Tiermedizin: Antibiotikaeinsatz drastisch gesunken – wo sind die „fehlenden“ Tonnen?

Verteilung der an Tierärzte gelieferten Antibiotikamenge nach Postleitzahlbezirken. Die "roten" Bereiche haben auch die höchste Nutztierdichte.Verteilung der an Tierärzte gelieferten Antibiotikamenge nach Postleitzahlbezirken. Die "roten" Bereiche haben auch die höchste Nutztierdichte. (© Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit/BVL)

Der Antibiotikaeinsatz bei Nutztieren sank 2015 drastisch: minus 401 Tonnen. Damit ist das politische 50-Prozent-Reduktionsziel erreicht (Basisjahr 2011). Aber die staatliche Abgabemengenerfassung liegt mit 837 Tonnen dennoch stolze 290 Tonnen über der Mengenberechnung des privatwirtschaftlichen QS-Antibiotikamonitoring. Wo sind die „fehlenden“ Tonnen?

von Jörg Held

ACHTUNG: Die in diesem Artikel genannten Zahlen der staatlichen Abgagemengenerfassung sind veraltet – am 21.9.2016 hat das BVL korrigierte Zahlen veröffentlicht – diese aktuellen Zahlen finden Sie hier. Die Kernaussagen des Artikels bleiben – bis auf den Anstieg der „Reserveantibiotika“, der eben nicht(!) erfolgte – davon aber unberührt. (Anmerkung d. Red. 22.9.2016)

Die Menge der an deutsche Tierärzte ausgelieferten Antibiotika sinkt seit 2011 (erstes Erfassungsjahr) kontinuierlich: von damals 1.706 auf jetzt 837 Tonnen, also ein Minus von 51 Prozent. Die aktuelle Erhebung zeigt von 2014 auf 2015 aber einen besonders deutlichen Rückgang um Minus 401 Tonnen (siehe Tabelle). Für diese hohe Zahl – das sind immerhin 32 Prozent der Reduzierung der letzten fünf Jahre – dürfte es eine plausible Erklärung geben: Die Auswirkungen des staatlichen Antibiotikamonotorings. Erstmals hat der Staat in 2015 einen Therapieindex für alle Masttierhalter berechnet, so dass sie ihren Antibiotikaeinsatz einordnen und reduzieren konnten. „Vielverwender“ wurden identifiziert und ausdrücklich zur Minimierung ihres Antibiotikaeinsatzes aufgefordert. Der Effekt ist in den Zahlen klar zu erkennen.

Antibiotikaeinsatz in der Veterinärmedizin – Übersicht der Mengenerfassung von 2011 bis 2015.

Antibiotikaeinsatz in der Veterinärmedizin – Übersicht der Mengenerfassung von 2011 bis 2015. (© BVL)

Anstieg der „Reserveantibiotika“

Aber es gibt offene Fragen. Zum einen ist – in der staatlichen Mengenerfassung 2015 – der Einsatz sogenannter „Reserveantibiotika“ erneut gestiegen:

  • bei den Fluorchinolonen um +2,6 Tonnen von 12,3 auf jetzt 14,9 – insgesamt seit 2011 um 82 Prozent
  • bei den Cephalosporinen der 3. Generation um +0,9 Tonnen von 2,3 auf jetzt 3,2 – insgesamt seit 2011 um 52 Prozent

Dieser jüngste Anstieg – so kommentiert es der Bundesverband praktizierender Tierärzte – decke sich aber nicht mit den Zahlen des privatwirtschaftlichen QS-Systems. Das erfasst den Antibiotikaeinsatz bei fast 100 Prozent der Schweine- und Geflügelmast (und auch Kälbermast/gemessen an Tierzahlen). Bei QS haben sich die Mengen der eingesetzten „Reserveantibiotika“ von 2014 auf 2015 insgesamt rückläufig entwickelt: 

  • bei den Fluorchinolonen ein Rückgang von -1,29 Tonnen von 7,29 auf 6,1
  • bei den Cephalosporinen ein Anstieg +0,13 Tonnen von 0,36 auf 0,49

Insgesamt entfallen laut QS von den in Summe in 2015 abgegebenen 19,4 Tonnen dieser sogenannten „Reserveantibiotika“ nur 6,7 Tonnen auf Schweine und Geflügel. Es sollte also ermittelt werden, in welche anderen Tierarten die verbleibenden zwei Drittel dieser Wirkstoffe gehen (12,6 Tonnen – siehe auch Schlussfolgerungen unten).

