In jedem dritten deutschen Haushalt lebt mindestens ein Tier. Macht insgesamt knapp 30 Millionen¹ – als Freizeit- und Hobbypartner. Knapp 200.000 Landwirte halten außerdem annähernd 200 Millionen lebensmittelliefernde Tiere. All diese Tiere – in Haus und Stall – sind Nutz-Tiere, denn „artgerecht ist nur die Freiheit“. So lautet zumindest eine Parole. Jan Grossarth beschäftigt sich in der FAZ mit eben diesem (gesellschaftlichen) „Nutzen des Tieres“ – und polarisiert dabei ebenfalls.
Jörg Held über einen FAZ-Artikel
Den FAZ-Redakteur umtreibt, was Tierärzte und Landwirte schon länger mit einer gewissen Sorge betrachten: Die Vermenschlichung des (Haus)Tieres, die Landwirtschaft als Ponyhof, die Debatte fast nur über Extreme. Daran arbeitet – aus meiner Sicht – die Lebensmittelindustrie durchaus fleißig mit, wenn etwa die Bergader-Molkerei vor der Tagesschau wirbt, der eigene Käse stamme von Bauernhöfen mit weniger als 25 Kühen. Klein wird da zum idyllischen „per-se-gut-und -wir-sind-anders-Argument“ (einen Kommentar zur Werbeidylle finden Sie hier).
Gefühle als politische und wissenschaftliche Katagorie?
Und auch der Wissenschaftliche Beirat für Agrarapolitik (WAB) der Bundesregierung argumentiere in diese Richtung, glaubt Grossarth: Das am 25. März 2015 veröffentlichte Gutachten der Agrarweisen „macht die Gefühle der Menschen zum Tier zur relevanten Kategorie“ – und zwar nicht nur zu einer politischen, sondern wissenschaftlichen Betrachtung.
Das werfe die Frage auf: Ist das (landwirtschaftliche) Nutztier überhaupt noch zeitgemäß? Aus dem Bewusstsein der Leute ist es verschwunden. Man kennt die Ställe nur aus dem Fernsehen, das über Skandale berichtet. Auf dem Land und in der Landschaft sieht kaum noch jemand ein Schwein oder eine Kuh. Die stehen in digital gemanagten – und gemäß (Schweine)Hygieneverordnung – abgeschirmten Ställen.
Fordern, aber nicht kaufen
Auf der anderen Seite bleibe der Fleischkonsum nahezu konstant, schreibt die FAZ. Ökofleisch werde sogar weniger gekauft.
Zumindest entsprechen die Zuwachsraten nicht mal ansatzweise dem Widerhall der ganzen Tierhaltungsdebatte in den Medien – das hat wir-sind-tierarzt hier berichtet. Die sogenannten „Alternativhühner“, die das Unternehmen Wiesenhof oder der Tierschutzbund mit seinem Tierschutzlabel anbieten und die – mit Auslauf und vergrößertem Platzangebot beschenkt – zum doppelten Preis des Billighuhns in der Kühltheke liegen, kaufen die Menschen kaum. „Es ist nicht richtig, dass die Wirtschaft keine Angebote gemacht hatte. Sie werden aber kaum angenommen,“ schreibt Grossarth.
Gleiche Bedingungen für Schwein und Hund
Trotzdem gebe es eine gesellschaftliche Forderung nach einem „Tierrecht auf Glück“ – was daraus folgt, ist klar (für den FAZ-Redakteur): „Bauern müssten Tiere im Prinzip halten wie andere Leute Hunde. Mit Zuwendung, abwechslungsreichem Programm, in ästhetisch vorzeigbarem Stall.“
Wer wachen Auges durch Großstädte wandelt (ich lebe in Köln – mein Nachbar hält einen Husky auf 5o Quadratmetern) oder zwei Stunden in einem Straßencafe sitzt, wird sich das, was er da sehen kann, nicht wirklich für alle Tiere wünschen (zum Beispiel diese Form der Vermenschlichung). Es gibt extreme Auswüchse: in der Haus- und in der Nutztierhaltung. Beides ist nicht Regel. Doch beides prägt die Debatte als „typisches Beispiel“.
„Unverschämt undemokratisch“
Auch Grossarth spitzt die Debatte zu: „Wenn man Landwirtschaft, polemisch gesagt, vom Ponyhof her neu definieren will, müsste man konsequenterweise fragen: Ist es überhaupt zumutbar, dass Tiere getötet werden – für Milch, Fleisch, Leder, Medikamente? Und haben Tiere nicht ein Recht auf ein langes Leben?“ Dieser Gedanke sei „unverschämt undemokratisch“. Es sei vielleicht ein Fehler, auf die Gefühle der Bürger zu hören bezüglich einer Sache, „von der sie wenig verstehen“.
Die Suche nach dem Kompromiss
Es wird Kompromisse geben müssen zwischen menschlichen Idealen, echten Tierbedürfnissen und ökonomischer Machbarkeit. Die Wissenschaft bringt sich mit dem Gutachten (siehe unten) aus Grossarths Sicht in Position „als Sprachrohr von Bürgerinteressen, denen sie selbst nicht traut“. Das sei nicht ihre Aufgabe, sondern das Spielfeld der Politik. Die Gutachter forderten eine „Reduktion der Konsummenge von Fleisch. Das wagt kein Politiker. Dafür gibt es keine Mehrheit, das zeigte das Debakel der Grünen mit dem Veggie Day.“ Es könnte ein Irrtum sein, dass die Leute meinen, eine „Ponyhofisierung der Nutztierhaltung sei ein Projekt bürgerlicher Freiheit.“
wir-sind-tierarzt meint:
(jh) – Da ist sie dann wieder die Polarisierung in der Debatte: Eine „Ponyhofisierung“ fordert das Gutachten aus meiner Sicht definitiv nicht. Aber ein deutliche Veränderung der (Nutz)Tierhaltung. Und zwar einen Mittelweg zwischen „Bio“ und „Billig“. Einen, der auch in vielen tierärztlichen Positionspapieren beschrieben wird: Eine tiergerechte Nutztierhaltung, die nicht zu verwechseln ist mit als „artgerecht“ angesehenen Lebensbedingungen der „freien Wildbahn“. Das Wissen darüber ist zu einem Teil vorhanden. Zu einem anderen Teil muss auch hier noch ein Fachkonsens gefunden werden (Stichworte: Schanzkupieren bei Ferkeln/Ebermast/Schnabelkürzen). Doch Änderungen sind zwingend.
Woran ich aus ganz persönlichen Erfahrungen aber zweifele, ist die ökonomische Bereitschaft der Konsumenten, selbst diesen Mittelweg zu bezahlen.
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Dokumente zum Gutachten des Wissenschaftlichen Beirates des Bundeslandwirtschaftsministeriums
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Zusammenfassung des Gutachtens
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Etwas ausführlichere Kurzfassung des Gutachtens
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Das komplette Gutachten (>400 Seiten)
¹Quelle: Haustierzahlen 2013/Grafik: Statista/ZZF
²Quelle: Nutztierzahlen