#fakescience – wie können sich Tierärzte vor „Raubverlagen“ schützen?

Zuspitzung mit Schlagworten: Wird die Aufmachung der ARD-Berichterstattung dem Problem der "Raubverlage" gerecht? (Foto: Screenshot ARD-Trailer "Die Lügenmacher")

Medien „enthüllen“, dass dubiose Journale das Wissenschaftssystem unterwandert haben: Pseudowissenschaftliche „Raubverlage“ lassen sich dafür bezahlen, ungeprüft Fachartikel zu publizieren und beschädigen so die Glaubwürdigkeit der Forschung. Was ist dran an der #fakescience-Debatte? Und wie können sich forschende Tierärzte davor schützen, auf solche Raubverlage hereinzufallen?

Einordnung von Jörg Held (mit Kommentar)

Federführend für ein Rechernetzwerk mit der Süddeutschen Zeitung und dem WDR enthüllt der NDR (Übersichtsdossier der Berichterstattung hier) wie „Raubverlage“ das Wissenschaftssystem unterwandern. Der Hashtag #fakscience stellt die Glaubwürdigkeit wissenschaftlicher Forschung in Frage. wir-sind-tierarzt versucht eine Einordnung.

„Predatory Journals“ oder „Raubverlage“ – worum geht es?

Das Phänomen der „Predatory Journals“ (Raubverlage) ist kein neues. Schon seit mehreren Jahren diskutiert die internationale Wissenschaftsszene darüber, wie man diesen unseriösen Verlagen begegnen kann (etwa hier, hier oder hier).
Die treten professionell auf und bieten Wissenschaftlern eine kurzfristige Publikation ihrer Studien in vermeintlich wissenschaftlichen (online) Fachzeitschriften an. Die Web-Auftritte sind auf Täuschung optimiert und die Akquise erfolgt zum Teil über aggressives E-Mail-Marketing. Es fehlt aber das versprochene wissenschaftliche Begutachtungsverfahren (Peer Review). Es geht einzig darum, über die „Publikationsgebühr“ schnell Geld zu verdienen.
So landet – neben durchaus wissenschaftlich fundierten Studien – teilweise auch absoluter Müll in den Online-Zeitschriften. Absurdestes Beispiel ist ein „Fachartikel“ mit dem endlos aneinandergereihten Satz: “Get me off your fucking mailing list“– der gegen eine Gebühr von 150 Dollar publiziert wurde.

Das ernstzunehmende Problem dahinter: Die Publikationen der „Raubverleger“ sind für Laien von anerkannten Fachzeitschriften nicht zu unterscheiden. Dass auch Wissenschaftler darauf hereinfallen, ist bedenklich.

Ist auch die Tiermedizin betroffen?

Ja, das Phänomen zieht sich durch nahezu alle akademischen Fachgebiete. Wissenschaftsautor Markus Pössel hat auf seinem Blog beim Wissenschaftsmagazin spektrum.de versucht, die in Medien genannte Zahl von 5.000 deutschen Wissenschaftlern nachzuvollziehen, die solchen fakescience-Journalen auf den Leim gegangen sein sollen: Waren es renommierte Namen oder eher Nachwuchswissenschaftler mit Publikationsdruck?
In einer ersten Auswertung hat er über 700 Publikationen in „predatory journals“ nach deutschen Autoren durchsucht. Im Ergebnis fand er 20 deutsche Fälle. Dabei taucht die kleine Disziplin „Tiermedizin“ und das „Open Journal of Animal Science“ mit drei Veröffentlichungen (im Verhältnis) auffallend oft auf. Pössel stellt fest, dass vor allem Autoren aus angewandten Wissenschaften (darunter Tier-, Humanmedizin und Agrarwissenschaft) in „Raubverlagen“ veröffentlichen – und es weniger die Grundlagenforschung betrifft.
Eine zweite Stichprobenanalyse zeige, dass Deutschland im internationalen Vergleich nicht – wie es etwa die Süddeutsche berichtet – führend sei, sondern eher im Mittelfeld liege. Nach seinen Recherchen fallen die allermeisten Wissenschaftler auch nur einmal auf einen solchen „Raubverlag“ herein – und scheinen dann das Fakepublishing zu erkennen.
Dennoch bleibt das Thema ein Problem, das zu lösen ist.

