Kein Patentrezept gegen Schwanzbeißen bei Schweinen

Veränderbares Beschäftigungsmaterial – bevorzugt Stroh – kann das Risiko von Schwanzbeißen reduzieren. (Foto: EU-Broschüre)

Das generelle Kupieren von Ferkelschwänzen ist nicht nur in Deutschland grundsätzlich verboten, sondern soll EU-weit abgeschafft werden. Doch noch immer gelingt es selbst in wissenschaftlich begleiteten Modellvorhaben nicht, Ausbrüche von Schwanzbeißen zu verhindern. Eine Übersicht von Risiokofaktoren und Vorbeugemaßnahmen.

(aw/jh) – Mit dem Problem Schwanzbeißen beschäftigen sich Wissenschaftler und Landwirte europaweit – doch es gibt weiter kein Patentrezept zur Verhinderung. In Deutschland hatte zum Jahresanfang das Ergebnis der dritten Phase des NRW-Forschungsprojektes zum „Verzicht auf das ‚routinemäßige‘ Kürzen des Schwanzes bei Schweinen“ für Ernüchterung gesorgt: Trotz vielfältiger Maßnahmen blieben nur 28,3 % der Schwänze unversehrt. Kein Betrieb erreichte die Zielmarke von 95 %.
In Großbritannien hat die Nutztier-Tierschutzorganisation Compassion in World Farming (CIWF) auf  Basis von Untersuchungen der British Pig Executive (BPEX) Empfehlungen zusammengetragen, die Landwirten helfen sollen, nichtkupierte Schweine sicher zu managen. Entstanden sind, Listen mit Risikofaktoren, die – britischen Beobachtungen nach – entweder besonders häufig zum Problem „Schwanzbeißen“ führen oder aber auch diesem vorbeugen können:

Mögliche Auslöser für Schwanzbeißen:

  • Zugluft im Bereich der Liegeflächen
  • verschiedene Schwanzlängen – unterschiedlich lang kupierte und eventuell sogar nicht-kupierte Tiere in einer Gruppe)
  • Jahreszeit (Spätwinter/Frühlingsbeginn) und Frost
  • verschmutztes Beschäftigungsmaterial, das sich ausschließlich auf dem Boden befindet oder schwer zu erreichen ist
  • Schweine werden aus Strohställen in Stallsysteme ohne Einstreu umgestallt
  • verschmutzte Tränken – es besteht ein hochsignifikanter Zusammenhang zwischen verschmutzten Tränken und Schwanzbeissen. Dabei gilt der Zustand der Tränken auch als ein Indikator für ein insgesamt eher schlechtes Management.

Auch im NRW-Projekt wurden beispielsweise das Futter, die Lüftungstechnik oder die Witterung als Störungsquelle genannt. Die EU nennt zusätzlich Konkurrenzverhalten. Ganz vorne in der deutschen Rangliste der Ursachen standen Probleme im Bereich der Tiergesundheit.

In Deutschland stellt das  „Schwanzbeiß Interventionsprogramm (SchwIP)“* des Friedrich-Loeffler-Institutes Online-Schulungen und Checklisten bereit.
Die Webseite ringelschwanz.info bietet einen Leitfaden zum Kupierverzicht interaktive Selbsteinschätzungstool zur Vorbereitung solcher Projekte an.
Die EU hat eine 6-Punkte-Übersicht der Risikofaktoren und möglichen Vorbeugemaßnahmen zusammengestellt (deutsche Fassung).

*Anm.d.Red.: Das SchwIP-Projekt wird aktuell überarbeitet und an neue Erkenntnisse angepasst. Die Webseiteadresse gilt weiter. Neue Inhalte sollen dort ab Mai 2018 online sein.

Multifaktorielles Geschehen – Folie Prof. Lars Schrader (FLI/Tierärztetag Niedersachsen 2015)

Faktoren, die das Risiko des Schwanzbeissens verringern:

Als wichtigste Faktoren zur Reduzierung des Kaudiophagie-Risikos sehen die Briten:

  • Stroh als Beschäftigungsmaterial oder generelle Haltung auf Stroh
  • Impfung gegen PCV2
  • Möglichkeit, mindestens 15 Prozent der Zeit mit geeignetem Beschäftigungsmaterial zu verbringen und mindestens 1 m² Platz pro 100 Kilogramm Gewicht

Veränderbares Beschäftigungsmaterial – bevorzugt Stroh – kann das Risiko von Schwanzbeißen reduzieren. (Foto: EU-Broschüre)

Vorbereitung auf Langschwanzhaltung

Die Briten haben außerdem einige Punkte zusammengestellt, die Landwirte beachten sollen, bevor sie versuchen, Schweine mit intakten Schwänzen zu halten:

  • alle Ställe, in denen unkupierte Tiere gehalten werden sollen, müssen auf eventuelle Risikofaktoren (s.o.) beurteilt und als unbedenklich eingestuft werden
  • alle Schweine einer Gruppe müssen unkupiert sein – die Schwanzlänge sollte nicht auffällig variieren
  • falls es doch zum Schwanzbeissen kommen sollte, müssen genug Möglichkeiten vorhanden sein, um Gruppen zu trennen oder einzelne Tiere zu isolieren.
    Sind diese Möglichkeiten nicht gegeben, sollte auf Versuche am besten verzichtet werden. Die CIWF schlägt zwar vor, die Schweine beispielsweise auf Nachbarbetriebe zu verbringen, falls keine zusätzlichen Ställe im eigenen Betrieb zur Verfügung stehen. Doch diese Maßnahme sollte aus Gründen der Biosicherheit nicht in Erwägung gezogen werden.
  • der Bestandstierarzt sollte vor dem Versuch informiert werden und jederzeit für Notfälle zur Verfügung stehen
  • der zugehörige Schlachtbetrieb sollte über den Versuch informiert sein und sich bereit erklären, im Falle von Problemen auch Schweine unter dem üblichen Schlachtgewicht anzunehmen. Dem Landwirt muss allerdings klar sein, dass er mit Strafen oder Abzügen rechnen muss.

