Liebe Leser,
unser Weihnachtsgruß ist in diesem Jahr ein kurzer Reiseeindruck.
In diesen Zeiten ist es wichtig, aufmerksam wahrzunehmen, innezuhalten, den ersten Eindruck noch einmal zu überdenken, nachzufragen … und erst dann zu entscheiden, was wirklich zu tun ist.
Jörg Held, Annegret Wagner und der Autor dieser Geschichte, Henrik Hofmann,
wünschen Ihnen
frohe und ruhige Feiertage
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Ich erzähle Euch heute eine Weihnachtsgeschichte. Es kommen keine Tiere darin vor und sie spielt auch nicht im romantisch verschneiten Europa. Sondern im sommerlich-stickigen Neu Delhi.
Vor ein paar Jahren bin ich mit meinem Freund David nach Neu Delhi geflogen. Er war sicherlich schon 15 mal dort gewesen, es war kein Urlaub (für ihn), sondern Shopping-Tour: Klamotten und Edelsteine für die Boutique seiner Frau. Containerweise. Für mich war es ein Kulturschock. Nie zuvor hatte ich so viel so tiefe Armut, Dreck und Krankheit gesehen.
Garantierte Kinderarbeit
Für die Klamotten streiften wir durch die staubigen Basare der Stadt und kauften, was das Zeug hielt. Hier dreißig Leder-Röcke, dort Gürteltaschen, von denen er (zu recht) glaubte, sie könnten in Deutschland modern werden. Bronze-Statuen. Modeschmuck. Einkaufspreis 15 Cent, garantierte Kinderarbeit, Verkaufspreis ca. 19,90 Euro. Klangschalen. Tibetische Saris. Hippie-Klamotten.
Die Edelsteine suchten wir bei alten Bekannten. Sie hatten vorweg kiloweise Mondstein besorgt und wir saßen später in ihren Läden und sortierten sechs bis acht Stunden täglich. Die meiste Zeit verbrachten wir mit Rafiq. Ein unglaublich netter Mensch, lustig und offen, mit unglaublicher Begeisterung, ja fast schon Besessenheit von der Schönheit seiner Steine. Manchmal warnte er, wenn ich mit irgendwelchen bunten Klunkern herumwirbelte. „Careful. 80.000 Dollars. Each. Not paid yet…“
„Spenden nehmen den Menschen die Würde“
Rafiq ist Sufi und sehr sehr gläubig. Aber auf angenehme Art. Er liebte alle Religionen, ging in Hindu-Tempel und an Weihnachten in christliche Kirchen, hatte eine jüdische Freundin, buddhistische Freunde. Sufismus ist ein mystischer Zweig des Islam. Es sind aber nicht nur Muslime Sufis, sondern auch Christen und Buddhisten. Rafiq war sehr großzügig und gab viel Geld an Arme. Er spendete allerdings nicht, sondern bezahlte sie: Er gab allerlei Kunsthandwerk bei ganzen Dorfgemeinschaften im Norden in Auftrag und kaufte ihnen die Sachen zu einem fairen Preis ab. „Leider kann ich das Zeug nicht verkaufen. Es ist zu schlechte Qualität“, sagte er. „Sobald es hier ist, werfe ich es weg.“
Seiner Meinung nach nehmen Spenden den Menschen die Würde, „man macht sie zu Almosenempfängern und Bettlern“. Gab ich Bettlern auf der Straße Geld, konnte er richtig böse werden.
Der blinde alte Mann und die Rikscha
An unserem Abschiedsabend lud er uns zum Hammel-Essen nach Old-Delhi, in den muslimischen Teil der Stadt, ein. Wir standen auf dem Main-Basar und suchten nach einer Rikscha, die uns dort hin fahren sollte. Wir wurden ständig angesprochen, doch kein Fahrer schien unserem Freund zu passen. Bis er einen alten Mann sah, mit ihm redete. „Er wird uns fahren….“ Ich hätte das alte magere Männlein wahrscheinlich nie angesprochen. Drei ausgewachsene Männer durch die nächtliche Großstadt zu ziehen, traute ich ihm kaum zu.
„Weißt du“, meinte Rafiq, „ich fahre immer mit alten Leuten, die kein Tourist und auch kein Einheimischer nehmen würde. Aber die müssen ja auch von etwas leben…“ Wie wir so dahin zuckelten, meinte ich zu David: „Der fährt irgendwie so komisch. Macht Geräusche … schubbert immer am Bordstein lang?“ Auch meinem Freund war das aufgefallen. „Besonders schnell ist er auch nicht!“ Nach einer langen Fahrt kamen wir vor der großen Moschee an, stiegen aus und unser Freund ging zum Bezahlen. Ich folgte ihm und schaute dem alten Mann ins Gesicht: Er hatte schneeweiße Augen und war offensichtlich (fast?) blind.
Ich ließ Rafiq ihn fragen: „Warum fährst du noch?“ („Rafiq, mir ist das total peinlich, aber ich möchte es wissen. Können wir ihn fragen?“ „Klar!“) Der Mann erzählte, dass er siebzig Jahre alt sei. Seine Frau sei schwer krank, einer seiner Söhne sei in einem Krieg umgekommen, der zweite sei schwerbehindert und der dritte arbeitslos. Seine Tochter sei von ihrem Mann verlassen worden – und habe zwei Kinder. Rente oder so was gebe es für ihn nicht.
Gesund genug zum Arbeiten
Unter mir tat sich förmlich der Boden auf. „Frag’ ihn bitte, wie es ihm damit geht…!“ Eine peinliche und taktlose Frage – aber ich wollte es einfach wissen. Die beiden redeten eine Weile. Dann sagte Rafiq: „Natürlich ist er fast blind und hat auch sonst so einige Krankheiten. Wenn du so lebst wie er und seine Familie, kannst du nicht gesund sein. Der Mann sagt aber, es gehe ihm gut, er sei zufrieden. Er sei seinem Gott sehr dankbar. Denn er sei gesund genug, um die Familie in seinem Alter noch allein ernähren zu können.“ Mir hatte es ehrlich gesagt ein wenig den Appetit verschlagen. Ich war tief beeindruckt von dem alten Mann und hatte in dem Moment das Gefühl, in irgend einer Geschichte aus der Bibel gelandet zu sein.
Rafiq bezahlte und gab ein ordentliches Trinkgeld. Insgesamt rund einen Euro fünfzig. „Und jetzt wisst ihr, warum ich immer alte Riksha-Fahrer aussuche. Ich werde schauen, ob ich für seinen Sohn einen Job finde.“
Das wir-sind-tierarzt-Team wünscht
Ihnen allen ein ruhiges Weihnachtsfest
Jörg Held – Annegret Wagner – Henrik Hofmann