Wie kann ich als Tierarzt solche „predatory journals“ erkennen?

Die relevanten Medien des eigenen Fachgebietes sollte man kennen. Allerdings ist die internationale Publikationslandschaft inzwischen sehr unübersichtlich. So waren Publikationen eines der „Raubverlage“ – der „OMICS Group Inc“, der in den USA von der Federal Trade Commission (FTC) der Täuschung vorgeworfen wurde – bis 2014 bei Pubmed Central und bis 2017 bei SCOPUS indexiert.

Die Helmholtz-Gemeinschaft – aus deren Reihen laut Medienberichten dutzende Forscher in „Raubjournalen“ publiziert haben sollen – hat eine FAQ-Liste zum Thema „predatory publishing“ veröffentlicht. Die Antworten erklären das Phänomen und wie Wissenschaftler am besten damit umgehen können. Auch das Science Media Center Germany hat ein „FactSheet“ mit Hintergründen zusammengestellt:

SMC: Pseudo Journale – worum es sich handelt und wie die Wissenschaft gegensteuert (PDF-Download)

Helmholtz Open Access: FAQs zum Thema „predatory publishing“

Im Helmholtz-Papier finden sich in Form einer Checkliste auch „Prüfkriterien“, anhand derer man einen seriösen Verlag identifizieren kann, bevor man eine Arbeit zur Veröffentlichung einreicht.
Eine weitere (deutsche) Checkliste gibt es auf der Seite ThinkCheckSubmit. Auch der Deutschlandfunk thematisiert – an einen Fallbeispiel – worauf junge Wissenschaftler achten sollten.
Außerdem kann man in diesen Quellen nach passenden seriösen Publikationen recherchieren:

Verschärft „Open Access“ das Problem?

Der kostenlose und freie Zugriff (Open Access) auf wissenschaftliche Forschungsergebnisse (die überwiegend an öffentlichen Universitäten mit öffentlichen Mitteln erarbeitet wurden) ist ein wachsender gesellschaftlicher Anspruch. Peer Review-Verfahren aber kosten Geld. Den Lösungsweg aus diesem Dilemma hat die Wissenschaftswelt noch nicht gefunden.

Das ScienceMediaCenter sieht bei den Open Access-Zeitschriften aktuell eine Dreiteilung des Marktes:

  • Seriöse Herausgeber – meist gelehrte Gesellschaften und Universitäten, führen und verbreiten Open-Access Zeitschriften mit hohem Impact als „non profits“  (z.B. eLife).
  • „Echte“ kommerzielle Verleger – sie bemühen sich um eine Begutachtung eingereichter Artikel nach wissenschaftlichen Kriterien auch für Open Access Veröffentlichungen (z.B. hier Public Library of Science, kurz PLoS).
  • Die wachsende Flut der „Predatory Publisher“ – diese gaukeln Forschern Publikations- und Karrieremöglichkeiten vor, sind aber vor allem darauf aus, Rendite zu maximieren.

Die Wissenschaftsgemeinde versucht mit „White- and Black-Lists“ sowie Transparenzrichtlinien oder Kriterien für Open Access Publikationsgebühren auf das Problem zu reagieren.

Wissenschaftler unter Publikationsdruck

Die Recherchen von NDR, Süddeutscher Zeitung und anderen legen den Finger in eine offene Wunde des Wissenschaftsbetriebes: Den (wachsenden?) Publikationsdruck. Dieser ermöglicht erst das Geschäftsmodell der „predatory journals“.
Es geht nicht nur um wissenschaftliche Wahrheiten, sondern auch um Status. Wissenschaftliche Karrieren basieren zu einem nicht unerheblichen Teil auf der Publikationsaktivität, der Sichtbarkeit in der jeweiligen Fachdisziplin: „Veröffentlichte Fachartikel“ sind eine Währung im Aufmerksamkeitskampf um Gelder (Drittmittel) und Stellen.
Dieses „ständig publizieren müssen“ schade der Wissenschaft, kommentiert Patrick Ihlinger in der Süddeutschen Zeitung. Auch die wissenschaftlichen Verlage hätten dabei ihre Rolle überreizt: „Sie verdienen ihr Geld damit, dass mit Steuermitteln bezahlte Wissenschaftler Inhalte liefern, die ihnen dann mit Steuermitteln finanzierte Universitäts- und Institutsbibliotheken abkaufen müssen. So verdienen die Wissenschaftsverlage doppelt, während die Wissenschaft sowohl die Arbeit macht als auch bezahlt.“

wir-sind-tierarzt kommentiert:
#fakescience und „Lügenmacher“ – die ARD überdreht

