Insektensterben: Verkaufspreise von 470 Euro je Kilo Protein bedrohen wildlebende Bestände

Astronomische Renditen – die Marktpreise für Insektensnacks könnten eine Goldgräberstimmung und damit einen Run auf die Wälder auslösen. (Foto: Snack-Insects.com)

Was die pestizidgetriebene Landwirtschaft bisher nicht geschafft hat, könnte der Markt vollenden: Bei Verkaufspreisen von rund 450.- Euro je Kilo Insektenprotein-Snack in Sushi-Anmutung droht den heimischen Insektenpopulationen ein Armageddon. Städter entdecken ethische korrekte Ernährung und lukrativen Nebenerwerb zugleich.

(jh) – Einige Schuldige am Insektensterben stehen schon fest: Die industrielle Landwirtschaft mit ihren Monokulturen und dem hemmungslosen Pestizideinsatz; die Ballungsräume mit ihrer Lichtverschmutzung, die Insekten zu Milliarden erschöpft an künstlichen Lichtquellen vereenden lässt und auch der Autoverkehr, der besonders in den Abendstunden die harmlose Tierwelt per Kühlergrill wie mit einem Kescher abfischt.
Jetzt könnte aber ein neuer Trend den Insekten endgültig den Rest geben: Urban-Protein-Farming, die Proteingewinnung auf Insektenbasis auf Balkon oder Dachboden. Den Rohstoff dafür kann man einfach selbst fangen – und gewinnbringend weiterverkaufen.

„Insektenfarm“ aus dem Baumarkt

Ob Lifestyle-Anbieter wie Manufactum, Baumärkte wie Obi oder Bauhaus und selbst Lidl – sie alle haben bereits Basis-Farm-Startersets zur heimischen Proteingewinnung im Angebot (siehe Foto). Der Reiz: Die Investitionskosten sind mit unter 100 Euro meist sehr gering. Außer der Anschaffung einer „Farm“ für Balkon, Keller oder Garage fallen praktisch keine Folgekosten kann. Die Palette reicht vom Selbstbausatz für wenige Euro bis zum beliebig skalierbaren, zirka ein Quadratmeter großen Profi-Element (rd. 125 Euro). Den Rohstoff „Insekten“ kann man im Wald sammeln oder auch fast überall einfach fangen.
Mit den Grundzügen der Insektenjagd  ist jeder bereits vertraut. Die nötigste Grundausstattung vom Fliegengitternetz über Licht- oder Duftstoff-Fallen bis zur stromgeladenen Fliegenklatsche ist in fast jedem Haushalt vorhanden. Professionellere Fallen bietet der Zubehörhandel in breiter Auswahl (siehe weiter unten).

Vom Trendshop Manufactum über den Baumarkt bis zum Lidl: Insekten-Farmen für Balkon und Garten – ob als Bausatz oder geschmackvolles Designelement – haben inzwischen zahllose Händler im Angebot. (Händlerfotos / Montage: WiSiTiA)

„Rohstoff“ selbst im Wald ernten

Beim Pilze sammeln haben viele Städter bereits erste Erfahrungen gemacht, wie leicht es ist, in öffentlichen Grünanlagen und Wäldern Rohstoffe zu ernten. Mit modernen, teils solarbetriebenen Fallen, entfällt sogar das mühsame Bücken. Mit acht bis zehn Fallen, um den Ort eines Wildpicknicks platziert, lässt sich der Rohstoffbedarf für eine kleine „urbane Zucht-Farm“ quasi nebenbei einfangen.
Zu erwarten ist deshalb, dass die Wälder und Auen rund um die Großstädte künftig nicht allein von Gassigehern, Mountainbikern und Pilzsuchern bevölkert werden, sondern auch Insektensammler verstärkt auftreten.

