„Maulhelden“: Deutschland is(s)t … wie sozial erwünscht

Fleisch kommt auf der Titelseite des BMEL-Ernährungsreports 2018 schon gar nicht mehr vor – so "gesund" ernähren sich die Deutschen. (Grafik: © BMEL)

Sie essen täglich viel Obst und Gemüse, vorwiegend aus der Region, ernähren sich gesund und stolze 81 Prozent der Deutschen würden sogar für mehr Tierwohl einen Aufpreis von mindestens 50 Prozent bezahlen … Liest man den Ernährungsreport 2018 des Bundeslandwirtschaftsministeriums, so ist hierzulande essentechnisch eigentlich alles in (pflanzlicher?) Butter. „Maulhelden“ nennt Spiegel online solche Umfrageantworten und ein paar Daten legen Nahe, dass dies so verkehrt nicht ist.

ein kommentierendes Zahlenspiel von Jörg Held

Umfragen entwickeln sich immer mehr zur modernen Märchenstunde. Die Menschen haben gelernt, als Bürger „politisch korrekt“ und „sozial erwünscht“ zu antworten, als Konsumenten aber ganz anders zu handeln. Wer gibt auch schon gerne zu, dass er am Supersamstag lieber zum Lidl dieselt, um Angebote abzustauben, statt in den Biomarkt zu radeln, um regional korrekt zu konsumieren; dass er Pizza, Burger und Süßkram genau so gerne (oder gar lieber) isst, wie Obst und Gemüse?
Im Ernährungsreport 2018 des Bundeslandwirtschaftsministeriums jedenfalls keiner. Der zeichnet ein allzu schönes Bild vom Essverhalten der Deutschen. Ein paar Beispiele aus dem Zahlenwerk, das auf einer repräsentativen FORSA-Umfrage basiert:

Die Deutschen wollen 50 Prozent mehr für Fleisch bezahlen

Grafik: © BMEL

Um das Tierwohl braucht sich eigentlich niemand Sorgen machen: Stolze 90 Prozent der Deutschen wären bereit für Fleisch aus artgerechter Haltung mehr zu bezahlen. Und zwar nicht etwa nur ein paar Cent, sondern richtig viel Geld: 81 Prozent „würden“ bei einem Basispreis von 10 Euro je Kilo Fleisch zusätzlich mindestens 5 Euro Aufpreis locker machen, wenn es dadurch den Tieren besser geht. 79 Prozent wünschen sich ein staatliches Tierwohllabel, damit sie derart erzeugte Fleischprodukte auch erkennen können.

Grafik: © BMEL

Mit der Realität hat das wenig bis überhaupt nichts mehr zu tun. Denn es gibt bereits heute in deutschen Supermärkten entsprechend gelabeltes Fleisch – nicht nur Bioware. Aber: Auch wenn der Marktanteil von Bio und anderen Labelangeboten relativ wächst, kommt er – trotz der vermeintlich hohen Zahlungsbereitschaft – aus der Nische nicht heraus. Absolut liegt der Marktanteil seit Jahren im niedrigen einstelligen Prozentbereich.
Angesichts dieses Bürgerwillens müsste man auch fragen, warum sich der Handel eigentlich so schwer tut, für Fleisch der Initiative Tierwohl krumme 6,25 Cent pro Kilo umzulegen? Kennen die ihre Kunden nicht? Verzichten sie freiwillig auf Umsatz? Laut Umfrage könnten sie doch locker zumindest 20 Prozent mehr für „Tierwohl“ verlangen, ohne dass die überwältigende Verbrauchermehrheit auch nur mit der Wimper zucken würde?
Beim Einkauf selbst achten allerdings selbst in der BMEL-Umfrage denn nur noch 39 Prozent der Befragten auf mit einem Label gekennzeichnetes „Fleisch aus besonders tiergerechter Haltung“.

Lebensmittelpreise nicht so wichtig?

