Haltungsbedingungen verbessern, Schwänze-, Schnabelkürzen und Ferkelkastrieren beenden oder schlicht mehr Platz – das sind „Tierwohl“-Forderungen. Sie allein greifen zu kurz, sagen zwei Professoren und fordern die „Tierschutz“-Debatte „vom Kopf auf die Füße“ zu stellen.“ Es gehe um Tiergesundheit. Dabei kritisieren sie auch die Tierärzte.
von Jörg Held
„Die bisherigen Herangehensweisen zur Verbesserung des Tierschutzes in der Nutztierhaltung sind der Komplexität des Problems nicht angemessen. Es ist an der Zeit, die Tierschutzdebatte „vom Kopf auf die Füße“ zu stellen,“ schreiben die Professoren Albert Sundrum und Thomas Blaha im aktuellen Deutschen Tierärzteblatt (11/2017 – Volltext PDF hier).
Die „Füße“, das ist für die beiden Wissenschaftler die Tiergesundheit: „Ohne eine deutliche Reduzierung der Produktionskrankheiten und den damit verbundenen Mortalitätsraten laufen alle Bemühungen um weitere Tierschutzziele ins Leere.“ Sie betonen: Probleme mit der Tiergesundheit treten in sehr unterschiedlichem Ausmaß bei Tieren in allen Haltungssystemen auf – unabhängig von Bewegungsfläche, Einstreu, Auslauf oder Bestandsgröße. Deshalb sei die Fokussierung auf Haltungsbedingungen nicht schlüssig: „Das wird der Komplexität des Sachverhalts weder auf der Einzeltier- noch auf der Betriebsebene gerecht.“
Tierärzte müssen sich klarer positionieren
Kritik üben die beide Professoren in diesem Zusammenhang auch an der Tierärzteschaft:
In der bisherigen Tierschutzdebatte habe diese sich eher bedeckt gehalten. „Sie läuft dadurch Gefahr, zwischen den Fronten unterschiedlicher Interessen aufgerieben zu werden,“ warnen Sundrum und Blaha. Die Tierärzte würden von Außenstehenden vor allem als diejenigen wahrgenommen, die die Funktionsfähigkeit der Nutztiere im Blick haben und den Nutzungsinteressen der Tierhalter Vorrang geben.
Auch wenn es richtig sei, dass praktizierende Tierärzte als Dienstleister fungierten und nur im Auftrag der Nutztierhalter handeln könnten, brauche es eine klarere „tierärztliche Positionierung im Interaktionsgeflecht der Tierschutzproblematik“. Die Tierärzteschaft müsse ihre fachliche Expertise weiterentwickeln und eine eindeutige, dem Systemcharakter der Tierschutzproblematik im Nutztierbereich adäquate, fachlich begründete Position in der Debatte einnehmen – besonders hinsichtlich des noch tolerablen Maßes an tierschutzrelevanten Gesundheitsstörungen.
Wann geht es den Nutztieren meßbar besser?
Blaha und Sundrum halten fest: „Die gegenwärtigen Strukturen der landwirtschaftlichen Nutztierhaltung sind das Ergebnis einer jahrzehntelangen Entwicklung, bei der Arbeitsproduktivität, biologische Leistungen und Kostensenkung im Vordergrund standen, nicht aber die Bedürfnisse der Tiere.“ Mit berechtigtem Nachdruck werde jetzt eine stärkere Berücksichtigung des Tierschutzes gefordert.
Doch beide Professoren bezweifeln, dass die bisherigen Ansätze – von der Brancheninitiative Tierwohl über verschiedenste Labelprogramme (wie dem Label des Deutschen Tierschutzbundes) bis zur Tierwohl-Initiative des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft – dafür sorgen, dass es den Nutztieren am Ende messbar besser geht.
Die „Probleme“ der Tierwohl-Initiativen und -Label
Das Problem all dieser Initiativen: Sie fokussieren auf Haltungsbedingungen oder gar einzelne Einflussgrößen – beispielsweise Schwänze- oder Schnabelkürzen und Ferkelkastrieren (nicht kurative Eingriffe) oder schlicht mehr Platz. Das sei der Komplexität des Problems aber nicht angemessen, weil tierschutzrelevanten Prozesse auf diese Weise völlig unzureichend umrissen würden. Die Initiativen vernachlässigten eine ganze Reihe anderer maßgebliche Aspekte:
- den hohen Krankheitsdruck in der Nutztierhaltung
- hygienische Aspekte und Infektionsschutz
- Auswirkungen einer suboptimalen Versorgung mit Energie und Nährstoffen in Relation zum tierindividuellen Bedarf,
- die enormen Unterschiede in der Sachkunde der Tierhalter
- und damit die Unterschiede in der Qualität der Tierbetreuung und des Tiergesundheitsmanagements
- sowie marktwirtschaftliche Sachzwänge.
