Die Bundesregierung soll eine „differenzierte Liste“ der für die Humanmedizin wichtigen, sogenannten „Reserveantibiotika“ erstellen, fordern die Agrarminister der 16 Bundesländer. Sie soll Grundlage für „Anwendungsbeschränkungen der antimikrobiell wirksamen Stoffe und Stoffgruppen in der Veterinärmedizin“ werden. Doch die Agrarressortchefs interpretieren ihren einstimmigen Beschluss zum Teil erstaunlich weit – bis hin zu einem „Verbot von Reserveantibiotika in der Tierhaltung“ (Niedersachsen). (erstellt: 20.3.2015 / komplett überarbeitet: 21.3.2015/aktualisiert 24.3.2015)
Eine Einordnung von Jörg Held
Im Raum stand die Forderung, sogenannte „Reserveantibiotika“ für die Veterinärmedizin komplett zu verbieten. Dieser von den vier Grün-mitregierten Bundesländern NRW, Niedersachsen, Hessen und Rheinland-Pfalz eingebrachte Antrag konnte sich aber auf der Agraministerkonferenz (AMK) in Bad Homburg (18.20.3.2015) nicht durchsetzen; ebenso wenig wie die Gegenposition, zu diesem Thema gar nichts zu beschliessen.
Einschränkungen ja – Totalverbot unwahrscheinlich
Stattdessen fassten die Agrarminister laut vorläufigem Protokoll – das wir-sind-tierarzt in Auszügen vorliegt – folgenden Beschluss zum Tagesordnungspunkt 31, der gemäß dem Grünen Antrag „Vorbereitung eines Verbotes des Einsatzes in der Veterinärmedizin“ überschrieben war:
„Die Ministerinnen, Minister und Senatoren der Agrarressorts der Länder bitten den Bund, eine differenzierte Liste vorzulegen, welche antimikrobiell wirksamen Stoffe oder Stoffgruppen Gegenstand von Anwendungsbeschränkungen in der Veterinärmedizin werden sollen.
Diese Wirkstoffe dürfen, je nach therapeutischer Bedeutung
– nicht in der Veterinärmedizin
– oder nur nach Erstellung eines Antibiogramms
– oder nur für eng in der Zulassung definierte Anwendungsgebiete eingesetzt werden.“
Kaskadenregelung aus Tierschutzgründen
Diese „Kaskadenregelung“ und die differenzierte Liste soll es erlauben, so ist aus Verhandlungskreisen zu hören, die verschiedenen Anwendungsgebiete in der Veterinärmedizin – von der Nutztiermast bis zu kleinen Heimtieren – jeweils angepasst zu reglementieren. Damit sollen im Sinne des Tierschutzes einzelne Tiere und Tierarten nicht durch ein pauschales Totalverbot antimikrobieller Wirkstoffklassen von lebensnotwendigen Therapieoptionen ausgeschlossen werden. Die entsprechenden Regelungen soll die Bundesregierung, so fordern die Agrarminister, „schnellstmöglich“ treffen, indem sie von der bereits im Arzneimittelgesetz (§ 56a AMG) erteilten Ermächtigung Gebrauch macht – und hierbei besonders die „sogenannten kritischen, wichtigen Wirkstoffe und Wirkstoffgruppen“ berücksichtigt. Mit dieser Wortwahl greift die AMK die WHO-Definition des „critically important“ auf. Die so bezeichneten Antibiotika hat die WHO hier aufgelistet und wir-sind-tierarzt hier in einem eigenen Artikel in den internationalen Kontext eingeordnet.
Keine pauschale Schuldzuweisung an Tiermedizin
In ihrem Beschluss sprechen die Agrarminister außerdem ausdrücklich von (Zitat) „großer Sorge beim Blick auf die Antibiotikaresistenzen in der Human- und Veterinärmedizin“ und weist damit wohl bewusst der Tierhaltung keine einseitige „Schuld“ zu.
Dass auch die Resistenzprobleme in der Humanmedizin politisch adressiert werden, zeigt der wenig Tage nach der Agrarministerkonferenz veröffentlichte Zehn-Punkte-Plan von Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe (23.3.2015) zur Resistenzbekämpfung. Von Verordnungsbeschränkungen oder konkreten Zielen, um die Menge der 300 Tonnen in der Humanmedizin verordneten Reserveantibiotika zu reduzieren, ist darin allerdings nichts zu lesen.
Reserveantibiotika bleiben politischer Kampfbegriff
Umgekehrt steht fest: „Reserveantibiotika“ bleiben weiter ein Kampfbegriff im Streit um die „Agrarwende“. Das wird klar, wenn man liest, wie unterschiedlich die einzelnen Länderministerien ihren einstimmigen Beschluss anschließend in den Pressemeldungen zur AMK wiedergeben und interpretieren. Das reicht von einem knallharten „Verbot in der Tierhaltung“ (Niedersachsen) über die „Eindämmung von Antibiotikamissbrauch in industriellen Tierhaltungen“ (Rheinland-Pfalz) bis zur vollständigen Nichtbeachtung dieses Tagesordnungspunktes in der Pressemeldung (etwa bei Bayern, Baden-Württemberg (grüner Ministerpräsident) oder Mecklenburg-Vorpommern).
