Ein-Euro-Stundenlohn – Nachtarbeit für Tiermedizin-Studenten

Wer schiebt für einen Euro pro Stunde bis zu 24 Stunden Nachtdienst? Tiermedizinstudenten in der Schweiz. Sie klagen über wenig bis gar kein Geld, schlechte Betreuung und zu wenig Pausen – mit bösen Folgen für die Tiere. Jenseits des Elends fragt man sich: Hat das System in der Tiermedizin? Geht es nur so?

von Henrik Hofmann

(Beitrag aktualisiert: 17.9.2016)

Nachdem deutsche Tiermedizin-Unis in München oder Leipzig wegen schlechter Bezahlung durch die Schlagzeilen gingen, scheinen nun die Schweizer „fällig“. Erst berichtete die SRF-Sendung «Kassensturz» über Misstände am Tierspital Zürich, dann legt das Schweizer Radio nach mit einem Bericht über noch „perkärere Arbeitsbedingungen“ am Tierspital Bern: 24 Stunden Dienst ohne einen Rappen Bezahlung, mit katastrophalen Fehlern für die Tiere als Folge.
Die SRF-Recherchen haben gezeigt, dass Studenten während ihrer Ausbildung an der Vetsuisse-Fakultät der Universität Zürich und auch an der Universität Bern regelmässig Nachtschichten zwischen 14 (Zürich) und 24 Stunden (Bern) schieben müssen. „Es sind fünf Nächte am Stück und in der zweiten und dritten Nacht ist es dann richtig schlimm, dann merke ich, dass ich kleine Fehler mache“, berichtet eine Züricher Studentin dem Sender. Arbeitszeitregeln scheinen nicht zu gelten.
Ab dem dritten Studienjahr sind Studierende der Vetsuisse-Fakultät dazu verpflichtet, Nachtdienste am Tierspital Zürich zu leisten. Die Bezahlung für eine 14-stündige Schicht: 20 Franken pro Nacht. Das ist etwas mehr als einen Franken (ein knapper Euro) pro Stunde. In Bern wird lazt SFR gar nichts gezahlt.

TV-Bericht über die Situation in Zürich

 

Radio-Bericht über die Situation Bern

Tierkliniken nur so haltbar?

Doch warum werden Hungerlöhne ausgerechnet in einem Berufsfeld gezahlt, das als hoch-qualifiziert, spezialisiert und motiviert gilt? Warum werden  (angehende) Kollegen fast schon systematisch ausgebeutet? Und das in Ländern, deren Bruttosozialprodukte zur Weltspitze gehören?
Die „offizielle“ Ansicht ist, dass das „Teil der Ausbildung“ sei. Dass man eben eine Weile darben müsse, um später – nein, nicht gut zu verdienen – um später „gutes Fachwissen für die Praxis“ mit zu bringen.
Doch auch das streiten die gepeinigten Studenten und Anfangsassistenten ab. Auch die Betreuung sei mangelhaft, beklagen sie. „Man ist meistens auf sich alleine gestellt und muss es sich selber beibringen.“ Die Studierenden haben das Gefühl, lediglich „eine billige Arbeitskraft“ zu sein. Sollte es nicht „ausreichen“, eines der anspruchsvollsten Vollzeitstudien zu absolvieren, um hinterher etwas zu können? Und: Kann qualitativ hochwertiger Notdienst durch „ein-Euro-Kräfte“ überhaupt geleistet werden?

„Lernen, dass unsere Arbeit nichts wert ist“

Praktizierende Tierärzte beklagen das System seit langem, viele sind selbst durch diese „Schule“ gegangen: „Wir lernen schon an den Unis und bei den ersten Jobs, dass unsere Arbeit nichts wert ist. In den ersten Jahren messen wir uns nicht mit anderen Akademikern. Wir messen uns gehaltsmässig mit angelernten Kassiererinnen im Supermarkt.“
Wie soll so ein Wertgefühl für die eigene Arbeit geschaffen werden? Wie kann sich das Selbstbewusstsein entwickeln, für ordentliche Arbeit auch ordentliches Geld zu nehmen? „Natürlich lernt man was – aber tut man das nicht immer? Und heisst das nicht im Umkehrschluss, dass man auch später kein Geld verdienen darf?“, fragt eine Kollegin. Eine der Folgen: Preis-Dumping später in der eigenen Praxis – und damit keine Reserven für ordentliche Angestelltengehälter. Stattdessen führt der Weg über Selbstausbeutung in einen Teufelskreis.

