(jh) – Mehr Tierschutz und einen fundamentalen Wandel in den rund 200.000 Nutztierhaltungen in Deutschland, fordert der Wissenschaftliche Beirat für Agrarpolitik (WAB) der Bundesregierung. Die Professoren sehen „erhebliche Defizite“, die abzubauen „dringend erforderlich ist“. Ohne wäre die Nutztierhaltung nicht zukunftsfähig. Das Ganze soll geschätzte fünf Milliarden Euro pro Jahr kosten. Verbraucher müssten dann im Supermarkt drei bis sechs Prozent mehr bezahlen als bisher. Das Gutachten war ein Paukenschlag für die Branche – entsprechend heftig sind die Reaktionen.
(erste Veröffentlichung 25.3.2015 um 9:38 / komplett überarbeitet: 25.3.2015 18:15/aktualisiert: 26.3.2015)
Die Gesellschaft akzeptiere die derzeitigen Haltungsbedingungen für Nutztiere immer weniger, weil es eine veränderte Einstellung zur Mensch-Tier-Beziehung gebe, glaubt der Wissenschaftliche Beirat für Agrarapolitik (WAB). „In vielen gängigen Tierhaltungssystemen besteht ein hohes Risiko für das Auftreten von Schmerzen, Leiden und Schäden für die Tiere,“ sagt Prof. Matthias Gauly, einziger Tiermediziner unter den 17 Professoren im Beirat. Deshalb hält der WAB „die Haltungsbedingungen eines Großteils der Nutztiere für nicht zukunftsfähig“ und hat Leitlinien und Empfehlungen für eine gesellschaftlich akzeptierte Nutztierhaltung entwickelt.
Dabei gehen die Wissenschaftler auch konkret auf die „Massentierhaltung“ ein und halten fest: Nach derzeitigem Kenntnisstand hat die Betriebsgröße gegenüber anderen Einflussfaktoren (wie der Managementqualität) einen vergleichsweise geringen Einfluss auf das Tierwohl.
Tiefgreifende Änderung der Nutztierhaltung nötig
Konkret nennt das am 25.März an das Bundeslandwirtschaftsministerium übergebene Gutachten folgende zu verändernde Punkte:
- (1) Zugang aller Nutztiere zu verschiedenen Klimazonen, vorzugsweise Außenklima,
- (2) Angebot unterschiedlicher Funktionsbereiche mit verschiedenen Bodenbelägen,
- (3) Angebot von Einrichtungen, Stoffen und Reizen zur artgemäßen Beschäftigung, Nahrungs- aufnahme und Körperpflege,
- (4) Angebot von ausreichend Platz,
- (5) Verzicht auf Amputationen (binnen drei Jahren/Puten 5 Jahre),
- (6) routinemäßige betriebliche Eigenkontrollen anhand tierbezogener Tierwohlindikatoren,
- (7) deutlich reduzierter Arzneimitteleinsatz,
- (8) verbesserter Bildungs-, Kenntnis- und Motivationsstand der im Tierbereich arbeitenden Personen und
- (9) eine stärkere Berücksichtigung funktionaler Merkmale in der Zucht.
Nicht in der „Punkteliste“ aber ebenfalls gefordert sind mehr und schärfere Kontrollen der bestehenden Tierschutzvorschriften durch die Bundesländer.
Tierschutz: Teuer, aber machbar
Die Umsetzung erfordere zwar erhebliche Anpassungen, könne aber sofort begonnen werden, auch wenn einiges länger dauern werde. Die Mehrkosten lägen bei drei bis fünf Milliarden Euro pro Jahr. Obwohl sich für die Landwirte die Kosten um 13 bis 23 Prozent erhöhen (im Schnitt der Betriebe um 25.000.- Euro), würden für die Verbraucher die Produkte nur drei bis sechs Prozent teurer, schätzen die Gutachter. Der Grund: Die Erzeuger erhielten bislang nur etwa ein Viertel des im Laden bezahlten Preises. Die Mehrkosten an der Supermarktkasse entsprächen „der bekundeten Zahlungsbereitschaft eines erheblichen Teils der Bevölkerung, die jedoch aufgrund fehlender Konzepte und der internationalen Marktintegration zurzeit nicht realisiert wird.“
Ohne politische Begleitmaßnahmen würde eine solche Kostensteigerung aber aufgrund des Wettbewerbsdrucks zur Abwanderung von Teilen der Produktion in Länder mit geringeren Tierschutzstandards führen. Das konterkariere dann die Tierschutzziele.
EU-Zuschüsse für Tierschutz umwidmen
Ohne finanzielle Hilfen prognostizieren die Gutachter gewaltige Strukturveränderungen. Die Schweinehaltung soll um 20 bis 37 Prozent zurückgehen. Bei Rindfleisch, Geflügel und Eier soll die Produktion um 8 bis 16 Prozent einbrechen. Nur bei der Milch würde sich kaum etwas ändern. Eine gemeinsame Einführung höherer Standards mit anderen EU-Ländern könnte die Produktionsrückgänge allerdings verringern, betont der WBA. Das Ziel müsse also „weitgehender“ Erhalt der Wettbewerbsfähigkeit sein. Der Staat sollte deshalb Musterbetriebe fördern und EU-Geld für mehr Tierschutz in der Nutztierhaltung umschichten und auf EU-Ebene koordinierte Tierschutzinitiativen anstoßen.
