Raufbolde im Schweinestall: vererbtes Aggressionspotential?

Aggression im Schweinestall – auch eine Folge der Zuchtziele?

Trotz vielfach besserem Platzangebot und mehr Beschäftigungsmöglichkeiten hat sich die Gesundheit und Unversehrtheit der Mastschweine nicht verbessert. Im Gegenteil: Mittlerweile treten auch vermehrt Flankenbeissen und andere Formen von Aggression gegen Artgenossen auf. Woran liegt es?

(aw) – Die Landwirtschaft versucht für die Nutztiere Haltungsformen zu finden, die sowohl die Bedürfnisse der Tiere als auch hygienische und arbeitstechnisch vernünftige Lösungen berücksichtigen. Verschiedenste Tierwohl-Programme stellen dabei eine tiergerechte Haltung in den Vordergrund. Doch sie kämpfen mit dem Konfliktpotential zwischen Haltung/Managementfähigkeiten und Zucht. Das zeigt sich bei sogenannten Hochleistungskühen, aber auch bei den Schweinen.
Dort haben sich mit der züchterischen Selektion auf hohe Fruchtbarkeit und auch schnellere Zunahmen agilere – man könnte auch sagen – aggressivere Tiere durchgesetzt. Trotz vielfach besserem Platzangebot und Beschäftigungsmöglichkeiten in den Ställen, klagen Mäster vermehrt über Flankenbeissen und andere Formen von Aggression gegen Artgenossen. Die führen zu mehr Verletzungen, höherem Infektionsrisiko, sozialem Stress und dann auch wieder niedrigeren täglichen Zunahmen und schlechterer Schlachtkörperqualität. Sie sind damit nicht nur ein Problem für die Tiere, sondern auch für den Halter.

Aggression beurteilen: 24 Stunden reichen

Mitarbeiter des Scottish Agricultural College (SAC) um Dr. Simon Turner beschäftigen sich schon seit einigen Jahren mit Aggressionen beim Schwein. Es ist ein vererbbares Merkmal, genau wie andere Eigenschaften (etwa Wachstum oder Fruchtbarkeit), auf die bereits selektiert wird. Für ihre Forschung haben die Wissenschaftler ein Schema entwickelt, mit dem man diese Aggressionen im eigenen Stall schnell und leicht beurteilen kann:
Sie sortieren die Schweine nach Gewicht und stellen dann neue Gruppen zusammen, in denen die Tiere vorher untereinander noch keinen Kontakt hatten. 24 Stunden danach beurteilten die schottischen Kollegen die Hautschäden und Verletzungen aller Schweine einer Gruppe und damit ihre Teilnahme an Kämpfen.
Diese 24 Stunden– das konnten sie zeigen – reichen zur Beurteilung des Tierverhaltens aus, da sich die Anzahl und die Zusammensetzung der Verletzungen in den folgenden drei Wochen und bis zum Schlachten nicht mehr wesentlich ändert.

Kampfspuren zeigen: Wer ist Raufbold, wer friedfertig

Als Indikator zur Unterscheidung von Aggressoren und friedfertig(er)en Tieren dienen Verletzungen:

  • Verletzungen am Kopf und im Bereich der Schultern gelten als Kampfspuren,
  • während Verletzungen an der seitlichen Bauchwand und an den Hintergliedmaßen auf Angriffe durch andere Schweine zurückzuführen sind.

Kampflustige beziehungsweise aggressive Schweine schikanieren in der Regel ihre Gruppenmitglieder, werden aber selber nicht in gleichem Maße belästigt und haben daher auch nur selten Verletzungen im hinteren Körperbereich.
Dabei sind sich die Schotten sicher: Die Selektion auf Schweine mit möglichst wenigen Verletzungen an Kopf und Vorderkörper (24 Stunden nach einer Neugruppierung) könnte tatsächlich darauf hinwirken, dass weniger aggressive Tiere entstehen.

Je aggressiver, desto fruchtbarer?

