Weniger Kraftfutter gleich weniger Milch? Diese einfache Rechnung macht Niedersachsens Grüner Landwirtschaftsminister Christian Meyer auf. Um den rasanten Milch-Preisverfall zu stoppen, rät er Landwirten (unter anderem), sie sollten weniger Kraftfutter einsetzen. Dieser etwas simplen Input-Output-Theorie schließen sich sogar Tierärzte an.
von Annegret Wagner
Milchpreise von 26 Cent pro Liter treiben Bauern in den Ruin. Eine ministeriale Idee – weniger Kraftfutter gleich weniger Milch gleich höherer Milchpreis – darf zu kurz greifen. Politischer Populismus halt. Doch wenn auch das Tierärztliche Forum für verantwortbare Landwirtschaft die „Drosselung der Milchmenge durch Reduktion der Kraftfuttergaben“ erreichen will, ist eine Einordnung der Idee nötig. Tiere sollten nämlich nicht nach politischen Rezepten, sondern nach Bedarf gefüttert werden. Doch „Kraftfutter“ wird zunehmend medial zum „Teufelswerk“ aufgebaut.
„Eine schnelle (Milch- Anm.d.Red) Mengenreduzierung ist … allein schon … möglich, indem man die Kraftfuttergaben reduziert.“
(zitiert aus Pressemeldung von Niedersachens Landwirtschaftsminister Christian Meyer – 31.8.2015)
Energiemangel macht krank
Ohne es zu wissen, setzen eine ganze Reihe von Landwirten in Deutschland Meyers „Reduzierungs-Vorschlag“ schon jetzt Tag für Tag um – mit einer bekannten Folge, dass Milchkühe fütterungsbedingte Gesundheitsprobleme haben. Der US-Rinderexperte Dr. Paul Biagiotti beschreibt das Phänomen in seinem Artikel „Doppelganger herds are a scary reality“ (Hoard’s Dairyman, 10.01.2015): Werden Laufställe überbelegt – was auch in Deutschland nicht selten ist – hat nicht mehr jede Kuh einen Freß- und Liegeplatz, ergo können auch nicht mehr alle gleichzeitig fressen. In diesem Fall erhalten nicht auch mehr alle Tiere das gleiche Futter, obwohl der Landwirt den Energiegehalt der kraftfutterhaltigen Total Mixed Ration (TMR) berechnet und diese auf die Milchleistung seiner Kühe abgestimmt hat.
Der Grund: Die Kühe, die zuerst ans Futter gelangen, „sortieren“ sich das Futter (was auch bei TMR problemlos möglich ist) und suchen sich die schmackhaften und energiereichen Bestandteile heraus. Kraftfutter ist nämlich keineswegs irgendein billiger Müll, der den Kühen nicht schmeckt und sie krank macht – auch wenn Medienberichte dies suggerieren.
Die Kühe, die erst als zweite an einen Fressplatz kommen, finden dort also eine andere Futterzusammensetzung vor, als sie vom Landwirt geplant war: In der Regel enthält dieses dann deutlich weniger Energie. Das begünstigt Stoffwechselstörungen und deren sämtliche negativen Begleiterscheinungen (z.B. Labmagenverlagerungen, Zellzahlerhöhungen, Fruchtbarkeitsprobleme).
Kühe wählen Kraftfutter
Dass Milchkühe ihr Futter bewusst wählen, zeigen auch Versuche, bei denen sie sich entscheiden konnten, nach dem Melken auf die Weide zu gehen oder im Stall eine TMR zu fressen. Gerade Kühe mit hoher Milchleistung zogen die zweite Variante vor, weil sie ihren Energiebedarf mit TMR leichter und schneller decken können als mit Gras. Erst wenn der größte Hunger gestillt ist, zieht es auch diese Kühe nach draußen.
