Wackelt der Ausstiegstermin aus der betäubungslosen Ferkelkastration?

Ab 2019 ist die betäubungslose Ferkelkastration verboten. Sind die Alternativen rechtssicher? (Foto: Kastration unter Isofluran-Narkose / © WiSiTiA/jh)

Noch ein Jahr Zeit, bis zum gesetzlich verordneten Ende der betäubungslosen Ferkelkastration im Januar 2019. Doch noch immer fehlen Zulassungen, wird über Alternativen gestritten. Der von der Branche favorisierte „4. Weg“ der Kastration unter Lokalanästhesie hat noch nicht die wissenschaftliche Basis. Wackelt womöglich der Termin? Und wenn ja, warum?

von Jörg Held

EU-weit wollte man zum 1.1.2018 eigentlich aus der chirurgischen Ferkelkastration komplett ausgestiegen sein. Den Termin hatte die sogenannte „Brüsseler Erklärung“  im Jahr 2010 gesetzt – und er wird mit Bravour verfehlt.
Im Nachbarland Belgien hatte die Branche den 1.1.2018 als Ende der betäubungslosen Kastration anvisiert – und jetzt ersatzlos fallen gelassen. Es fehlen Alternativen, die sich vermarkten lassen.
In Deutschland hat der Gesetzgeber dieses Ende auf den 1.1.2019 datiert – ob dieser Termin zu halten ist und wenn ja, welche Verfahren und Medikamente dann von wem (Tierarzt oder Nutztierhalter) eingesetzt werden, das dürfte eines der politischen Debattenthemen in der Nutztierhaltung 2018 werden. Denn Deutschland wagt hier fast einen Alleingang.

Ferkelkastration: Wer macht es wie in Europa (Übersichtsartikel wir-sind-tierarzt) oder Übersicht der ISN hier

Zielkonflikte: Tierschutz und Ökonomie

Es geht um mehrere Zielkonflikte:

  • Welches Alternativverfahren zur bisherigen chirurgischen Kastration mit Schmerzmittelgabe verbessert die Situation für die Ferkel und in der Mast wirklich, so dass die Tiere letztlich in Summe spürbar weniger Schmerzen und Stress haben als bisher?
  • Und welches Verfahren hat welche ökonomischen Konsequenzen?

Aktuell rücken wieder ökonomische Fragen auf Tagesordnung. Sollten in Deutschland ab 2019 strengere – und damit teurere – Betäubungsvorschriften gelten als etwa in Dänemark oder den Niederlanden, erwartet die Branche einen Strukturbruch: „Die Speditionen können schon mal zusätzliche Tiertransporter bestellen, um zukünftig die deutschen Ferkel durch Importferkel zu ersetzen,“ formuliert die Interessengemeinschaft der Schweinhalter (ISN) provokativ.
Schon jetzt exportieren allein Dänemark und die Niederlande pro Jahr elf Millionen Ferkel nach Deutschland, weil der Selbstversorgungsgrad hierzulande unter 80 Prozent liegt.
Außerdem betonen die Fleischkonzerne, dass ein Schwein mit seinen vielen unterschiedlichen Teilstücken weltweit vermarktet werden müsse. Eine Selektion nach unterschiedlichen Kastrationsmethoden sei nicht möglich: „Dann kann sich Deutschland aus dem Weltmarkt verabschieden,“ sagt etwa Dr. Heinz Schweer, Direktor Landwirtschaft beim Schlachtkonzern Vion

Bisher drei Wege – keiner  ohne Minuspunkte

Als Alternativen für die ab 2019 verbotene, aktuell übliche chirurgische Ferkelkastration mit Schmerzmittelgabe gelten drei Wege (ausführlicher am Artikelende erklärt). Doch bei jedem gibt es noch Fragen, auf die weder Politik noch Wirtschaft bisher eine abschließende Antwort haben:

  • Der vollständige Verzicht auf die Kastration und damit die Ebermast, führt zu Rangkämpfen im Stall, zu Aufreiten und Penisbeißen. Anstelle der Kastration entsteht für die Eber ein erhebliches Verletzungsrisiko in der Endmast. Außerdem scheint der Markt für Eberfleisch gesättigt, die Preise sinken.
  • Die Kastration unter Vollnarkose mit Schmerzausschaltung ist vergleichsweise aufwändig und durch den verpflichtenden Tierarzteinsatz teurer.
    Für die Vollnarkose mit Isofluran fehlt bisher noch die (beantragte) Zulassung für Schweine. Auch gibt es ungeklärte Fragen zu Arbeitssicherheit und Umweltschutz (Ablüftung der Narkosegase).
    Bei der Vollnarkose per intramuskulärer Injektion, muss die Medikamentenkombination auf das Ferkelgewicht abgestimmt sein. Eine fünfstündige Nachschlafphase erhöht den Betreuungsaufwand, den Ferkeln fehlen Säugephasen.
  • Die zweimalige Eberimpfung mit Improvac, die sogenannte Immunokastration, unterdrückt die Geschlechtsentwicklung der Eber. Doch der Lebensmittelhandel ist skeptisch: Er fürchtet eine „Hormondebatte“ beim Verbraucher. Das Verfahren wird in Europa kaum eingesetzt.