Was ist dran am Vorwurf, „Reserveantibiotika“ würden als Verschiebebahnhof genutzt, um die Gesamtmenge der Antibiotika zu reduzieren – eine Analyse finden Sie hier

Abweichungen zwischen Staat und Privatwirtschaft (QS)

Möglich ist diese Mengengegenüberstellung, weil QS einen kleinen Paradigmenwechsel vollzogen hat und neben dem Therapieindex jetzt den Antibiotikaeinsatz auch in Tonnen angibt.

Dadurch zeigen sich aber Differenzen, die nicht sofort selbsterklärend sind, denn nicht nur bei den „Reserveantibiotika“ gibt es Abweichungen. Auch die Gesamtzahlen unterscheiden sich deutlich: Bei QS „fehlen“ gegenüber den staatlichen Zahlen 290,13 Tonnen.

Skandal oder Daten-Lücke?

Wieder einmal sind staatliche und private Daten eben nicht unmittelbar vergleichbar (Vergleich der deutschen Antibiotikamonitoring-Systeme hier). Vor einer Interpretation muss man also zuerst einmal die Datenbasis betrachten:

  • Die staatliche Mengenerfassung erfasst alle(!) von der Industrie an die Tierärzte (egal ob Kleintier-, Nutztier- oder Pferdpraktiker) ausgelieferten Mengen Wirkstoff. Die Mengen werden auch NICHT nach Tierarten differenziert.
  • QS erfasst nur die tatsächlich von den Nutztierärzten bei über 95 Prozent der deutschen Schweine und Geflügelbestände eingesetzten Antibiotika.

Wo sind die „fehlenden“ 290 Tonnen?

Dennoch ist die Differenz von 290 Tonnen erheblich. Wo könnten diese Mengen geblieben sein?

Haustiere und Pferde – bisher wurde immer argumentiert, rund 90 Prozent der tiermedizinischen Antibiotikamenge würde bei Nutztieren und hier vor allem in der oralen Medikation bei Schwein und Geflügel eingesetzt. Nur etwa 10 Prozent entfielen auf Haustiere und Pferde. Vorausgesetzt, diese Prozentzahl stimmt, wären das etwa 84 (10% von 837) der „fehlenden“ 290 Tonnen.
Hinterfragt werden sollte aber, ob diese Zehn-Prozent-Relation noch gilt? Die Gesamtmenge wurde, wie oben belegt ja binnen fünf Jahren um über 50 Prozent reduziert. Dies dürfte zu ganz großen Teilen in der Nutztierpraxis erfolgt sein, denn die deutlichen Mengenrückgänge sind in typischen Wirkstoffen der oralen Medikation zu verzeichnen (siehe Tabelle oben). Damit müsste umgekehrt der prozentuale Verbrauchsanteil der Haustiere, Pferde, aber auch Ziegen und Schafe an der Antibiotikagesamtmenge gestiegen sein? Diese Tierarten erfasst weder QS noch das staatliche Antibiotikamonitoring.

Antibiotikamenge bei Milchkühen

Milchkühe – das QS-System erfasst vorrangig eben Schweine und Geflügelbetriebe. Die jetzt veröffentlichen Abgabemengen werden bei allen Tierarten eingesetzt.
Als Tiergruppe mit einem womöglich weit höheren Antibotikaeinsatz als bisher angenommen, bleiben also vor allem die 4,3 Mio Milchkühe (12,6 Mio Rinder). Für sie werden in Deutschland keine Daten erhoben, weder zu gelieferten Antibiotikamengen noch über den Einsatz. Auch das staatliche AMG-Antibiotikamonitoring erfasst nur Masttiere (Therapieindex).
Einen (spekulativen!) Ansatzpunkt für eine Größenordnung der hier möglicherweise eingesetzten Antibiotikamenge liefern die Nachbarländer:

  • So setzen die Niederländer etwa 23 Tonnen bei 1,6 Mio Milchkühen ein.
  • In Dänemark sind es ca. 10,8 Tonnen für rund 560.000 Milchkühe

Überträgt man diese Relationen auf die 4,3 Mio deutschen Milchkühe, wäre das grob geschätzt eine Menge zwischen 62 (NL) und 82,5 (DK) Tonnen Antibiotika. In Deutschland ist der Antibiotikaeinsatz zur Zeit aber noch höher, als das sehr niedrige Niveau in diesen beiden Nachbarländern. Geschätzt(!) müsste man also rund 100 Tonnen Antibiotika dem Milchkuh/Rinderbereich zuordnen.
(Cave: Die Daten sind weder von den Jahres-, Tier- und Mengenangaben 1:1 vergleichbar – es ist ein Annäherungswert, um ein Gefühl für eine ungefähre Größenordnungen zu bekommen.)

Nicht QS-erfasste Schweine/Geflügel – großzügig geschätzt werden fünf Prozent der Schweine/des Geflügels nicht im QS-System erfasst. Dies wären dann rund 29 Tonnen.

