WHO: Erste globale Langzeitstudie über lebensmittelbedingte Erkrankungen

Vor allem Kinder sterben an lebensmittelbedingten Erkrankungen. (Grafik: ©WHO)Vor allem Kinder sterben an lebensmittelbedingten Erkrankungen. (Grafik: ©WHO)

Weltweit erkranken jährlich über 600 Millionen Menschen an einer Lebensmittelinfektion. Das Gros wird von Zoonosen ausgelöst. Und das ist keinesfalls nur ein Problem der Entwicklungsländer, sagt eine Langzeitstudie der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Tierärzte bekommen bei der Überwachung und Aufklärung eine immer wichtigere Rolle.

Gastbeitrag von Martin Heilmann, FAO

Jeder zehnte Mensch leidet pro Jahr an einer Lebensmittelerkrankung. Das ist das Resultat einer knapp zehnjährigen Studie der World Health Organization (WHO), die die Arbeitsgruppe für Epidemiologie von Lebensmittelinfektionen (FERG) Anfang Dezember veröffentlicht hat.
In absoluten Zahlen ausgedrückt, verursachen Lebensmittelinfektionen weltweit jährlich 600 Millionen Krankheits- sowie 420 Millionen Todesfälle. Dabei sind Afrika, Südostasien und Nahost sowie Kinder und Menschen mit geringem Einkommen am häufigsten betroffen. Unter den 31 untersuchten Ursachen finden sich vornehmlich altbekannte Namen wie Noroviren, Campylobacter spp., Salmonella enterica subsp., Salmonella Typhi, Taenia solium, Hepatitis A Virus, sowie Aflatoxine, etc. (Wovon und wie stark einzelne Regionen der Welt betroffen sind, zeigen Infografiken am Ende des Artikels).

Hohe Dunkelziffer

Die wichtigsten Auslöser lebensmittelbedingter Krankheiten. (Grafik: © WHO)

Die wichtigsten Auslöser lebensmittelbedingter Krankheiten. (Grafik: © WHO)

Diese Ergebnisse sind aber nur die Spitze des Eisberges, weil die Dunkelziffer von nicht angezeigten akuten Lebensmittelinfektionen mit milden klassischen Symptomen (Übelkeit, Erbrechen, Durchfall) in keiner Statistik auftaucht. Außerdem sind Spätfolgen und assoziierte Zivilisationskrankheiten wie Diabetes, Krebs, Adipositas oder Allergien nicht in die Studie einbezogen worden – wohl aber von größter Bedeutung gerade in Industrieländern.

Viele Erreger zoonotischen Ursprungs

Neben den immensen ökonomischen und entwicklungspolitischen Dimensionen, lassen diese Ergebnisse auch Tierärzte hellhörig werden, denn immerhin ist das Gros der untersuchten Erreger zoonotischen Ursprungs. Auch in der Studie wird deutlich hingewiesen, dass dem tierischen Reservoir besondere Bedeutung zukommt. Das meint vor allem die lebensmittelliefernden Tiere, sowie deren direkten oder indirekten Kontakt mit Mensch, Haus- und Wildtieren einschließlich der Umwelt.

One-Health – Bedeutung der Tiermedizin steigt

Ich war positiv überrascht, diesen Zusammenhang in der Studie zu finden; ist er doch ein gutes und notwendiges Beispiel des transdisziplinären Charakters von Human- und Tiermedizin. Die Synergie beider Bereiche wurde bereits durch Rudolf Virchow mit Bezug auf die Rindertuberkulose im 19. Jahrhundert erkannt und gewinnt wieder, zunehmend international unter dem One Health Konzept, an Bedeutung. Dabei handelt es sich nicht um einen neuen Anglizismus oder Zweig der Wissenschaft, sondern vielmehr um einen allumfassenden Blickwinkel auf Gesundheit, der den Mehrwert einer Zusammenarbeit beider Disziplinen anerkennt und fördert.

«One Health» ist der Mehrwert an Gesundheit von Mensch und Tier, an finanziellen Einsparungen und Umweltdienstleistungen, der im Vergleich zu den getrennt arbeitenden Disziplinen aus einer engeren Zusammenarbeit von Human und Tiermedizin entsteht.