Arbeitsrechtler: „So geht’s wirklich nicht!“

Ebenfalls in «Kassensturz» kritisiert Arbeitsrechtler Martin Ferner die Arbeitsbedingungen an der Züricher Tierklinik. «Die Nachtdienste sind bei weitem zu lang, weil eine Arbeitszeit, die auch Nachtarbeit umfasst, nicht länger als neun Stunden sein darf.» Zudem sei die Erholungszeit zwischen den Diensten zu kurz, die Studenten hätten Anrecht auf elf Stunden Ruhezeit. Auch die Höchstarbeitszeit von 50 Wochenstunden werde überschritten.

Nach der Sendung im «Kassensturz» handelt die Universitätsleitung nun. Als Sofortmassnahme auf das beginnende Herbstsemester sind die Schichten nun von 14 auf sieben Stunden verkürzt worden. Dafür müssen die Studierenden über das Jahr verteilt mehr Einsätze leisten. Auch die Entlohnung soll angepasst werden.

Aus Sicht des Arbeitsrechts ist das sinnvoll. Ob das aus Sicht des Berufsstandes ausreichend ist, bleibt indessen fragwürdig. Und das nicht nur in Zürich.

Hinweis:

Am Freitag, 18. November 2016, 13.00 – 14.00 Uhr, Saal 1a+b (Saalebene) findet im Rahmen des bpt-Kongresses in Hannover eine Veranstaltung zum Thema statt:

Nachgefragt: Wie lassen sich die Arbeitsbedingungen für angestellte Tierärzte/innen weiter verbessern?

Zehn Jahre ist es her, dass Bettina Friedrich mit ihrer „Untersuchung zur Situation der tierärztlichen Praxisassistenten/innen in Deutschland“ die Tierärztewelt aufgerüttelt hat. Inzwischen hat die bpt-Mitgliederversammlung die “Vergütungsmodelle für Praxisassistenten“ beschlossen und es wurde der Arbeitskreis „Assistenten“ ins Leben gerufen, der sich mit den spezifischen Problemen und Fragestellungen der angestellten Tierärztinnen und Tierärzte in der Praxis beschäftigt. Was aber hat sich in den letzten 10 Jahren konkret geändert und wo besteht weiterer Verbesserungsbedarf? Eingeladen ist auch der Bund Angestellter Tierärzte.

  • Zutritt kostenfrei
  • keine Voranmeldung
  • begrenzte Saalkapazität

Quellen:
Aktuelle Vorgänge in der Schweiz:
SRF-Sendung „Kassensturz“ – Sitaution in Zürich
SRF-RadioSendung „Espresso“ – Situation in Bern

Zürcher Unterländer

Fälle aus Deutschland:
Universität München – Süddeutsche Zeitung
Universität Leipzig – Stadtmagazin „Kreutzer“
Hochschullaufbahn Tiermedizin – FAZ-Blog

Alle Berichte zum Thema „Assistentenbezahlung“ auf wir-sind-tierarzt.de unter dem Schlagwort „Assistenten“

 

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Über den Autor

Dr. Henrik Hofmann

Dr. Henrik Hofmann (hh) betreibt seit 1995 eine eigene Tierarztpraxis in Butzbach. Er ist Fachtierarzt für Allgemeine Veterinärmedizin und hat die Zusatzbezeichnung Akupunktur. (www.tierundleben.de) Als Autor und Redakteur hat Hofmann in etlichen Zeitschriften und Zeitungen rund ums Tier geschrieben. Bei wir-sind-tierarzt.de betreut er schwerpunktmäßig Medizinthemen, den Bereich Praxismanagement und die Rubrik Mensch-Tierarzt. Außerdem steuert er die SocialMedia-Aktivitäten und leitet die Bildredaktion. Zuletzt ist sein Buch „Tieren beim Sterben helfen – Euthanasie in der Tierarztpraxis“ erschienen. Kontakt: henrik.hofmann(at)wir-sind-tierarzt.de
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