Niedersachsen: „Verbot von Reserveantibiotika in der Tierhaltung“
Er sei „hocherfreut über den … einstimmig getroffenen Beschluss zum Verbot von Reserveantibiotika in der Tierhaltung“, lässt Niedersachsens Grüner Landwirtschaftsminister Christan Meyer als Ergebnis aus Bad Homburg wörtlich vermelden (Wortlaut der Pressemeldung hier). Jetzt sei klar: „Bestimmte Stoffgruppen sollten der Humanmedizin vorbehalten bleiben. Es darf nicht sein, dass hochgefährliche resistente Keime im Tierstall entstehen und deshalb Menschen gesundheitlich gefährdet werden.“ Überschrieben ist seine Presseinformation mit: „Verbot von Reserveantibiotika in der Nutztierhaltung soll kommen“.
Die kämpferische Formulierung führte dazu, dass topagrar-online einen „Sieg“ für Niedersachsens Minister Meyer meldete, der „ein bundesweites Verbot von Reserveantibiotika im Stall durchgesetzt“ habe. Das aber wurde so genau nicht beschlossen.
Meyer ist im übrigen der einzige Minister, der das Thema „Reservantibiotika“ zum alles beherrschenden Top-Thema seiner Pressemeldung erhob. In allen anderen wir-sind-tierarzt vorliegenden Medieninformationen (Stand 20.3.2015) sind die Antibiotika, wenn überhaupt, ein Thema unter vielen.
Schleswig Holstein: „Eingeschränkte Anwendung“
Sehr sachlich formuliert ist etwa die Information aus dem ebenfalls rot-grün-regierten Schleswig-Holstein: „Die Agrarminister fordern den Bund auf, in einem Jahr eine differenzierte Liste mit jenen Stoffen vorzulegen, die in der Veterinärmedizin nur eingeschränkt angewendet werden sollten. Diese Liste kann Grundlage werden, um bestimmte Antibiotiotika in der Tierhaltung zu verbieten“, teilt Schleswig-Holsteins Grüner Agrarminister Robert Harbeck im vierten Absatz seiner Pressemeldung mit. Aber auch er möchte einige Medikamente allein der Humanmedizin vorbehalten sehen.
Hessen: „Klar definierte Ausnahmefälle“
Die aktuelle Vorsitzende der Agraministerkonferenz, Hessens Grüne Landwirtschaftsministerin Priska Hinz, ließ mitteilen (Absatz 7 ihrer Pressemeldung): „Mit großer Sorge sehen die Mitglieder der AMK die zunehmende Herausbildung von Antibiotikaresistenzen in der Human- und Veterinärmedizin. Besonderes Augenmerk wird dabei auf die Verwendung bestimmter Reserveantibiotika gelegt.“ Die vom Bund zu erstellende Liste solle festlegen, „welche Antibiotika künftig nicht mehr oder nur noch in klar definierten Ausnahmefällen durch Tierärzte verabreicht werden dürfen.“ Das sei im Sinne der Verbraucher, die den „überbordenden Einsatz von Antibiotika in der Nutztierhaltung sehr skeptisch bewerten“.
Rheinland-Pfalz: Antibiotika in der Tierhaltung begrenzen
Die Grüne Landwirtschaftsministerin Ulrike Höfken aus Rheinland-Pfalz hat die „Begrenzung in der Tierhaltung“ als einen von drei Punkten in die Überschrift ihrer Pressemeldung gesetzt. Sie sieht darin „erste Schritte für ein Verbot von Reserveantibiotika in der Tierhaltung“, spricht von „Reserveantibiotika …, die für Notfälle in der Humanmedizin vorgehalten und deren Anwendung in der Veterinärmedizin beschränkt werden soll“. Damit solle zugleich der „Antibiotikamissbrauch in großen industriellen Tierhaltungen eingedämmt werden.“
SPD fordert strikte Beschränkung
Auch der agrarpolitische Sprecher der SPD Dr. Wilhelm Priesmeier meldet sich für seine Partei per Pressemeldung zu Wort und fordert – mit Verweis auf den Beschluss der Länder-Agrarminister: „Unser Ziel ist es, den Antibiotika-Einsatz in der Tierhaltung auf das medizinisch unbedingt notwendige Mindestmaß zu verringern. Die Verwendung von Reserveantibiotika muss strikt beschränkt werden.“ Dazu sei der AMK-Beschluss zügig umzusetzen.
wir-sind-tierarzt meint:
(jh) – Diese, nicht vollständige, Übersicht zeigt einmal mehr: Minister-Beschlüsse zu gesellschaftlich extrem wichtigen Themen wie den antimikrobiellen Resistenzen werden zwar sorgfältig ausgearbeitet und in diesem Falle im Interesse von Mensch und Tier sehr ausgewogen formuliert (Wortlaut). Dennoch kommunizieren einzelne Minister die gemeinsam erarbeiteten Ergebnisse anschließend – vorsichtig formuliert – parteipolitisch stark eingefärbt und mit Formulierungen, die eben so gerade nicht beschlossen wurden. Ich persönliche halte das zumindest im Falle von Niedersachsen schon fast für Desinformation.
Schade ist, dass auch ein ehemaliger Tierarzt, der SPD-Bundestagsabgeordnete Dr. Wilhelm Priesmeier, pauschal von „in der Veterinärmedizin nicht mehr verabreichen“ spricht. Als Tierarzt sollte er wissen, dass Beschränkungen für DIE Veterinärmedizin insgesamt ein Tierschutzproblem heraufbeschwören. Es ist eben wichtig – wie ja auch beschlossen – nach Tierarten und Haltungsformen (z.B. Tiermast) „differenziert“ den Einsatz der zu definierenden Reserveantibiotika zu reglementieren.