Schmerzgesicht beim Ferkel: Schwanz kupieren schmerzhafter als Kastration?

Schmerzgesicht beim Ferkel: Hautspannung oberhalb der Augen. (Fotos: © Fron Vet Sci)

Hat ein Tier Schmerzen und wenn ja, wie stark sind sie? Das einzuschätzen ist nicht leicht, denn Tiere zeigen Schmerz sehr unterschiedlich. Sie dürfen in der Natur nicht als schwach gelten. Als Schmerznachweis dienen bisher vor allem Stresshormone. Auf der Suche nach weiteren Indikatoren bringen Forscher jetzt auch für Ferkel „Schmerzgesichter“ ins Spiel.

(aw) – Weil Tiere häufig keine eindeutig identifizierbaren Schmerzreaktionen zeigen, ist es in der Tiermedizin schwierig, Schmerzen objektiv einzuschätzen. Wie stark ein Schmerz eingeordnet wird, hängt oft sehr vom jeweiligen Betrachter ab. Das kann dazu führen, dass die Schmerzlinderung im Zusammenhang mit chirurgischen Eingriffen nicht ausreichend ist.

Empfinden neugeborene Tiere weniger Schmerz?

Eine Gruppe englischer und italienischer Wissenschaftler hat sich mit sogenannten „zootechnischen Eingriffen“ bei Ferkeln beschäftigt und versucht, ein belastbares Schmerzbeurteilungsschema zu entwickeln. Gerade Ferkeln werden in den ersten Lebenstagen diverse schmerzhafte Prozeduren zugemutet: Zähne abschleifen, Schwänze kürzen, Kastration, Ohrmarken einziehen.
In Anlehnung an Einschätzungen beim Menschen ging die Wissenschaft lange davon aus, dass das Nervensystem bei neugeborenen Tieren noch nicht voll ausgebildet sei und sich somit das Schmerzempfinden weniger problematisch gestalte. Daher waren/sind in vielen Ländern zahlreiche schmerzhafte Eingriffe bei Tieren unter einem Alter von sieben Tagen (noch) ohne begleitende Schmerztherapie erlaubt. In Deutschland ändert sich das gerade, etwa mit dem Verbot der betäubungslosen Ferkelkastration (2019).

Was ist ein typisches Schmerzgesicht?

Für einige Tierarten wie Nager, Kaninchen, Katzen, Schafe und Pferde haben Forscher bereits Veränderungen in der Gesichtsmimik untersucht und so Skalen zum Schmerzempfinden entwickelt. Die Arbeitsgruppen aus Newcastle-upon-Tyne (England) und Padua (Italien) haben versucht, eine entsprechende Skala mit verschiedenen (schmerz)typischen Gesichtsveränderungen für Ferkel anzufertigen.

Schwänze kürzen mit Videoüberwachung

Dazu haben die englischen Wissenschaftler bei acht weiblichen Ferkeln am dritten Lebenstag die Schwänze mit einem Elektrokauter um ein Drittel gekürzt. Dieser Eingriff ist in der vorgenommenen Weise gesetzeskonform. Die Ferkel wurden vor und nach der Prozedur in einem speziellen Auslauf mit durchsichtigen Plastikwänden in unmittelbarer Nähe zur Muttersau für fünf Minuten gefilmt und dann wieder zu ihren Wurfgeschwistern gesetzt. Die durchsichtigen Wände sollten den Ferkeln das Gefühl von Nähe zur Mutter suggerieren, um keine weiteren Stresskomponenten zusätzlich zu der Schwanzamputation zu schaffen. Vier Kameras filmten die Tiere in dem kleinen Auslauf.

Kastration: Gesichtsausdruck fotografiert

Die italienischen Tierärzte kastrierten insgesamt 15 Ferkel aus fünf Würfen ohne Schmerzausschaltung und behielten die Ferkel im Anschluss an die Kastration noch zwei Minuten auf dem Arm, um Fotos des Gesichtsausdrucks zu machen.