Dazu passt dann, dass elf Prozent der Befragten behaupten, ihre Lebensmittel „zum großen Teil“ im Biomarkt zu kaufen. Nur 35 Prozent decken sich beim Discounter ein. Das sehen Branchenbeobachter anders: Die Discounter bauen ihre Marktanteile aus, bis zum Jahr 2020 könnte der auf etwa 44% steigen. Für jeden zweiten deutschen Konsumenten sind Aldi, Lidl & Co. die primäre Einkaufsstätte. Was er dort schätzt (71%): Die besten Preise.
Tatsächlich verteilen sich die Anteile im Lebensmittelmarkt so: Von 195,5 Milliarden Euro Lebensmittel-Gesamtumsatz entfallen 9,48 Milliarden auf den Biobereich (= rund 5 % – inkl. der Bio-Angebote in Supermärkten und beim Discounter). Der tatsächliche Bio-Marktanteil ist dabei noch mal geringer, da Bioware teurer ist.

Grafik: © BVE

Wenn schon vorbildlich, dann richtig. Konsequenterweise behaupten laut Umfrage auch nur noch 57 Prozent, dass der Preis beim Lebensmittelkauf für sie eine Rolle spiele. Dem stehen dann unter anderem solche Marktdaten gegenüber: Bei Aktionsangeboten am Lidl-Supersamstag steigt der Hackfleischabsatz um bis zu 50 Prozent. Irgendwas zwischen 25 und 60 Prozent der Fleischmenge, sollen im Handel über „Aktionen“ verkauft werden.

Grafik: © ami

Regionalität ist das neue Bio

Grafik: © BMEL

78 Prozent der Verbraucher legen laut Ernährungsreport beim Einkauf außerdem Wert auf Lebensmittel aus der Region.
Was aber bedeutet überhaupt Regionalität? Wieviel Kilometer Umkreis umfasst eine Region? Und wie soll eine regionale Versorgung der Ballungszentren funktionieren, fragen Kritiker. Hendrik Hanekamp (hauptberuflich bei der Landwirtschaftskammer Niedersachsen beschäftigt) hat Zahlen zum täglichen(!) Fleischbedarf der Großstädte zusammengestellt.

Daten/Grafik: © Hendrik Hanekamp

Daten/Grafik: © Hendrik Hanekamp

Eine Masterarbeit glaubt dagegen, mit viel Verzicht könnten Hamburgs Bürger aus einem 100km-Umkreis regional-biologisch ernährt werden.
Wer allerdings entsprechende Kreise um Hamburg und Bremen, um Köln, Düsseldorf, Duisburg und Dortmund oder andere Ballungsräume zieht, wird schnell die „Konkurrenz der Überschneidungen“ erkennen – und die Einwohner außerhalb dieser Kreise wollen ja auch noch regional essen. Mit dem tatsächlichen Konsumverhalten hat also auch der Regionaltrend wenig zu tun – zumindest nicht im angegebenen Prozentumfang.

Die Deutschen essen gesund

Grafik: © BMEL

72 Prozent essen täglich Obst und Gemüse, dagegen greift nicht mal ein Drittel jeden Tag zu Fleisch und Wurst, sagt die BMEL-Umfrage. Für 92 Prozent ist es inzwischen wichtig, sich gesund zu ernähren.
Derart gesunde Ernährung wird gemeinhin mit Fleischverzicht verknüpft, denn nach den Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Ernährung sollte man maximal 600 Gramm pro Woche essen (31 Kilo/Jahr).
Der Deutsche aber verzehrt seit Jahrzehnten im Schnitt ziemlich konstant das doppelte: so um die 60 Kilo Fleisch pro Jahr, Tendenz ganz langsam sinkend, sagt der Bundesverband der deutschen Fleischwarenindustrie (BVDF). Davon kommt aktuell laut Fleischerhandwerk die eine Hälfte als Wurst und Schinken auf den Tisch, die andere als Koteletts, Steaks, Braten oder Hackfleisch.

