Heilpraktikerdebatte: Evidenz und Nutzen – für Medizin gibt es nur ein Maß

Prof. Jürgen Windeler leitet das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG). (Foto: © IQWiG)

Nach Todesfällen in der Humanmedizin wächst der politische Widerstand gegen Globuli & Co. Die Schweizer Tierärztegesellschaft will Heilpraktiker stärker regulieren, der Deutsche Ärztetag erklärt sie zum Nicht-Heilberuf mit Gefahrenpotential. Der Leiter des Medizin-Prüfinstitutes IQWiG, Jürgen Windeler, ärgert sich  über die „unglaubwürdige Doppelbödigkeit“ der Krankenkassen, die nicht evidenzbasierte Verfahren bezahlen. Er fordert im Interview, nur noch von einer Medizin zu sprechen und von Methoden und Mitteln, deren Nutzen belegt ist – oder eben nicht. „Alternativmedizin“ gebe es nicht.

Gastbeitrag/Interview von Hinnerk Feldwisch-Drentrup

(Der Autor arbeiten für das gemeinnützige journalistische Recherchenetzwerk correctiv.org, auf das wir-sind-tierarzt.de schon mehrmals hingewiesen hat. Ein eigenes correctiv-Rechercheprojekt – „Euros für Ärzte“ – beschäftigt sich mit Missständen in der Medizin – sowohl in der Alternativ- als auch der Schulmedizin)

Die Kernaussagen:

  • Medizin muss evidenzbasiert sein. Ergebnisse die sich der Überprüfung entziehen oder Ergebnisse einer Überprüfung ignorieren, sind heute nirgendwo in der Medizin mehr akzeptabel.
  • Es gibt keine Gründe, warum man in der so genannten „Alternativmedizin“ nicht Studien zu Nutzen und Schaden machen könnte, wie bei anderen Verfahren.
  • Man sollte zwischen Verfahren der so genannten Komplementärmedizin und der Berufsausübung von Heilpraktikern unterscheiden. Beim einen geht es um den fehlenden oder nicht untersuchten Nutzen von Methoden. Bei Heilpraktikern gibt es viel grundlegendere Qualifizierungsprobleme.
  • Mittelfristig gibt es für Heilpraktiker neben den anderen Gesundheitsberufen keinen Platz.
  • Man muss in der Medizin mit einem Maß messen – das betrifft die Evidenz und den Nutzen. Dann reden wir von einer Medizin und von Methoden und Mitteln, deren Nutzen belegt ist – oder eben nicht.

Der Gesprächspartner Prof. Dr. Jürgen Windeler leitet das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG). Es hat den gesetzlichen Auftrag, Vor- und Nachteile von medizinischen Verfahren zu bewerten. Aufträge darf es ausschließlich vom Gemeinsamen Bundesausschuss oder vom Bundesministerium für Gesundheit annehmen.

„Alternativ“ rechtfertigt kein Sonderstellung – Evidenz gilt überall

CORRECTIV: Was stört sie an der so genannten Alternativmedizin, Herr Windeler?

Windeler: Ich habe mich seit mehr als 30 Jahren mit dem Thema beschäftigt. Mein Anliegen ist, dass die Forderung nach Evidenz in der Medizin überall in gleicher Weise gelten muss. Bereiche, die sich der Überprüfung entziehen oder Ergebnisse der Überprüfung ignorieren, sind heute nicht mehr akzeptabel – nirgendwo in der Medizin. Und Begriffe wie alternativ, komplementär oder integrativ markieren eine angebliche Sonderstellung, die nicht zu rechtfertigen ist und die ich nicht akzeptiere.

Krankenkassen bewerben ja gerne derartige Leistungen.

Windeler: Das ist richtig. Doch Krankenkassen glauben ja selber nicht an den Nutzen dieser Verfahren, sondern machen das in einem missverstandenen Wettbewerb oder zur „Kunden“-Bindung. Aber diese Form von Wertschätzung von Therapien, über die man entweder wenig weiß oder von denen man inzwischen sehr wohl weiß, dass sie keinen Nutzen haben, ist schädlich, und daher stört sie mich generell – sowohl bei Krankenkassen als auch bei Ärzten, Apothekern oder Politikern.

Es ist nicht gut, Kindern, die sich gestoßen haben, Globuli zu geben und sie so daran zu gewöhnen, dass Pillen Probleme lösen – Prof. Jürgen Windeler. (Foto: © IQWiG)

Wichtige Behandlungen werden unterlassen

Welcher Schaden entsteht durch die Übernahme derartiger Therapien Ihrer Meinung nach?

Windeler: Da muss man natürlich unterscheiden: Es gibt zweifellos Therapien, die direkt schaden können. Bei Homöopathika oder Bachblüten muss man sich in Bezug hierauf normalerweise keine Gedanken machen. Doch bekannt und belegt ist wie beim aktuellen Todesfall in Italien, dass teils andere, wichtige Behandlungen unterlassen werden. Wenn ich anfange, Hirnhautentzündung oder Ebola mit Homöopathika zu behandeln oder Herzinfarkt mir „Rescue“-Tropfen, dann wird es lebensgefährlich.
Auch werden viele Kinder mit Homöopathie behandelt, zum Beispiel, wenn sie sich nur gestoßen haben. Selbst wenn das vielleicht nicht direkt schadet, ist es nicht gut, Kinder in dieser Weise an Pillen zu gewöhnen. Es bringt zum Ausdruck, dass Probleme primär mit Pillen gelöst werden können – diesen Eindruck sollte man nicht vermitteln.