Quelle: Bulletin SAMW 1/15

Die Welt auf dem Teller – woher Lebensmittel stammen (können). (Foto/Grafik: © Prof. A. Reilly)

Die Welt auf dem Teller – woher Lebensmittel stammen (können). (Foto/Grafik: © Prof. A. Reilly)

Lebensmittellabyrinth statt Lebensmittelkette

Es wäre ein Trugschluss zu glauben, dass die jüngsten Resultate nur Entwicklungsländer beträfen, denn das derzeitige Konsumverhalten in den Industrieländern treibt eine fortschreitende Globalisierung von Tier- und Lebensmittelhandel weiter voran. Wir müssen erkennen, dass nicht nur Tourismus, Migration und Telekommunikation die Erde zunehmend enger umspannen, sondern auch der Lebensmittelhandel. Das tägliche Essen auf unserem Teller stammt längst von einem internationales Gremium an Produzenten, Exporteuren und Vertreibern. Das Wort Lebensmittelkette mag dem Verständnis im Studium dienen, die Realität hingegen ist ein wahres Lebensmittellabyrinth.
Auch Deutschland verzeichnet pro Jahr etwa 200.000 Humanfälle von Lebensmittelerkrankungen, deren Erfassung durch ein gutes Überwachungs- und Meldesystem von BfR, RKI und anderen Institutionen gelingen mag. Jedoch endet die Rückverfolgung dieser Fälle  zumeist innerhalb der Behörde, Landes- oder EU-Grenze.

Einen Anstieg der lebensmittelbedingten Krankheiten meldet auch die Europäische Lebensmittelsicherheitsbehörde EFSA für die letzten Jahre. (Grafik: © EFSA)

Die aktuellen Zahlen zu lebensmittelbedingten Krankheiten in der EU (2014) hat gerade die Europäische Lebensmittelsicherheitsbehörde EFSA vorgelegt. (Grafik: © EFSA)

Komplexes Überwachungssystem nötig

Meiner Meinung nach besteht die dringende Notwendigkeit, ein ganzheitliches System zu entwickeln, das der Komplexität dieser Entwicklung gewachsen ist. Ein elementarer Bestandteil eines solchen Systems ist ein Grundverständnis innerhalb der Bevölkerung für Lebensmittelhygiene und -qualität sowie Lebensmittel mit erhöhtem Risiko (Fleisch, Eier, Fisch, Geflügel- und Milchprodukte).
Ebenso wichtig ist aber auch ein global abgestimmtes Überwachungssystem für Human- und Tiermedizin. Das muss sich nicht auf Lebensmittelinfektionen beschränken, sondern kann ebenso, wie teilweise bereits etabliert, zoonotische Erkrankungen, Antibiotikaresistenzen, Impfprogramme oder ähnliches umfassen. Teilweise sind dergleichen Systeme bereits regional etabliert oder aber in der Diskussion.

Ein aktives Aufklären und frühes Handeln der Tierärzte hierbei kann die Initiative maßgeblich bereichern und sich langfristig positiv auf den Berufsstand, die Politik das öffentliche Gesundheitswesen in nationalem sowie internationalem Kontext auswirken.

Martin_Heilmann_AusschnittMartin Heilmann stammt aus einer Bauernfamilie im Leipziger Land und studierte Tiermedizin in Berlin und Lyon. Nach seinem Studium führte ihn die Promotion nach Uganda, wo er an Lebensmittelhygiene auf traditionellen Märkten für das International Livestock Research Institute (ILRI) unter Betreuung des Instituts für Parasitologie und Tropenveterinärmedizin der Freien Universität Berlin forschte. Seit Anfang 2015 arbeitet er für die Food and Agriculture Organization der Vereinten Nationen (FAO) in Rom und ist momentan Focal Point des International Food Safety Authorities Network (INFOSAN) – ein globales Netzwerk der FAO und WHO mit 181 nationalen Behörden für Lebensmittelsicherheit, die gemeinsam ein rasches Handeln im Falle einer Lebensmittelsicherheitskrise garantieren. Kontakt: Martin.Heilmann@fao.org.

Quellen:
Themenseite zum WHO Report „Global burden of foodborne diseases“

Die zugrundeliegenden wissenschaftlichen Publikationen sind hier publiziert
Beitragsbild und Grafiken der Slide-Show: ©WHO

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