Insektenpopulationen droht der Zusammenbruch

Insektenforscher befürchten deshalb allerdings katastrophale Nebenwirkungen. Sie warnen: „Die Stadtmenschen werden auch vor Junginsekten nicht halt machen und bar jeder Sachkenntnis alles wegsammeln, was sie finden können.“ So fürchtet etwa Michael Sorgfoll, Vorsitzender des Entomologischen Vereins Krefeld, dass die Insektenpopulation im Kölner Stadt- oder Berliner Grunewald komplett zusammenbrechen wird. Der Englische Garten in München sei bereits Engerling-frei. Sorgfoll sieht perspektivisch sogar alle Insektenbestände in Elektorfahrradreichweite um die Ballungszentren vor dem Aus.
Die Krefelder Entomologen haben selbst über Jahrzehnte eine erkleckliche Zahl von Insektenfallen betrieben – allerdings in kleinem Stil und zu streng wissenschaftlichen Zwecken. Aber auch dort brach die Population im unmittelbaren Umfeld der Fallen praktisch total zusammen.

Astronomische Renditen – die Marktpreise für Insektensnacks könnten eine Goldgräberstimmung und damit einen Run auf die Wälder auslösen. (Foto: Snack-Insects.com)

Kilopreise von 470 Euro möglich

Sorgfolls Sorge ist nicht unbegründet: Ähnlich wie beim „Hanf-Anbau für den Hausgebrauch“ haben Insektenschützer bereits erste „Farmen“ in Hinterhöfen des Prenzlauer Bergs oder Köln Ehrenfeld identifiziert. Unter zum Teil zwielichtigen Bedingungen werden Millionen von Insektenlarven in überheizten Garagen ausgebrütet. Diese Farmen brauchen Nachschub.
Das Endprodukt lässt sich nämlich auf einschlägigen Bio-Wochenmärkten als „Protein aus der Region“ mit extrem hohen Gewinnmargen verkaufen: Kilopreise von 470.- Euro für servierfertig portionierte Packungen in Sushi-Anmutung lassen sich problemlos erzielen (siehe Foto/Link).

Casa-Fan-Insektenturbine: Diese Falle lockt mit Licht und saugt die Insekten dann an.

Angesichts solcher Margen macht sich bei Early-Adoptern eine Art Goldgräberstimmung breit. Auch der Zubehörhandel boomt bereits. Noch sind etwa hocheffektive „Petromax-Fanglampen“ für nächtliche Insektenjagdaktionen frei verkäuflich. Inzwischen ist von halbautomatischen Fangturbinen bis zu solarbetriebenen All-in-one-Fang-Fertigröstanlage für den semigewerblichen Betrieb im Internet bereits alles zu bekommen (Fotos rechts u. unten). Selbst Anleitungen und skalierbare Bausätze für professionelle Malaisefallen (Foto am Artikelende) – denen die Krefelder Insektenforscher zu medialer Berühmtheit verhalfen – kann man online problemlos bestellen.

Der Todesstoß für die deutsche Insektenpopulation?

Welche Auswirkungen der neue Trend auf die freilebenden Insektenpopulationen gerade im Einzugsbereich der großstädtischen Ballungsräume haben wird, ist kaum abzuschätzen.
Auf wir-sind-tierarzt-Nachfrage waren allerdings weder der BUND, noch der NABU oder auch Greenpeace zu einer Stellungnahme bereit. Der NABU hat zwar zum Pilzesammeln einen Leitfaden veröffentlicht. Ob man analog auch Hinweise zum Insektenjagen geben werde, ließ ein Sprecher offen.

Im Wendtland haben dagegen die Ortsverbände der Grünen und der AfD bereits gemeinsam(!) eine App programmiert, über die man den Standort „wilder Insektenfallen“ oder auch den von „Farmen“ mit Geodaten markieren und Fotos von tierquälerischen Proteinjägern hochladen kann. Sie wollen so dem Vorsorgeprinzip folgend, frühzeitig für „die Problematik sensibilisieren“, distanzieren sich aber vorsorglich bereits ausdrücklich davon, sollten derart gekennzeichnete Standorte von Insektenrechtlern zerstört oder angezündet werden. Das habe man keineswegs beabsichtigt.

Solarbetriebene vollautomatische Insektenfalle für den semigewerblichen (Grill)Betrieb: Die Insekten werden angelockt und zugleich geröstet.

wir-sind-tierarzt kommentiert:
Gute Nacht Heuschrecke & Co

(jh) – Kein Wunder, dass sich BUND, NABU, WWF oder Greenpeace zur neuen Insektensammelleidenschaft der Stadtbevölkerung noch nicht äußern wollen. Ist es doch diesmal ihr Spendenklientel, das auf der Suche nach Alternativen zur Massentierhaltung mit großem Engagement in die Protein-Nische stößt und bar jeder entomologischen Sachkenntnis auch sensibelste Ökosysteme aus dem Gleichgewicht zu bringen droht. 