Ursache und Wirkung verwechselt
Minister Meyer (und leider auch andere) verwechseln im Bezug auf die Fütterung der Kuh gerne Ursache und Wirkung: Kraftfutter allein steigert die Milchleistung nicht. Ein Verzicht senkt umgekehrt nicht automatisch die Milchleistung, zumindest nicht ohne gesundheitliche Folgen für moderne Milchkuhrassen. Die sind so gezüchtet, dass sie im ersten Drittel der Laktation alles daran setzen, möglichst viel Milch für das Kalb zu produzieren. Diese Milchleistung ist genetisch festgelegt. Erhält die Kuh mit dem Futter nicht die für diese Milchproduktion nötige Energie, dann greift sie ihre eigenen Körperreserven an.
Bei vielen hochleistenden Milchkühen wird leider mittlerweile – und das ist ein zu Recht inzwischen heftig kritisiertes Zuchtergebnis – billigend in Kauf genommen, dass sie während des gesamten ersten Drittels der Laktation (über rund 100 Tage) an Gewicht verlieren, sich sozusagen selbst „verzehren“. Sie geraten in eine sogenannte „negative Energiebilanz“, denn sie schaffen es trotz Kraftfuttergabe nicht, die für die Milchproduktion nötige Energie aufzunehmen.
Würde man den Tieren in dieser Phase das energie- beziehungsweise eiweißreiche Kraftfutter, dass sie zur Bedarfsdeckung unbedingt brauchen, jetzt auch noch „politisch motiviert“ vorenthalten, führt das zu tierschutzrelevanten Gesundheitsstörungen.
Erst im weiteren Verlauf und gegen Ende der Laktation könnte man die Kraftfuttermenge senken. Erst dann würden die Kühe tatsächlich auch die Milchproduktion drosseln und dafür nicht mehr ihre eigenen Körperreserven angreifen.
Kraftfutter steigert Milchleistung nicht per se
Dass umgekehrt eine höhere Kraftfuttergabe die Milchleistung nicht unmittelbar steigert, kann man übrigens sehr gut in Betrieben sehen, die mit mehreren Rinderrassen arbeiten. Werden etwa Schwarz- oder Rotbunte Milchkühe mit Fleckvieh zusammen gehalten, dann setzen die ersten beiden (Milch)Rassen die gefütterte Ration vor allem in Milch um. Fleckvieh-Kühe – als Zweinutzungsrasse – geben stattdessen bei gleicher Energieaufnahme in der Regel weniger Milch und verfetten dafür stärker. Dies zeigt sehr gut den Einfluss der Züchtung bei gleicher Fütterung.
Zuchtziel „Milchleistung“ zurücknehmen
Wer also möchte, dass Kühe weniger Milch geben, muss zu allererst die Zuchtvorgaben ändern und deutlich mehr Wert auf Langlebigkeit, Fundament und Fruchtbarkeit legen als auf Milchleistung. So ließe sich der erreichte „Zuchtfortschritt“ in Bezug auf die Milchleistung langsam und tierschutzkonform wieder rückgängig machen und die Widerstandsfähigkeit der Tiere verbessern. Bis dahin brauchen die aktuellen Milchkuhrassen ausreichende und individuell passende Futterrationen – auch mit Kraftfutter.
wir-sind-tierarzt.de meint:
(aw) – Eine schnelle Milchmengensteuerung einfach durch weniger Kraftfutter ist eine Illusion – mit womöglich tierschutzrelevanten Folgen. Mich ärgert, dass in der öffentlichen Debatte – um das gute Ziel einer besseren Nutztierhaltung zu erreichen –, immer öfter zur „verbalen Vereinfachung“ gegriffen wird. Komplexe Vorgänge reduzieren sich auf „Kampfbegriffe“, die systematisch negativ aufgeladen werden: „Kraftfutter“ oder „(Reserve)Antibiotika“ sind aktuelle Beispiele.
Es mag politisch einfacher und medial Erfolg versprechender sein, solche komplexen Themen auf ein schlichtes gut (Weide) vs. böse (Kraftfutter) zu reduzieren. Den Tieren und der Tiergesundheit erweist man damit keinen Dienst.