Kanadische Professorin: Tränkemanagement ist tierschutzrelevant

Prof. Marina von KeyserlingkProf. Marina von Keyserlingk, University of British Columbia (Foto:©WiSiTiA/aw)

Mit einer Reihe neuer Forschungsergebnisse im Gepäck reiste Prof. Marina von Keyserlingk von der University of British Columbia nach Deutschland. Die Kälberaufzucht ist eines ihrer Spezialgebiete und sie zerstörte beim Seminar „Kuhwohl und mehr“ so manches deutsche Klischee – von Tierschützern ebenso wie von Tierhaltern. 

(aw) – Etwa 90 Tierärzte, Landwirte und landwirtschaftliche Berater folgten der Einladung in den neuen Konferenzraum des Bayerischen Tiergesundheitsdienstes (TGD) nach Poing/Grub. Das Fachmagazin „Elite“ hatte eingeladen, um über neue Entwicklungen zum Thema Tierwohl im Rinderbereich zu informieren. Unterstützt wurde die Vorträge der kanadischen Professorin und zwei deutscher Kollegen von Boehringer Ingelheim.

Prof. Marina von Keyserlingk

Prof. Marina von Keyserlingk, University of British Columbia (Foto:©WiSiTiA/aw)

Trennung von Mutter und Kalb sinnvoll

Da es zur Zeit keine Stallsysteme gibt, in denen Milchkühe und ihre Kälber sinnvoll gemeinsam gehalten werden können, sollten Mutter und Kalb so schnell wie möglich nach der Geburt getrennt werden, rät Prof. Marina von Keyserlingk. Diese Feststellung steht übrigens im Widerspruch  zu einer ganzen Reihe von gerade laufenden Tierschutzkampagnen (Beispiele hier oder hier und hier). Die Kampagnen übersehen geflissentlich, dass in allen Haltungsformen die Kälber früher oder später von ihren Müttern getrennt werden müssen.
Durch eine frühe Trennung sei der Trennungsschmerz deutlich geringer, als wenn sich die Tiere aneinander gewöhnt haben, erklärt Prof. Keyserlingk. Während Kühe ihre Kälber unter Umständen einige Tage suchen (Lautäußerungen), schienen Kälber ihre Mütter kaum zu vermissen. Das ändere sich, sobald die Kälber ein Mal an ihrer Mutter getrunken hätten.

Mehrmals täglich Nuckeleimer füllen

Grafik zur Milchfütterung

Grafik zur Milchfütterung von Prof. Marina von Keyserlingk, UBC (Foto:©WiSiTiA/aw)

In der Natur trinken selbst neugeborene Kälber bis zu zehn Liter Milch pro Tag. Fütterungsversuche haben gezeigt, dass eine Steigerung der Tränkemenge gegenüber herkömmlichen Empfehlungen auf mindestens 20 Prozent des Körpergewichts oder ad libitum problemlos funktioniert. Die Kälber sind dann gesünder als knapp gehaltene Artgenossen. Wichtig ist hierbei, dass die Kälber mit Nuckeleimern (oder Tränkeautomat) gefüttert werden, damit sie die Milch langsam zu sich nehmen und es nicht zum „Pansentrinken“ kommt. Außerdem sollte die Menge am besten in mehr als zwei Portionen aufgeteilt werden. Kälber in Mutterkuhhaltung saufen fünf bis zehn Mal täglich etwa zehn Minuten lang.
Marina von Keyserlingk hält das Tränkemanagement für tierschutzrelevant, denn die empfohlenen zehn Prozent des Körpergewichts (ca. vier Liter bei HF-Kälbern pro Tag) reichen nicht aus. Die Kälber haben immer Hunger und nehmen daher auch nicht zu. Durchfall verursacht die höhere Menge übrigens nicht, auch wenn in der Regel der Stuhl etwas weicher wird. Das ist nicht pathologisch. Insgesamt sind Kälber, die mehr Milch erhalten gesünder und geben später als Kühe selber mehr Milch (600-1.000 Liter pro Laktation).

Gruppenhaltung steigert Sozialkompetenz

Versuche haben gezeigt, dass es für die Lernfähigkeit und soziale Kompetenz der Kälber besser ist, wenn sie nicht einzeln, sondern in Gruppen gehalten werden. Schon die paarweise Haltung während der Tränkeperiode hat viele Vorteile. Daher werden Kälber im Versuchsgut der  University of British Columbia schon nach drei Lebenstagen paarweise gehalten. Werden die Tiere ausreichend gefüttert, kommt es kaum zum befürchteten gegenseitigem Besaugen. Diese Verhaltensstörung hält viele Landwirte davon ab, Kälber in Gruppen zu halten.
Doch auch im Hinblick auf den Stress während des Absetzens hat die Gruppenhaltung Vorteile, wie Prof. Keyserlingk formuliert: „Mit der besten Freundin zusammen ist es nicht mehr so schlimm, als wenn man ganz alleine leidet.“
Die Gruppenhaltung braucht nicht ab dem ersten oder dritten Lebenstag zu beginnen, aber es ist sinnvoll, die Einzelhaltung rechtzeitig vor dem Absetzen zu beenden. Wenn in einer Gruppe bereits abgesetzte Kälber und solche, die noch Milch bekommen, gemeinsam gehalten werden, fällt den jüngeren Kälbern die Futterumstellung in der Regel leichter. Sie können nämlich die älteren Tiere bei der Futteraufnahme beobachten und lernen besser, wo es etwas zu Fressen und Trinken gibt.

Raufutter in den ersten zwei Lebenswochen nicht sinnvoll

Das neugeborene Kalb besitzt keinen nennenswert ausgeprägten Pansen. Daher macht es wenig Sinn, bereits in den ersten zwei Wochen Kälberstarter und Heu anzubieten. Der Pansen entwickelt sich langsam und Kälber, die zu früh zu viel Raufutter aufnehmen, mit dem sie eigentlich noch nichts anfangen können, bekommen lediglich „Heubäuche“, bauen aber keine Muskelmasse auf. Die Pansenentwicklung ist erst dann ausreichend gut, wenn die Kälber trotz abnehmender Milchfütterung zunehmen.

wir-sind-tierarzt meint:

(aw) – Die Futtertips sollten Tierhalter beherzigen, gerade bei Deutschen  Schwarzbunten (DSB). Vielleicht lässt sich das Problem der ungeliebten DSB-Bullenkälber (Bericht hier) reduzieren, wenn die Kälber deutlich mehr Milch/Milchaustauscher bekommen. Sie wären vermutlich gesünder und schwerer und würden dadurch bessere Verkaufspreise erzielen, als wenn sie „großgehungert“ werden.

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Über den Autor

Annegret Wagner

Dr. Annegret Wagner (aw) hat in Gießen Tiermedizin studiert und arbeitet seit 1991 in der Großtierpraxis; seit 2005 niedergelassen in eigener Praxis mit Schwerpunkt Milchrind im Raum Rosenheim. Seit 2006 arbeitet sie auch als tiermedizinische Fachjournalistin. So hat sie für die VETimpulse die Nutztierthemen betreut und übernimmt diese Aufgabe auch bei wir-sind-tierarzt.de. Um nicht zum Mia-san-mia-Bayer zu mutieren, schaut sie intensiv über den Alpenrand hinaus, vorzugsweise ins englischsprachige Ausland. Kontakt: annegret.wagner(at)wir-sind-tierarzt.de
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