Fliegenlarven & Co lassen sich auf dem Balkon definitiv einfacher zur Mastreife bringen als ein Minipig im Kinderzimmer. Und selbst Kresse, Basilikum oder Strauchtomaten brauchen mehr Pflege. Vom Urban-Gardening zum lukrativen Urban-Protein-Farming ist es also nur ein kleiner Schritt – und man ist dem Trend einen Nasenlänge voraus.
Denn wenn die Nahrungsmittelkonzerne in ehemaligen Schweineställen großindustrielle Larvenfarmen einrichtet, um Insektenburgerprotein in Massenproduktionsdimensionen herzustellen, ist eine ethisch und politische korrekte Gegenbewegung mit lokalen Selbstversorgungsambitionen praktisch unausweichlich vorherbestimmt.

Auch wir sind gespalten: Wenn es denn bei der DIY-Insektenfarm auf Balkon oder Dachboden bliebe, wäre es eine gut Sache. In der Theorie könnte die Selbstversorgung mit Insektenprotein durchaus funktionieren.
Wäre da nicht die zutiefst menschliche Bequemlichkeit: Nach einer Anfangseuphorie ist es mehr als wahrscheinlich, dass die Mehrheit der Selbstversorger nicht die eigenen (Nach)Zuchterfolge abwarten, sondern schnell, sofort und frisch konsumieren will. Darauf setzt bereits eine stark wachsende Zubehörindustrie.
Man kennt es von den Pilzsammlern: Die Wälder in städtischen Einzugsgebieten sind quasi leergeerntet. Zur Saison brechen Bartträger in Outdoor-Kleindung durchs Gehölz und korben alles ein, was auch nur eine Pilzähnlichkeit hat.

Edelstahl Insektenfalle in Lebensmittelqualität nach HACCP-Standard (selbstreinigend).

Anders als beim Pilz, wo sich höchstens mit Weidenkörbchen und Cuttermessern ein Geschäft machen liesse, hat die Zubehörindustrie indes beim Insektenprotein erhebliches Potential ausgemacht: von der DIY-Farm über die Casa-Fan-Insektenturbinen (schon für den semigewerblichen Einsatz ausgelegt) bis zur Falle nach HACCP-Lebensmittelstandard – das Angebot steht.

Von daher gute Nacht Heuschrecke & Co. Mehrere Millionen großstädtische Insektensammler, beseelt vom heeren Ziel der urbanen Selbstversorgung und bestens ausgerüstet von Lifestyle-Accessoire-Produzenten? Das werden die wilden Insektenpopulationen in den meisten Regionen Deutschlands nicht überleben.

Quellen: Stand 1. April 2018

Professionelle „Malaisefalle“ – je nach Bausatz bis zur Größe eines mittleren Veranstaltungszeltes frei skalierbar. (Foto: © F. Grimm)

Teilen
Über den Autor

Jörg Held

Jörg Held (jh) ist Journalist, Kommunikationswirt und Redaktionsberater mit 30 Jahren Berufserfahrung. Seit 2007 auch im Bereich Tiermedizin unterwegs, davon 5 Jahre als Redaktionsleiter der VETimpulse. Auch bei wir-sind-tierarzt.de leitet er die Redaktion und ist schwerpunktmäßig für berufspolitische Themen und die Nachrichten verantwortlich. Kontakt: joerg.held(at)wir-sind-tierarzt.de
Web Design MymensinghPremium WordPress ThemesWeb Development

Wildtiere: Hilfe kann auch Leid bedeuten

9. März 20169. März 2016
Ein Faltblatt gibt Tipps zum Umgang mit Wildtieren. (©Landestierschutzbeauftragte Hessen / Erni/Fotolia.com)„Wildtiere brauchen in den aller seltensten Fällen menschliche Hilfe," sagt die Landestierschutzbeauftragte Hessen. Was tun kann, wer ein Wildtier findet – oder aber auch besser lassen sollte – erklärt ein Flyer, den Dr. Madeleine Martin zusammen mit der Landestierärztekammer Hessen herausgegeben hat. (mehr …)