Methoden, wie man „Umgänglichkeit“ und „Aggressivität“ in Zuchtprogramme integrieren kann, untersuchte Björn Tönepöhl von der Georg-August-Universität in Göttingen. Er hat im Rahmen seiner Dissertation (2012) auch festgestellt, dass aggressive Sauen eine bessere Fruchtbarkeit aufweisen (Häufigkeit der Initiierung von agonistischen Interaktionen vs. Gesamt geborenen Ferkel: rp = 0,20). Umgekehrt war bei Tieren mit vielen Verletzungen eine schlechtere Fruchtbarkeit nachweisbar (rp = -0,28).
Generell fand Tönepöhl eine positive Korrelation zwischen Aggressivität und Tageszunahmen beziehungsweise Fruchtbarkeit. Er kam zu dem Schluss, dass die Integration von Verhaltensmerkmalen in Zuchtprogramme möglich ist.

Auch friedliche Schweine nehmen gut zu

Versuche in Dänemark haben wiederum gezeigt, dass die Selektion auf friedliche Schweine die täglichen Zunahmen nicht verschlechtert. Bedenken, dass friedfertige Schweine generell weniger aktiv sind, konnten die Wissenschaftler nicht bestätigen. In einem Versuch mit schwedischen Tieren protestierten die weniger aggressiven Schweine beim Wiegen vor der Schlachtung sogar deutlich lauter als ihre Gruppenmitglieder. Insgesamt blieben sie im Umgang mit Menschen aber ruhiger und scheinen mehr Stress auszuhalten, als ihre aggressiven Artgenossen.

wir-sind-tierarzt.de meint:
Zuchtziele verschieben

(aw) – Einmal mehr ist Tierhaltung multifaktoriell und mit Zielkonflikten behaftet: Was für den Ferkelerzeuger „gut“ sein kann – die hohe Fruchtbarkeit der aggressiven, durchsetzungstarken Sauen – stellt den Mäster vor Probleme. Er „kämpft“ im Wortsinn mit Auseinandersetzungen und Verletzungen durch Aggression im Stall.
Wenn aber die Gesellschaft  erwartet, dass Kastenstand oder Ferkelschutzkorb abgeschafft werden, dass Schluss ist mit sogenannten zootechnischen Eingriffen (Schwanzkupieren oder auch Zähneschleifen), dann muss auch die Zucht Fehlentwicklungen erkennen und zurückdrehen. Neue Haltungsformen verlangen  eben auch eine Zucht auf „sozial verträgliche“ Tiere – notfalls mit weniger Leistung.
In der Nutztierzucht wurden in der Vergangenheit offensichtlich zu viele (Leistungs)Faktoren einseitig auf die Spitze getrieben, ohne dass sich die Züchter oder Mäster über die Konsequenzen in anderen Bereichen im Klaren waren.

Quellen: im Artikel verlinkt

Teilen
Über den Autor

Annegret Wagner

Dr. Annegret Wagner (aw) hat in Gießen Tiermedizin studiert und arbeitet seit 1991 in der Großtierpraxis; seit 2005 niedergelassen in eigener Praxis mit Schwerpunkt Milchrind im Raum Rosenheim. Seit 2006 arbeitet sie auch als tiermedizinische Fachjournalistin. So hat sie für die VETimpulse die Nutztierthemen betreut und übernimmt diese Aufgabe auch bei wir-sind-tierarzt.de. Um nicht zum Mia-san-mia-Bayer zu mutieren, schaut sie intensiv über den Alpenrand hinaus, vorzugsweise ins englischsprachige Ausland. Kontakt: annegret.wagner(at)wir-sind-tierarzt.de
Web Design MymensinghPremium WordPress ThemesWeb Development

Wildtiere: Hilfe kann auch Leid bedeuten

9. März 20169. März 2016
Ein Faltblatt gibt Tipps zum Umgang mit Wildtieren. (©Landestierschutzbeauftragte Hessen / Erni/Fotolia.com)„Wildtiere brauchen in den aller seltensten Fällen menschliche Hilfe," sagt die Landestierschutzbeauftragte Hessen. Was tun kann, wer ein Wildtier findet – oder aber auch besser lassen sollte – erklärt ein Flyer, den Dr. Madeleine Martin zusammen mit der Landestierärztekammer Hessen herausgegeben hat. (mehr …)