Tödliche Hundeattacken: Landestierärztekammer fordert Sachkundenachweis

Am Schicksal des Staffordshire-Mischlings "Chico", der zwei Menschen getötet hat, entzündet sich eine Debatte: Euthanasieren oder nicht? (Foto: screenshot ZDF)

Ein Staffordshire-Mischling tötet zwei Menschen in Hannover; wenige Tage später stirbt im hessischen Bad König ein sieben Monate altes Baby nach einer Hundeattacke; im Mai 2017 tötet ein Herdenschutzhund eine Renterin in Baden-Württemberg. Lässt sich so etwas überhaupt verhindern? Etwa mit Rasselisten und Haltungsverboten? Oder doch eher mit mehr Sachkunde der Halter und der Pflicht zu einem „Hundeführerschein“?

(jh) – Auf solche tragischen Beißvorfälle müsse die Politik reagieren. Aber statt Haltungsverbote oder Listen für bestimmte Rassen müsse endlich der Sachkundeerwerb für Hundehalter verpflichtend eingeführt werden. Das fordert die Landestierärztekammer Baden-Württemberg in einer Pressemitteilung. Nur Menschen, die nachweislich in der Lage sind, adäquat mit einem Hund umzugehen und diesen seinen Bedürfnissen entsprechend zu halten, sollte die Haltung von Hunden ab einer gewissen Größe ermöglicht werden.

Bis zu acht tödliche Beissattacken pro Jahr

In Hannover hatte der Staffordshire-Mischling „Chico“ Anfang April seine beiden Halter getötet; in Bad König (Hessen) starb wenige Tage später ein sieben Monate altes Baby nach einem Hundebiss in den Kopf. Im baden-württembergischen Stetten hatte im Jahr 2017 ein Kangal – ein Herdenschutzhund – eine 72-jährige Rentnerin ebenfalls mit Bissen in den Kopf getötet.
Hundeattacken mit Todesfolge sind – angesichts von Rund 8,5 Millionen Hunden in deutschen Haushalten – selten, kommen aber immer wieder vor: 2015 starben fünf Menschen, 2014 vier und für 2013 meldet das Statistische Bundesamt drei Fälle. 2008 war mit acht tödlichen Beißvorfällen in den letzten zwei Jahrzehnten das Jahr mit der höchsten Todeszahl.
Welche Hunde als gefährlich gelten, regeln die Bundesländer unterschiedlich. Die meisten führen  sogenannte Rasselisten. Am häufigsten darin aufgeführt sind Staffordshire-Terrier, Staffordshire Bullterrier, Pitbull, Bullterrier und Mischlinge aus diesen, aber auch andere Rassen.
Solche „Listenhunde“ werden von vornherein als gefährlich eingestuft. Ihre Halter müssen besondere Auflagen erfüllen: So dürfen sie zum Beispiel in  Brandenburg nicht in Mehrfamilienhäusern gehalten werden, meist muss es einen Haltungsnachweis geben.
Nur vier Bundesländer verzichten auf eine pauschale Beurteilung von Hunden aufgrund der Rasse: Niedersachsen, das Saarland, Schleswig-Holstein. Zuletzt hatte Thüringen zum Jahres beginn die Rasseliste wieder abgeschafft. In diesen Ländern gelten Hunde erst dann als gefährlich, wenn sie auffällig geworden sind.
„Chico“ war in Hannover als auffällig gemeldet worden (NDR-Bericht), aber die Behörden reagierten nicht.

(Eine Begriffserklärung von Rasseliste über Wesenstest bis Sachkundeprüfung liefert Spiegel online hier)

Bester Schutz: verpflichtende Schulung aller Hundehalter

Die Landestierärztekammer Baden-Württemberg warnt davor, jetzt auf Aktionismus und kurzsichtige Maßnahmen zu setzen. Haltungs- und/oder Züchtungsverbote, oder die Aufnahme von einzelnen Rassen auf Positiv-/oder Negativlisten könne man zwar kurzfristig umsetzen, sie lösen aber nach Ansicht der Landestierärztekammer das Problem nicht. Nur die unbedingte Verpflichtung zur Schulung, und die konsequente Einforderung auch einer persönlichen Eignung zur Haltung von Hunden, könne wirklich dazu beitragen, solche Vorfälle zu verhindern. Denn die Gefährlichkeit eines Hundes ergebe sich nicht aus der Zugehörigkeit zu einer Rasse, sondern hängt von einer Vielzahl von Faktoren, wie Haltung und Ausbildung, situative Einflüsse, Zuverlässigkeit und Kenntnisse des Halters ab.