Schmerzgesicht beim Ferkel: Winkel der Rüsselscheibe zur Schnauze. (Fotos: © Fron Vet Sci)

Was sagt die Mimik?

Die Bilder beider Studien wurden zu einer Vorher-Nachher-Kollage zusammengefasst, wobei die Wissenschaftler jeweils 47 Vorher- und 47 Nachher-Bilder gegenübergestellt haben. Diese Bilder beurteilte dann ein erfahrenes Gremium auf Veränderungen der Mimik, ohne zu wissen, ob die Bilder vor oder nach den Eingriffen aufgenommen worden waren.
Zunächst bestand das Beurteilungsschema aus zehn Unterpunkten, drei mussten die Auswerter aber verwerfen, da sie nicht ausreichend gut beurteilt werden konnten. Übrig blieben folgende sieben Kriterien:

  • Hautspannung im Bereich der Schläfen
  • Stirn-Profil
  • Verengung der Augen
  • Hautspannung oberhalb der Augen
  • Muskelspannung der Wangen
  • Winkelung der Rüsselscheibe
  • Rüsselscheibenveränderungen

Schmerzgesicht beim Ferkel: verengte Augen. (Fotos: © Fron Vet Sci)

Die Beurteilung durch dreißig Personen erbrachte ein relativ einheitliches Ergebnis:

  • Bei der Kastration zeigten die Ferkel in keinem Punkt eine unterschiedliche Mimik im Vorher-Nachher-Vergleich.
  • Nach dem Schwänzekürzen hatte ein signifikanter Anteil von Ferkeln verengte Augen als einziges Schmerzanzeichen im Gesichtsbereich.

Da sich die Ferkel im Anschluss an das Kürzen der Schwänze frei bewegen konnten, war zudem eine Beurteilung des Verhaltens möglich. Im Beobachtungszeitraum von fünf Minuten nach dem Eingriff bewegten sich die Ferkel deutlich weniger als nicht-kupierte Wurfgeschwister und stellten den Schwanz auf: Das könne als weitere Anzeichen für Schmerzen gewertet werden.

Ergebnis: Unwesentliche Gesichtsveränderungen

Die Autoren der Studie weisen darauf hin, dass die Unterschiede in der Mimik der Ferkel eventuell so unwesentlich sind, weil sich die Ferkel schon bei den Vorher-Aufnahmen durch das Handling unwohl fühlen und ähnlich wie Menschen mit gestresstem Gesichtsausdruck reagieren.
Trotzdem halten sie das Schema für eine gute Beurteilungsgrundlage, um Schmerzen bei Schweinen mit einfachen Mitteln zu bewerten. Eine weitere Anpassung an die schweinespezifische Mimik ist geplant, vor allem um die Methode bei älteren Tieren (z.B. bei Lahmheiten) anwenden zu können.

Quelle:
Weblink: The Assessment of Facial Expressions in Piglets Undergoing Tail Docking and Castration: Toward the Development of the Piglet Grimace Scale – Frontiers in veterinary Sciences
PDF-Download der Untersuchung

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Über den Autor

Annegret Wagner

Dr. Annegret Wagner (aw) hat in Gießen Tiermedizin studiert und arbeitet seit 1991 in der Großtierpraxis; seit 2005 niedergelassen in eigener Praxis mit Schwerpunkt Milchrind im Raum Rosenheim. Seit 2006 arbeitet sie auch als tiermedizinische Fachjournalistin. So hat sie für die VETimpulse die Nutztierthemen betreut und übernimmt diese Aufgabe auch bei wir-sind-tierarzt.de. Um nicht zum Mia-san-mia-Bayer zu mutieren, schaut sie intensiv über den Alpenrand hinaus, vorzugsweise ins englischsprachige Ausland. Kontakt: annegret.wagner(at)wir-sind-tierarzt.de
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