Findelkind Frischling: Handaufzucht und dann? (Video)

Einen süßen Frischling mit der Flasche aufziehen? Kein Problem – man sollte aber rechtzeitig überlegen, was man später mit einem ausgewachsenen Wildschwein anstellt. (Foto: © Daniela Hofmann)

Findelkinder sind immer etwas Besonderes. Sie gehen ans Herz und wecken Beschützerinstinkte. Und auch ihre Aufzucht macht unglaublich viel Spaß. Doch was ist, wenn sie größer werden? Kann man ein Wildschwein einfach auswildern?

von Henrik Hofmann

Am Ende der Sprechstunde steht ein Motorradfahrer in voller Montur am Tresen, er macht ein verlegenes Gesicht. „Ich komme grade von einer Motorradtour im Vogelsberg. Unterwegs lag was auf der Strasse. Ich dachte erst, eine Jacke. Dann dachte ich, eine kleine Katze und hab‘ gebremst. Erst aus der Nähe hab‘ ich gesehen, dass es ein kleines Wildschwein ist…“ Der Mann greift in seinen Lederkombi und zieht ein winziges gestreiftes Schweinchen hervor. „Ich hab‘ keine Ahnung, was ich damit machen soll.“
Wir ahnen Schlimmes. „Warum ziehen sie es nicht mit der Hand auf? Das geht gar nicht so schwer, wir erklären gerne…“ Er schüttelt den Kopf. „Nein, nein, ich kann das nicht. Keine Zeit. Ich muss ja schließlich arbeiten! Können sie das nicht machen?“ (Ach so, wir arbeiten ja nicht 🙂 .) Im Tierheim habe er von unterwegs schon angerufen, aber die nähmen keine Frischlinge. Und der Förster auch nicht. Und der Jäger hätte keine Lust, ein gesundes Tier zu schießen. Die Polizei schließlich hätte ihn zu uns geschickt: „Die machen sowas“. „Ja, arbeiten tun wir auch,“ stottere ich herum, aber allen Anwesenden im Wartezimmer ist längst klar, dass „die tatsächlich sowas machen“. Ich schüttele den Kopf (über mich selbst) und nehme, das Findelkind entgegen. Meine Frau strahlt. Na denn.

Viele „Widers“ – ein „Für“.

Ein Tierkind in freier Wildbahn mitzunehmen, ist nicht ganz ohne. Im Speziellen, wenn es sich um ein Wildschwein handelt. Ist die Mutter noch in der Nähe, wird sie den Frischling mit ihrem Leben verteidigen. Und das kann für den wohlmeinenden Finder sehr schlecht ausgehen. Rechtlich ist es natürlich auch immer problematisch, Wildtiere aufzunehmen. Aber im „Tierschutzfall“ interessiert sich nicht mal das Amt so recht für’s Gesetz. Auch von der Hygiene her ist es nicht ganz ohne. Zoonosen, Krankheiten, die von Tieren auf Menschen übertragbar sind, gibt es bei Wildtieren viele. Das Gleiche gilt für Tierseuchen, die auf Hausschweine übertragen werden können. Im Speziellen bei Wildschweinen gibt es gefährliche Erreger wie die Schweinepest. Dazu kommt, dass man zumindest am Anfang stündlich füttern muss – das gilt natürlich auch nachts! Und wären das nicht schon genug Argumente, dieses „Abenteuer“ von Anfang an „zu beenden“, kommt die Frage der Fragen dazu: Was tun, wenn es überlebt und erwachsen wird?

Denn eines ist gewiss: Auswildern kann man Wildschweine nicht!

Ferkelmilch aus der Flasche für den kleinen Frischling (Foto: © tierundleben.de)

Ferkelmilch aus der Flasche für den kleinen Frischling (Foto: © tierundleben.de)

Es gibt also viele gute Gründe, eine Aufzucht abzulehnen. Hat man das Würmchen in der Hand bringt man es aber einfach nicht übers Herz. „Unser“ Frischling war etwa zwei Tage alt, die Nabelschnur noch recht frisch. Ob ER Muttermilch bekommen hatte war ungewiss. Am einfachsten und besten ist es, beim „Sauenhalter des Vertrauens“ um Ferkelmilch zu bitten. Es gibt viele Leute, die Frischlinge mit (Menschen-)Muttermilch aus dem Supermarkt großgezogen haben. das geht, ist aber „mittel“. Vor allem der Fettgehalt ist bei „richtiger“ Ferkelmilch passend. In der ersten Woche kann man Banane oder Karottensaft beimengen. Bei den ganz kleinen funktioniert die Fütterung mit einer 5ml-Spritze sehr gut, danach nimmt man am besten ein Babyfläschchen mit kleinem Nuckel. Ab der zweiten Woche kann man Obst und Hack beimengen, ab der vierten Woche muss man das tun – oder einfach Ferkelstarter besorgen. Durchfälle sind vor allem bei Futterumstellung häufig. In der Tierarztpraxis gibt es allerlei Präparate, die abhelfen. Eine Bache säugt die kleinen Frischlinge anfangs im Rhythmus von 45 bis 60 Minuten. Diesen Rhythmus sollte man beibehalten.