(jh) – Journalisten dürfen Themen zuspitzen. Und ein kritischer Blick auf die Publikationsspirale der Wissenschaft und deren bittere Auswüchse ist mehr als gerechtfertigt. Was mich aber enttäuscht, ist die überdrehte Aufmachung:

„#fakescience“ – also unglaubwürdige, falsche und irreführende Forschungsergebnisse, absichtlich von Wissenschaftlern publiziert?
Nein. Darum geht es in diesem Fall, wenn überhaupt, nur ganz am Rande. Der Anteil dürfte im Promillebereich der weltweit veröffentlichten Publikationen liegen.
Der richtige  – aber natürlich deutlich weniger knackige Begriff – für das Phänomen wäre #fakepublishing: Der Missbrauch branchenüblicher Strukturen zur Gewinnmaximierung – der Klassiker eben. Aber nichts was Wissenschaft an sich zum Fake macht – auch wenn natürlich auch Wissenschaftler Fehler machen.

Doch selbst die ARD betitelt ihren Dokumentarfilm zum Thema „Raubverlage“ mit »Fake Science – die Lügenmacher«
Diese Verknüpfung von „Fake“, „Lüge“ und „Wissenschaft“ ist gerade in den Zeiten aufgeheizter Social-Media-Debatten um Gentechnik, Impfverweigerer oder den Klimawandel eine unnötige Zuspitzung.
Auf der einen Seite gibt es weltweit Versuche – etwa den March for Science – in Zeiten überemotionalisierter Debatten den wissenschaftlichen Fakten wieder mehr Gehör zu verschaffen. Und dann wird auf der anderen bei einem wichtigen, aber dennoch eher randständigen Publikationsproblem die „Lügen-Keule“ ausgepackt? „Die Wissenschaft“ als ganzes mit einem #Hashtag diskreditiert?
Gerade vom gebührenfinanzierten Öffentlich Rechtlichen Rundfunk erwarte ich persönlich, dass er auf diesen letzten „Spin“ zur Reichweitensteigerung verzichtet.
Journalisten müssten eigentlich schmerzlich am eigenen Leib erfahren haben, dass sich zugespitzte Schlagworte a la #fakenews verselbständigen können und dann am Renommee einer ganzen Branche nagen.

Deshalb: Hartnäckig und kritisch weiter berichten, nachhaken, aufdecken – unbedingt! Aber bitte, werte Kollegen bei den Öffentlich Rechtlichen: Rüstet in der Berichterstattung verbal wieder etwas ab. Ihr seid nicht der Boulevard. Verspielt nicht Eure Existenzberechtigung. 

Nachtrag: Inzwischen hat der NDR reagiert und den Begriff #fakescience sowie die ganze Recherche rechtfertigt/erklärt (hier).
Meiner Meinung nach dünn. Wenn man erst über Umwege Begriffszusammenhänge herleiten muss, zeigt dass nur: Es ging um eine möglichst knackig überzeichnendes Schlagwort für die Vermarktung. Journalisten wissen um das Framing mit Begriffen. Sie sollten dann wenigstens auch dazu stehen – oder es korrigieren. (23.7.2018/17:50)

Quellen und weiterführende Links

Einige Veröffentlichungen von Publikumsmedien zur #fakescience-Recherche

Kritik am „Hashtag #fakescience“ üben diese Medien

Hintergründe und Erklärungen aus der Wissenschaft

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Über den Autor

Jörg Held

Jörg Held (jh) ist Journalist, Kommunikationswirt und Redaktionsberater mit 30 Jahren Berufserfahrung. Seit 2007 auch im Bereich Tiermedizin unterwegs, davon 5 Jahre als Redaktionsleiter der VETimpulse. Auch bei wir-sind-tierarzt.de leitet er die Redaktion und ist schwerpunktmäßig für berufspolitische Themen und die Nachrichten verantwortlich. Kontakt: joerg.held(at)wir-sind-tierarzt.de
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