In der Bevölkerung gibt es ja eine recht große Nachfrage nach Homöopathie und Co.

Windeler: Diese Nachfrage ist ein erstaunliches und faszinierendes Phänomen – insofern ist der politische Wille, daran etwas zu ändern, bisher sehr begrenzt gewesen. Im Moment scheint es ein gewisses Interesse zu geben – vom Ärztetag, der sich zu Heilpraktikern geäußert hat, aber auch von Seiten der Politik. Irgendwann müssen wir aufhören, mit zweierlei Maß zu messen. Wir können nicht einerseits das hohe Lied der evidenzbasierten Medizin singen und sagen, wir orientieren uns an Daten und Wissenschaft – und andererseits zum Beispiel mit der Homöopathie einen Bereich dulden, wo jeder wissen kann, dass da wissenschaftlich nichts zu holen ist. Der fehlende Nutzen ist vielfach nachgewiesen: Da kann man die Bücher drüber schließen. Meines Erachtens sollte man sich weitere Forschung sparen.

Nach Nutzen und Schaden fragen

Wie hat sich die Akzeptanz der Homöopathie in den letzten Jahrzehnten verändert?

Windeler: Das ist schwer zu sagen. Es gibt immer wieder Umfragen, nach denen die Homöopathie im Kommen sei – aber ich glaube diesen Ergebnissen nicht. Wenn Menschen gefragt werden, ob sie Homöopathie oder andere alternativmedizinische Verfahren nutzen, wissen die meisten vermutlich nicht, was das jeweils überhaupt ist. Sie denken bei Homöopathie an wohlriechende Kräuter und nicht an zerquetschte Bienen oder Arsen. Ich sehe aktuell keinen besonderen Boom. Und das jemand sich mal Globuli einwirft, ist ja nicht unbedingt ein Zeichen dafür, dass er an Homöopathie glaubt oder dass er das bei ernsten Erkrankungen auch nehmen würde.

Wären von der Forderung nach mehr Evidenz nicht beispielsweise auch viele pflanzliche Arzneimittel oder andere traditionell angewandte Therapien betroffen, für die es kaum Studien gibt?

Windeler: Selbstverständlich. Die S3-Leitlinie zu Schlafstörungen stellt 2017 lapidar fest: „Für Baldrian und andere Phytopharmaka kann aufgrund der unzureichenden Datenlage keine Empfehlung zum Einsatz in der Insomniebehandlung gegeben werden“. Es gibt aber keine Gründe, warum man nicht Studien machen könnte, und keine Gründe, warum man nicht genauso nach Nutzen und Schaden fragen müsste wie bei anderen Verfahren.

Heilpraktiker haben ein grundlegendes Qualifizierungsproblem

Wie stehen Sie zu Heilpraktikern, die aktuell unter Beschuss stehen?

Windeler: Der Deutsche Ärztetag hat sich hier sehr gut und klar geäußert. Man sollte aber zwischen Verfahren der so genannten Komplementärmedizin und der Berufsausübung von Heilpraktikern unterscheiden – ich würde beides ungerne in einen Topf werfen. Beim einen geht es um den fehlenden oder nicht untersuchten Nutzen von Methoden, bei Heilpraktikern gibt es viel grundlegendere Qualifizierungsprobleme.

Würden Sie wie der Ärztetag Heilpraktikern invasive Methoden verbieten? 

Windeler: Ich kann mir eine Übergangsphase vorstellen, in der man die Möglichkeiten von Heilpraktikern einschränkt, wie es der Ärztetag beschrieben hat. Gleichzeitig sollte die Anbindung im Sinne einer Weisung durch Ärzte verstärkt werden. Aber mittelfristig gibt es für Heilpraktiker neben den anderen Gesundheitsberufen eigentlich überhaupt keinen Platz.

Doppelbödigkeit macht unglaubwürdig

Diese Forderungen werden von Heilpraktikern wie auch vielen Patienten wohl scharf zurückgewiesen werden.

Windeler: Das kann sein. Aber man muss auf den Widerspruch und Anachronismus hinweisen. Wir können nicht sagen, dass wir die Evidenz, den Nutzen und auch die Qualität ganz wichtig finden – Krankenhäuser müssen zum Beispiel regelmäßig umfangreiche Berichte zu ihrer Qualität liefern. Und dann drehen wir uns um und drücken in einem anderen Bereich beide Augen zu. Das kann man nicht vertreten ohne rot zu werden. Diese Doppelbödigkeit macht auch Krankenkassen unglaubwürdig, die einerseits auf Qualität bestehen und andererseits Therapien ohne nachgewiesenen Nutzen bezahlen. Menschen verstehen nicht, warum sie ihre Brille selber zahlen müssen, ohne die sie nicht Autofahren können – und gleichzeitig erstatten Kassen Homöopathie. Mir ist wichtig, dass wir in der Medizin mit einem Maß messen – das betrifft die Evidenz und den Nutzen. Und dann reden wir von einer Medizin und von Methoden und Mitteln, deren Nutzen belegt ist – oder eben nicht.

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