Behördlichen Hürden vorab klären – Genehmigung einholen, Impfen, Tierseuchenrecht beachten. 

„Wärmender Kessel“

Ganz wichtig ist am Anfang auch Wärme! Häufig werden die Frischlinge in einem sehr geschwächten Zustand aufgefunden. Einer der Gründe dafür kann Unterkühlung sein. Frischlinge können in den ersten Lebenswochen ihre Körpertemperatur alleine nur schwer regulieren und sind auf die Wärme ihrer Mutter und ihrer Geschwister angewiesen. Im ersten Lebensmonat ist das wärmende Nest, der sogenannte „Kessel“ also lebenswichtig. Verliert der Frischling den Kontakt zu seiner Familie über einen längeren Zeitraum, unterkühlt er sehr schnell. Man kann ihn durch eine Wärmflasche oder ein Wärmekissen oder eine Rotlichtlampe ersetzen. Der Frischling wird sich daran beziehungsweise darunter kuscheln und aufwärmen.

Jägersprache:

  • Bache = weibliches (Mutter-)Schwein, Sau
  • Keiler = männliches Schwein, Eber
  • Frischling = Ferkel
  • Kessel = Nest, Bett
  • Schweiss = Blut
  • Rotte = Familie

Was tun mit dem Wildschwein?

Wie gesagt: Auswildern kann man Wildschweine nicht. Das liegt daran, dass sie menschbezogen sind. Sehen sie Spaziergänger, werden sie immer dort hin laufen und sehen, ob es was zu essen gibt. Bei einem ausgewachsenen Wildschwein kann das lebensgefährlich sein! Ausserdem werden sie in einer Rotte keinen Anschluss finden.

Was man mit einem handaufgezogenen Wildschwein machen kann:

  • In den Wildpark geben, unter umständen  mit Patenschaft
  • Einen eigenen „Wildpark“ gründen
  • Zum Trüffelschwein ausbilden
  • Zur Ausbildung von „Schweisshunden“ einsetzen
  • Schlachten und essen
Frischling mit "Hunde-Mama" (Foto: © tierundleben.de)

Frischling mit „Hunde-Mama“ (Foto: © tierundleben.de)

Man sollte zunächst abwägen, ob man den kleinen Frischling behalten oder ihn lieber in fachkundige Hände weitergeben möchte. 
Aus diesem Grund sollte man ein männliches Tier nicht gleich kastrieren lassen. Finden die jungen Keiler in einem Wildgehege ihr neues Zuhause, wünschen sich die Betreiber häufig eine „Blutauffrischung“ für ihre bestehende Rotte. Ist der Keiler erst einmal kastriert, so ist ihm diese Zukunft so gut wie verbaut. 
Sie leben in der Natur alleine und verstehen sich mit anderen Keilern nicht. Will man das Tier behalten, muss man darauf achten, dass man geeignete Unterbringungsmöglichkeiten hat: Das heisst, einen stabilen Stall und eine gesicherte Weide. Wildschweine werden bei Gartenhaltung alles umgraben und auch Zäune müssen extrem stabil sein, um ihnen zu widerstehen.

Was wir mit „unserem Ferkelchen“ machen werden, ist zur Zeit noch nicht klar. Es ist gegenwärtig sowas wie Praxis- bzw. Redaktionsmaskottchen und hat viele Freunde und Verehrer. Allerdings kämpfen wir noch um sein Leben und es geht ihm manchmal nicht besonders gut. Eines ist aber klar: Als Weihnachtsbraten wird Ferkelchen nicht enden!

Bilder: © 2016 Daniela Hofmann / tierundleben.de
Video: © 2016 WiSiTiA / Henrik Hofmann

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Über den Autor

Dr. Henrik Hofmann

Dr. Henrik Hofmann (hh) betreibt seit 1995 eine eigene Tierarztpraxis in Butzbach. Er ist Fachtierarzt für Allgemeine Veterinärmedizin und hat die Zusatzbezeichnung Akupunktur. (www.tierundleben.de) Als Autor und Redakteur hat Hofmann in etlichen Zeitschriften und Zeitungen rund ums Tier geschrieben. Bei wir-sind-tierarzt.de betreut er schwerpunktmäßig Medizinthemen, den Bereich Praxismanagement und die Rubrik Mensch-Tierarzt. Außerdem steuert er die SocialMedia-Aktivitäten und leitet die Bildredaktion. Zuletzt ist sein Buch „Tieren beim Sterben helfen – Euthanasie in der Tierarztpraxis“ erschienen. Kontakt: henrik.hofmann(at)wir-sind-tierarzt.de
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