „Runden Tisch“ zu holen, um pragmatische Lösungen bei den Themen Kastenstand und Kastration zu diskutieren. Nach wir-sind-tierarzt-Kenntnis sind Tierarztverbände bislang dazu nicht eingeladen.
Politisch diskutiert wird auch eine Verschiebung des Verbotstermins 1.1.2019 der betäubungslosen Ferkelkastration. Eine „Übergangsfrist“ würden Bayern (CSU) und auch Mecklenburg-Vorpommern (SPD) über den Bundesrat beantragen wollen, heißt es. Niedersachsens Landwirtschaftsministerin (CDU) befürworte die Fristverlängerung; NRW (CDU/FDP) habe sich dagegen positioniert.
Auch die SPD-Bundestagsfraktion habe sich gegen den „4. Weg“ ausgesprochen, berichten Medien unter Berufung auf deren tierschutzpolitische Sprecherin Susanne Mittag (hier oder hier).
Politisch ist die Lage also weiter nicht abschliessend geklärt.
wir-sind-tierarzt kommentiert:
Druck auf die Falschen
(jh) – Die Not der Bauern scheint groß, wenn Sie beim gesellschaftlich emotional aufgeladenen tiermedizinischen Thema Ferkelkastration den Konflikt mit den Tierarztverbänden suchen. Die empfinden das Vorgehen aus Bayern allerdings als Affront.
Die Tierarztpositionen sind klar: Sie können nicht politisch befürworten, was rechtlich nicht erlaubt ist. Es gibt und wird bis zum 1.1.2019 in Deutschland kein für die Ferkelkastration zugelassenes Lokalanästhetikum geben, das Landwirte anwenden dürfen. Ergo ist der „4. Weg“ aktuell mehr Wunsch und Ablenkung als realisierbar.
Wenn die noch laufenden Studien das strittige Thema „Schmerzausschaltung“ bei der Lokalanästhesie klären und(!) ein entsprechender Wirkstoff zugelassen ist, dann werden auch die Verbände den medizinischen Aspekt neu bewerten.
Es bleibt die Grundsatzfrage: Sollen Anästhetika an Laien abgegeben und von diesen eingesetzt werden dürfen? Dass die Tierärzte dies ablehnen, kann nicht verwundern. Es wäre ein Präzedenzfall. „Jede Anästhesie – das gilt auch für die lokale Betäubung – ist eine anspruchsvolle und risikobehaftete tierärztliche Tätigkeit,“ betont die Bundestierärztekammer.
Im Fall der Ferkelkastration hat die Forderung zur Freigabe außerdem ausdrücklich ökonomische Gründe. Die ganz große Mehrheit der deutschen Tierärzteschaft dürfte dagegen sein.
Die Entscheidung darüber, ob Lokalanästhetika durch Tierhalter eingesetzt werden dürfen oder nicht, trifft letztlich aber nicht die Tierärzteschaft, sondern der Gesetzgeber. Er könnte dies im Fall der Ferkelkastration sogar per einfacher Verordnung erlauben. Die Politik muss also entscheiden, ob sie im Umfeld der aktuellen gesellschaftlichen Tierschutz/Tierwohldebatte diesen Weg gehen will.
Ein Übersicht aller Artikel auf wir-sind-tierarzt.de zum Thema „Ferkelkastration“ finden Sie hier