Keine Patentlösung – Fazit von Prof. Steffen Hoy auf der AVA-Tagung 2018.

Früherkennung von Schwanzbeissern

Sobald in einer Gruppe Schwanzveränderungen zu beobachten sind, kann ein Ausbruch von Schwanzbeissen unmittelbar bevorstehen. Die Tiere müssen deshalb genau beobachtet und alle Schwanz- oder Verhaltensänderungen festgehalten werden. Für die Beurteilung der Schwänze im Hinblick auf Rötung, Schwellung, Blutungen und weiterreichende Läsionen gibt es entsprechende Befundlisten.

Sorgfältige Beobachtung nötig: Bei Schwanzveränderungen sofort reagieren. (Foto Naya / ringelschwanz.info)

Notfallplan ist Pflicht

Wenn das Geschehen in einer Tiergruppe eskaliert, muss unverzüglich reagiert werden. Dazu gilt es einen Notfallplan aufzustellen.  Dabei wird in einzelnen Schritten vorgegangen.

  1. Identifizieren der betroffenen Schweine, die in einen Krankenstall gebracht werden sollten. Dort muss eine lokale Versorgung der Schwanzverletzung erfolgen und eventuell auch eine systemische Behandlung mit Kortison und/oder einem nichtsteoridalem Antiphlogistikum zum Abschwellen des Schwanzes und zur Schmerzstillung
  2. Identifizierung des/der Schwanzbeisser. Die müssen aus der Gruppe genommen und in Einzelställe verbracht werden. Diese Ställe sollten ausreichend Beschäftigungsmaterial besitzen, also Stroh, Heuraufen, Holz oder Sägespäne.
  3. Die in der Gruppe verbleibenden Schweine sollten ebenfalls unbedingt neues Beschäftigungsmaterial erhalten. Am Besten eigenen sich Materialien, die essbar sind, also Heu und Stroh, aber auch andere natürliche Materialien, die Schweine verformen und erkunden können, etwa Holz, Sägemehl oder Kompost sind geeignet. Wichtig ist, dass sich die Schweine etwa 20 Prozent ihrer Zeit mit den neuen Angeboten beschäftigen.
  4. Sobald Beschäftigungsmaterial angeboten worden ist, sollte nach den Ursachen für den Auslöser des Schwanzbeissens gesucht werden.
  5. Falls eine Ursache gefunden wurde, müssen auch alle anderen Gruppen im Hinblick auf dieses Problem untersucht werden, vor allem wenn Zugluft, Überbelegung oder fehlendes Beschäftigungsmaterial die Auslöser waren.
  6. Falls es in einem Betrieb immer wieder zu schwerwiegenden Ausbrüchen von Schwanzbeissen kommt, ohne dass eine Ursache gefunden werden kann, sollte die Haltung unkupierter Schweine vorerst unterbleiben.

Quellen:
Britische Auflistung: the pigsite basierend auf Untersuchungen der British Pig Executive (BPEX / PDF-Download)

Deutsche Empfehlungen:
Abschlussbericht des NRW-Forschungsprojektes zum „Verzicht auf das ‚routinemäßige‘ Kürzen des Schwanzes bei Schweinen“ (PDF-Download)
Leitfaden „Kupierverzicht“ – auf der Informationseite ringelschwanz.info, die Ergebnisse aus vielen Caudiophagie-Präventionsprojekten eingebunden hat.
FLI: Schwanzbeiß Interventionsprogramm (SchwIP) – das Programm wird aktuell überarbeitet und an neue Erkenntnisse angepasst. Die Webseiteadresse gilt weiter. Neue Inhalte sollen dort ab Mai 2018 online sein.

EU Übersicht der Risikofaktoren und geeigneter Vorbeugemaßnahmen (PDF-Download)

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Über den Autor

Annegret Wagner

Dr. Annegret Wagner (aw) hat in Gießen Tiermedizin studiert und arbeitet seit 1991 in der Großtierpraxis; seit 2005 niedergelassen in eigener Praxis mit Schwerpunkt Milchrind im Raum Rosenheim. Seit 2006 arbeitet sie auch als tiermedizinische Fachjournalistin. So hat sie für die VETimpulse die Nutztierthemen betreut und übernimmt diese Aufgabe auch bei wir-sind-tierarzt.de. Um nicht zum Mia-san-mia-Bayer zu mutieren, schaut sie intensiv über den Alpenrand hinaus, vorzugsweise ins englischsprachige Ausland. Kontakt: annegret.wagner(at)wir-sind-tierarzt.de
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