Kein „Tierwohl“ ohne „Tiergesundheit“
Den Begriff „Tierwohl“ halten Sundrum und Blaha deshalb zwar womöglich für Politik- und Marketingzwecke geeignet, weil er eine Projektionsfläche für die Assoziationen möglichst vieler Gruppen bietet. Für die wissenschaftliche Klärung eines komplexen Sachverhaltes sei er ohne eine allgemein akzeptierte Definition aber untauglich.
Wenn man für mehr „Tierwohl“ die Einhaltung von – gesetzlichen oder auch erhöhten (Label) – Mindeststandards fordere, dann mutiere das zum Selbstzweck. Es sei denn, gleichzeitig werde überprüft, ob mit diesen Mindestanforderungen auch die anvisierten Ziele hinsichtlich des Schutzes der Tiere vor Schmerzen, Leiden und Schäden erreicht werden. „Das kann nur durch eine standardisierte Anwendung von Tierschutzindikatoren unabhängig von Haltungsform oder Betriebsgröße erreicht werden.“
Tiergesundheitsdatenbank unverzichtbar
Dazu nötig sei der Aufbau einer Datenbank für ein Benchmarking aller Tierbestände hinsichtlich der Prävalenz gesundheitlicher Störungen. Eine solche Tiergesundheitsdatenbank könne dann als Maßstab fungieren, der eine Handlungskaskade von gezielter Beratung über Ermahnung bis hin zu Sanktionen zulässt.
Geringe Mortalitäts- und Prävalenzraten von Produktionskrankheiten seien ein untrüglicher Indikator dafür, dass es einem Nutztierhalter gelingt, die Tiere besser vor Schmerzen, Leiden und Schäden zu schützen als dies bei Betrieben mit hohen Raten der Fall ist. Erst diese deutliche Reduzierung von Produktionskrankheiten schaffe dann die Voraussetzungen für ein hohes Maß an Wohlbefinden der Tiere.
Dieser Zusammenhang unterstreiche die Notwendigkeit tierärztlicher Expertise im komplexen Prozess bei der Umsetzung der Tierschutzanliegen.
Wer zahlt im „unfairen Wettbewerb“?
Bei all dem geht es auch um Geld. Die Professoren sprechen von Ressourcen.
Auf der einen Seite müssten die monetären Verluste durch Produktionskrankheiten sowie vorzeitiger Abgänge richtig bewertet werden. Das Potential, hier mit Verbesserungen Kosten zu senken, werde oft nicht erkannt beziehungsweise unterschätzt. Umgekehrt werden die tierärztlichen Beratungsleistungen als Kostenfaktor deutlich überschätzt.
Auf der anderen Seite stehe der „Markt“: Durch den ruinösen Verdrängungswettbewerb seien die Handlungsspielräume vieler Nutztierhalter sehr eingeschränkt. Schon seit geraumer Zeit erlösten die Tierhalter keine kostendeckenden Marktpreise.
Für Sundrum und Blaha gilt: „Angesichts dieser existenziellen Bedrohungen sind einseitige Forderungen an die Nutztierhalter kontraproduktiv, wenn nicht gleichzeitig Wege aufgezeigt werden, wie Ressourcen für die Erbringung von Tierschutzleistungen verfügbar gemacht werden können.“
Politikversagen?
Aktuell bekämen die Tierhalter „gleiche Marktpreise für sehr unterschiedliche Tierschutzleistungen.“ Das aber erfüllt für Blaha und Sundrum den Tatbestand des unfairen Wettbewerbs – mit Nachteilen für all die Nutztierhalter, die sich mit deutlichem Mehraufwand um verbesserte Tierschutzleistungen bemühen.
Dabei gehöre es zu den originären Aufgaben der Agrarpolitik, über das Ordnungsrecht der Entwicklung unfairer Wettbewerbsbedingungen entgegenzuwirken. Solange das nicht geschieht, sei das ein maßgeblicher, allerdings bislang weitgehend ausgeblendeter Hemmschuh für die Verbesserung von Tierschutzleistungen.