Kinder im Umgang mit Hunden trainieren

Wann ist ein Hund „gefährlich“ – interaktives Präventionsprogramm „Blue Dog“ für Kinder. (Foto: © DVG/Blue Dog)

Kinder werden doppelt so häufig von Hunden gebissen wie Erwachsene, noch dazu meistens vom eigenen oder einem vertrauten Hund. Doch mit einem Hund aufzuwachsen, ist für Kinder und ihre Entwicklung positiv. Deshalb raten Tierärzte nicht nur zu einem Sachkundenachweis für den Halter, sondern auch ganz gezielt mit Kindern zu trainieren. Die Deutsche Veterinärmedizinische Gesellschaft bietet das Präventionsprogramm „Der Blaue Hund“ an. Über eine interaktive App können Eltern und kleine Kinder lernen, Gefahrensituationen mit dem eigenen Hund im Alltag besser einschätzen und damit umzugehen.

„Todesstrafe“ für Chico – eine Debatte der Extreme?

Auslöser der Kampfhundedebatte: Im Jahr 2000 töten ein Staffordshire-Terrier und ein Pitbull einen Jungen in Hamburg. (Foto: Screenshot ZDF-Beitrag)

Als im Jahr 2000 ebenfalls ein Staffordshire-Terrier und ein Pitbull in Hamburg einen sechsjährigen in einem Park beim Fußballspiel töteten, entfachte das eine Kampfhund-Debatte. Zwei Tage später präsentierte Hamburg eine „Verordnung zum Schutz vor gefährlichen Hunden“. Sogar Kanzler Gerhard Schröder versprach umgehend, das Züchten, Importieren und Handeln mit Kampfhunden zu erschweren. Die Folge waren die heute umstrittenen Rasselisten. Die Hunde damals wurden erschossen.

Auch jetzt sollte der Staffordshire-Terrier „Chico“ zunächst eingeschläfert werden. Doch die Entscheidung spaltet das Land:

Gegen seine Tötung initiierten Tierschützer eine Petition, die inzwischen fast 290.000 Menschen unterschrieben haben*. Der Druck war so groß, dass die Stadt Hannover von ihrem Plan vorerst abrückte.

Update: 17.4.2017: Inzwischen wurde „Chico“ euthanasiert, was zu einer Welle des Hasses aus bestimmten Kreisen geführt hat

„Foto“ aus einem Facebookposting der Tierrechtsorganisation „Animal Peace“ vom 16.3.2016 (inzwischen gelöscht)

In Hessen müsste im Fall von „Kowu“ die geltende Gefahrenabwehrverordnung über das Halten und Führen von Hunden greifen. Darin heißt es: „Die Tötung ist anzuordnen, wenn der Hund einen Menschen getötet oder ohne begründeten Anlass ernstlich verletzt hat.“
Heiko Schwarzfeld, Chef des Tierheims Hannover-Langenhagen, sieht keine Chance, „Chico“ zu resozialisieren.“ Für die Tötung plädiert im ZDF auch Julia Dittmers, Vorsitzende des Bundesverband zertifizierter Hundetrainer: „Dieser Hund hat zwei Menschen getötet, darüber würde ich nicht weiter diskutieren“. Die Entscheidung soll das Veterinäramt nach einem Wesenstest treffen.
Ob und wer aber die Verantwortung übernehmen kann, einen solchen Hund womöglich an einen neuen Halter zu vermitteln – wie es viele Tierschützer fordern –, ist völlig offen.

Ein Hund als „politischer Gefangener“?

Im Fall „Chico“ sprechen Tierschützer aber von „Todesstrafe“; Demonstranten skandierten in Hannover „Free Chico“, als sei der Mischling ein politischer Gefangener. Im Internet fallen Unterstützer von „Chico“ mit Morddrohungen gegen das Veterinäramt auf, verurteilen die Halter des Hundes und sehen sie zu recht getötet.
„Warum machen Hunderttausende das Leben eines womöglich gemeingefährlichen Hundes zu ihrem Anliegen, während die zerfetzten Kinder in Syrien bloß Achselzucken hervorrufen? Spiegelt sich darin, Tierliebe vor Nächstenliebe, eine gewisse Zivilisationsmüdigkeit?“ fragt angesichts dessen ein ZEIT-Kommentator.  „Chico Puigdemont quasi“, spitzt es Spiegel-Online zu: „Die Debatte ist verrutscht – von einem Extrem ins andere.“

Quelle:
Pressemeldung Landestierärztekammer Baden-Württemberg (PDF)
weitere Quellen im Text verlinkt
Der Blaue Hund – Präventionsprogramm Hundebisse bei Kleintieren (Webseite der DVG)
Stand der Petition: 15.4.2018

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Über den Autor

Jörg Held

Jörg Held (jh) ist Journalist, Kommunikationswirt und Redaktionsberater mit 30 Jahren Berufserfahrung. Seit 2007 auch im Bereich Tiermedizin unterwegs, davon 5 Jahre als Redaktionsleiter der VETimpulse. Auch bei wir-sind-tierarzt.de leitet er die Redaktion und ist schwerpunktmäßig für berufspolitische Themen und die Nachrichten verantwortlich. Kontakt: joerg.held(at)wir-sind-tierarzt.de
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