Es „fehlen“ also in der Summe noch rund 77 Tonnen Antibiotika, die keiner Tierart zugeordnet werden können (290 – 84 – 100 – 29 = 77).

Nachbarländer – die staatlichen Zahlen beziffern die an deutsche Tierarztpraxen ausgelieferten Antibiotikamengen. Es gibt eine ganze Reihe von Praxen, die auch in europäischen Nachbarländern Tierbestände betreuen. Es wäre allerdings höchst spekulativ, hier eine Zahl zu nennen, welcher Anteil der in Deutschland verkauften Antibiotikamenge und welche Wirkstoffe dort eingesetzt worden sein könnte. Dennoch ist auch dies eine Option.

Verfall/Anbruchmengen – ebenfalls nicht zu beziffern ist die Menge der Antibiotika, die zwar in Praxen geliefert, dort aber nach Anbruch der Gebinde nicht eingesetzt, also verfallen ist und entsorgt wurde. Durch vom Staat angekündigte strengere Apothekenkontrollen speziell beim Anbruchdatum könnte auch diese Menge gestiegen sein.

Schlussfolgerung: Genauer erfassen

  • Der Anstieg bei den sogenannten „Reserveantibiotika“ ist nicht auf die häufig kritisierten Schweine- und Geflügelhaltungen zurückzuführen. Von den insgesamt abgegebenen 19,4 Tonnen wurden hier laut QS 2015 nur 6,7 Tonnen eingesetzt – bei rückläufiger Tendenz.
    Es sollten also Systeme entwickelt werden, die den Einsatz dieser wichtigen Wirkstoffgruppen bei Haustieren/Pferden, vor allem aber bei Milchkühen erfassen.
    Generell ist der Anteil dieser „besonders kritischen Wirkstoffe“ an der Gesamtantibiotikamenge in der Tiermedizin mit 2,3 Prozent auch 2015 sehr gering. In der Humanmedizin liegt er bei 50 Prozent (Deutschland).
  • Der reine Blick auf Abgabemengen in Tonnen führt offensichtlich zu verzerrten Wahrnehmungen und womöglich auch nicht sachgerechten politischen Reaktionen. Solange nicht klar – und auch international vergleichbar – nachgewiesen werden kann, welcher antibiotische Wirkstoff wo (Tierart und Nutzungsart) eingesetzt wird, sollten weitere Restriktionen für die Tiermedizin sorgfältig abgewogen werden. Kranke Tiere müssen weiter mit wirksamen Antibiotika behandelt werden können.
  • Während Europa mit großen Anstrengungen die bei (Nutz)Tieren eingesetzten Antibiotikamengen reduziert, sieht die weltweite Entwicklung komplett anders aus: Zwischen 63.000 und 240.000 Tonnen Antibiotika sollen weltweit in der Nutztierhaltung eingesetzt werden.
    Der deutsche Einsatz von jetzt noch 837 Tonnen und auch die „Reduzierungserfolge“ von 869 Tonnen seit 2011 sind da – global gesehen – letztlich fast irrelevant. Insbesondere, weil Antibiotikaresistenzen (AMR) sich nicht an Grenzen halten.
    Der verantwortungsvolle und zielgenaue Einsatz (prudent use) muss in der Tiermedizin dennoch weiter vorangetrieben werden. Politisch sind aber deutlich stärkere Anstrengungen bei der globalen AMR-Bekämpfung wesentlich wichtiger, effektiver – und nötiger.

Quellen:
BVL-Antibiotikamengenerfassung 2015 (DIMDI-Zahlen)
QS-Blog: QS-Antibiotikadaten umgerechnet in Tonnen (Mai 2015)
QS-Antibiotikazahlen 2. Halbjahr 2015 vs staatliches AMG-Monitoring (PDF-Download)
alle weiteren Quellen im Text verlinkt

Verteilung der an Tierärzte gelieferten Antibiotikamenge nach Postleitzahlbezirken. Die "roten" Bereiche haben auch die höchste Nutztierdichte.

Verteilung der an Tierärzte gelieferten Antibiotikamenge nach Postleitzahlbezirken. Die „roten“ Bereiche haben auch die höchste Nutztierdichte. (© Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit/BVL)

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Über den Autor

Jörg Held

Jörg Held (jh) ist Journalist, Kommunikationswirt und Redaktionsberater mit 30 Jahren Berufserfahrung. Seit 2007 auch im Bereich Tiermedizin unterwegs, davon 5 Jahre als Redaktionsleiter der VETimpulse. Auch bei wir-sind-tierarzt.de leitet er die Redaktion und ist schwerpunktmäßig für berufspolitische Themen und die Nachrichten verantwortlich. Kontakt: joerg.held(at)wir-sind-tierarzt.de
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