Grafik: © BVDF

Das „Volk der Köche“ isst außer aus

Fleisch hin, Gemüse her. Die Deutschen „sind ein Volk von Köchen“, freut sich Bundeslandwirtschaftsminister Christian Schmidt und stützt sich auf seine Umfrageergebnisse: 43 Prozent kochen demnach „so gut wie täglich“ selbst. Das könnte man mit Wohlwollen („so gut wie“) noch damit in Einklang bringen, dass gleichzeitig nur 63 Prozent zu Hause täglich auch etwas „selbst Zubereitetes“ essen. Und ob es da wirklich stimmt, dass 56 Prozent sich dann auch noch „selbst Zubereitetes“ mit zur Arbeit mitnehmen? Obwohl: Ein belegtes Brot mit Schinken wäre ja selbst zubereitet, wenn auch nicht „gekocht“?
Glaubwürdig ist dagegen, dass immer mehr Menschen außer Haus essen (laut Umfrage 43 % mindestens einmal pro Woche). Zum steigenden Außer-Haus-Konsum des Volkes der Köche gibt es nämlich harte Zahlen der Ernährungsindustrie: Der Umsatz in diesem Bereich wächst, zuletzt im Jahr 2016 um 2,2 Mrd Euro. Am deutlichsten übrigens bei der Kantinenverpflegung und in der (ungesunden?) Schnellgastronomie. Das Butterbrot bleibt wohl immer öfter in der Tupper-Dose.

Grafik: © BVE

wir-sind-tierarzt.de meint:
Märchenstunde der Maulhelden

(jh) – Wie plausibel solche Umfragen sind, mag jeder selbst mit einem ehrlichen Blick auf sein eigenes Essverhalten beurteilen. Und dann noch mal die tatsächlichen Konsumdaten der Branche zu Rate ziehen.
Speziell die breite „50-Prozent-und-mehr-Aufpreis- Zahlungsbereitschaft“ für eine bessere Tierhaltung halte ich für ein Märchen. Die Spiegel-Online-Metapher „Maulhelden“ trifft es ziemlich gut.
Wirklich relevant im Spiel der „Würde-mehr-bezahlen-wenn“-Umfragen sind nur solche, die konsequenterweise auch erheben, worauf der Befragte denn stattdessen verzichten „täte“. Die Menge des Geldes im eigenen Portemonnaie  ist bekanntlich endlich. Eine kleine – zugegeben grobe – Modellrechnung*: 

  • 500 € gibt ein 4-Personen-Haushalt im Monatsschnitt für Lebensmittel aus
  • ca. 20 % –  also etwa 100 € – sollen auf Fleisch und Fleischprodukte entfallen
  • ca. 50 % mehr – also 60 € monatlich – wäre er laut Umfrage bereit, für Produkte aus „besserer Tierhaltung“ zu zahlen
  • Bedeutet: 600 € pro Jahr müsste der Haushalt andernorts zugunsten des Tierwohls einsparen, etwa bei Urlaub oder Freizeitausgaben

Wer das tatsächlich „tun würde“, sollte mal jemand erheben.

*Zahlen BVE/BMEL

Quellen/weitere Quellen im Artikel verlinkt:
BMEL-Ernährungsreport 2018 (aufbereitete Broschüre/PDF-Download)
FORSA-Umfrage BMEL-Ernährungsreport 2018 (Fragen und Antwortdaten/PDF-Download)
BMEL-Ernährungsreport 2018 (Webseite/weiterführende Links)

Die Maulhelden – kritische Anmerkungen zum BMEL-Ernährungsreport von spiegel online
Am liebsten Sauerbraten – FAZ.net zum BMEL-Ernährungsreport

Branchendaten der deutschen Ernährungsindustrie 2017 (BVE/PDF-Download)

 

 

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Über den Autor

Jörg Held

Jörg Held (jh) ist Journalist, Kommunikationswirt und Redaktionsberater mit 30 Jahren Berufserfahrung. Seit 2007 auch im Bereich Tiermedizin unterwegs, davon 5 Jahre als Redaktionsleiter der VETimpulse. Auch bei wir-sind-tierarzt.de leitet er die Redaktion und ist schwerpunktmäßig für berufspolitische Themen und die Nachrichten verantwortlich. Kontakt: joerg.held(at)wir-sind-tierarzt.de
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