Bestandsobergrenzen aus Umweltschutzgründen
Gleichzeitig fordert die 17 Wissenschaftler des Beirates auch Maßnahmen zum Natur-, Wasser- und Klimaschutz (Stichwort Düngeverordnungung). Sollten dabei keine Verbesserungen erzielt werden, sieht der WBA mittelfristig nur eine Konsequenz: Die Reduktion von Tierbeständen in den gegenwärtigen „Ballungsregionen“ der Tierhaltung. Entsprechend dem niederländischen Modell sollten dann regionale Bestandsobergrenzen eingeführt werden.
„Leichtfertig und praxisfern“ – Stimmen zum Gutachten
Das Gutachten schlägt hohe Wellen, entsprechend interpretieren die Interessenverbände die Aussagen sehr unterschiedlich:
So stellt der Bund Ökologische Lebensmittelwirtschaft (BÖLW) fest: „Jetzt ist es amtlich: Öko-Tierhaltung ist die Zukunft! Das Gutachten zeigt: Industrielle Tierproduktion ist nicht zukunftsfähig. Bundeslandwirtschaftsminister Schmidt muss Weichen auf Öko-Tierhaltung stellen.“
Für „leichtfertig und praxisfern“ hält dagegen der Deutsche Bauernverband (DBV) die Empfehlungen. Das Gutachten habe „methodisches Schwächen“. Ein „radikaler Umbau mit der Brechstange führt die Landwirtschaft ins Abseits und bringt den Tierschutz nicht weiter. Wir setzen statt dessen auf weitere Optimierung der Tierhaltung, die sich an gesellschaftlichen Anforderungen, aber auch an der Umsetzbarkeit im Markt orientiert.“
Noch drastischer argumentiert der Bayerische Bauernverband: Das Gutachten enthalte eine „pauschale Diffamierung statt realistischer Weiterentwicklungsimpulse“ und sei „ein Schlag ins Gesicht unserer gut ausgebildeten und verantwortungsbewussten Tierhalter“.
Der BUND für Umwelt und Naturschutz Deutschland interpretiert die Hinweise des Gutachtens zu Tierhaltungszahlen komplett im Interesse eigener Positionen: „Der BUND sieht sich durch das Wissenschaftler-Gutachten in seiner Kritik an der Massentierhaltung bestätigt. Der BUND-Vorsitzende forderte, die Anzahl der gehaltenen Tiere pro Hof den verfügbaren Flächen und die produzierte Menge an Fleisch und Milch dem tatsächlichen Inlandsbedarf anzupassen.“
Niedersachsen (Grüner) Landwirtschaftsminister Christian Meyer vermeldet: „Die Analysen sind eindeutig, die Empfehlungen unmissverständlich. Der Sachverständigenrat fordert eine radikale Wende beim Tierschutz und bestätigt damit eindrucksvoll Niedersachsens Tierschutzplan.“ Der wurde allerdings von Meyers Vorgänger, CDU-Minister Gerd Lindemann, entworfen. Meyer Folgerung aus dem Gutachten: „Wir brauchen das Kombi-Paket aus staatlichen Fördermaßnahmen, deutlicherer Kennzeichnung von Lebensmitteln und verstärkter Einbindung des Handels.“
Die Partei DIE LINKE sieht ihre Position durch das Gutachetn ebenfalls bestätigt: „Nicht die Größe der Bestände allein ist entscheidend, sondern auch die Haltungsbedingungen und das Management, ob es Mensch und Tier gut geht in den Ställen. Trotzdem brauchen wir einen Deckel für Tierbestände am Standort und in den Regionen.“
So sieht es auch die SPD. Der Agrarpolitische Sprecher Dr. Wilhelm Priesmeier teilt mit: „Das Gutachten definiert Leitlinien für eine zukunftsfähige und von der Mehrheit der Bevölkerung akzeptierte Tierhaltung. Diese Leitlinien decken sich mit den Forderungen der SPD nach einer tiergerechteren Nutztierhaltung in Deutschland.“
Hinweis auf einen Politikwechsel?
Das WAB-Gutachten wird in der Branche als „Paukenschlag“ gewertet und könnte durchaus Hinweis für einen Politikwechsel sein. Warum, das zeigt auch ein Vergleich, den Thomas Wengenroth auf stallbesuch.de erstellt hat: Die Gegenüberstellung der Aussagen der „Agrarweisen“ aus dem Jahr 2005 mit den neuen aus 2015 zeigt: Die Forderungen fallen heute klar und deutlich und ungewöhnlich konkret aus. Umgekehrt werden die wirtschaftlichen Risiken zwar gesehen, aber geringer bewertet als die gesellschaftlichen Konsequenzen eines „Nichthandelns“.
Quellen
Das Gutachten des Wissenschaftlichen Beirates des Bundeslandwirtschaftsministeriums
-
Zusammenfassung des Gutachtens
-
Etwas ausführlichere Kurzfassung des Gutachtens
-
Das komplette Gutachten
Vorab hatte bereits am Mittwochmorgen die FAZ über das Gutachten berichtet. Der Artikel von Jan Grossarth war Grundlage unserer ersten Meldung.
Dem Beirat gehören Professoren wie der Agrarökonom Prof. Matin Qaim (Göttingen), Prof. Alfons Balmann (Betriebsführung, Halle), Prof. Jürgen Bauhus (Forst, Freiburg), Prof. Harald Grethe (Agrarpolitik, Hohenheim), Prof. Achim Spiller (Marketing, Göttingen) oder Kollege Prof. Matthias Gauly (Tierhaltung, Bozen) an.
Beitragsbild: © Dr. Henrik Hofmann / wisitia 2015
Bilder auf der Titelseite des Gutachtens: Marco Grundt, Katja Seifert/Thünen-Institut, aid infodienst, iStock