Nachbluten nach der Kastration – links Lokalanästhesie, rechts Isofluran-Narkose (Foto: © WiSiTiA/jh)

Streit um den „4. Weg“: Die lokale Betäubung

Die Branche sucht und propagiert deshalb einen sogenannten „4. Weg“: Die Kastration unter Lokalanästhesie durch den Nutztierhalter.
Ob dieser tatsächlich die „Lösung des Problems“ ist, bleibt aber heftig umstritten.
Die Bundesregierung hat aktuell ein Forschungsprojekt zur chirurgischen Ferkelkastration unter Lokalanästhesie ausgeschrieben. Begründung: Insgesamt reiche der derzeitige Kenntnisstand noch nicht aus, um valide Rückschlüsse insbesondere über die Sicherstellung einer wirksamen Schmerzausschaltung bei den betroffenen Tieren zu ziehen. Man müsse daher klären ob es sich um ein geeignetes, auch über den 1. Januar 2019 hinaus in Deutschland rechtskonformes Verfahren handele.
In Dänemark will das Landwirtschaftsministerium den Schweinehaltern die Lokalanästhesie erlauben. Die dänischen Tierärzte sind dagegen.

Was wollen die Tierärzte?

Die Tierärzteverbände haben sich unterschiedlich deutlich positioniert:
Die Bundestierärztekammer (BTK) lehnt die Lokalanästhesie mit Procain durch Landwirte eindeutig ab, befürwortet dagegen die Immunokastration. Gleiches gilt für die Tierärztliche Vereinigung für Tierschutz (TVT): Dies sei das Verfahren mit der geringsten zusätzlichen Belastung für die Schweine, der „4. Weg“ dagegen aus Tierschutzgründen keine sinnvolle Alternative.
Die Mitgliederversammlung des Bundesverbandes praktizierender Tierärzte (bpt) hat 2016 in einer Resolution keine der bisher verfügbaren Methoden als für alle Betriebe und Vermarktungsstrukturen als geeignet bezeichnet. Sie fordert, die bestehenden technischen und arzneimittelrechtliche Probleme gemeinsam auf europäischer Ebene zu lösen.
Zum 4. Weg befragt, bezweifelt bpt-Präsident Siegfried Moder, dass die Landwirtschaft sich mit dem Fokus auf eine vermeintlich kostengünstige Lösung in Eigenregie einen Gefallen täte. Auch eine Lokalanästhesie sei in praxi aufwendig und schwierig. Aktuell müssten vier Injektionen punktgenau gesetzt werden. Eine Injektion in den Hoden, wie in Schweden, sei in Deutschland undenkbar.
Moder: „Die Gesellschaft wird Politik – und Nutztierhalter – am Ende daran messen, dass sie Verfahren einsetzen, durch die die Tiere wirklich spürbar weniger Schmerzen und Stress haben.“ 

Zum Tierarztvorbehalt für Narkosen fordert BTK-Präsident Dr Uwe Tiedemann: „Betäubungsmittel sollen künftig auch bei der Ferkelkastration nur von Tierärzten eingesetzt werden dürfen.“
Auch bpt-Präsident Moder sieht es „gar nicht gerne, dass Narkosemittel an Landwirte abgegeben werden sollen“. Er stellt aber fest: „Das Gesetz räumt diese Möglichkeit für Lokalanästhetika bereits jetzt ein.“ Da müsse nichts Neues beschlossen werden.

1.1.2019 – kippt der deutsche Termin?

Trotz intensiver Debatten in den letzten Jahren ist also auch ein Jahr vor dem Verbotsstichtag weiter unklar, wie es letztlich weitergeht. Die Sauenhalter fürchten den deutschen Alleingang. Zumindest in den Hauptproduktionsländern für Schweine/Ferkel (Deutschland, Dänemark, Niederlande), sollten gleichwertige Alternativen zur betäubungslosen Ferkelkastration zugelassen und vorgeschrieben sein.
Weil das nicht geklärt ist, mehren sich die Stimmen, die die Übergangsfrist über den 1. Januar 2019 hinaus verlängern wollen – aktuell regt dies der Fleischkonzern Vion an.
Das wiederum erzürnt schon jetzt die Tierschützer. So „warnt“ Tierschutzbundpräsident Schröder, die Bundesregierung davor, „der Schweineagrarlobby den Gefallen zu tun, das deutsche Verbot zeitlich nach hinten zu verschieben. Die Kastration unter Vollnarkose ist ein Minimum, mittelfristig muss komplett auf die chirurgische Kastration verzichtet werden“. Für ihn ist der 4. Weg absolut nicht akzeptabel, weil die Ferkel sogar zusätzlichem Schmerz und Stress ausgesetzt seien.

wir-sind-tierarzt-Prognose:

(jh) – Der Verbotstermin 1.1.2019 steht im Gesetz. Die aktuellen Positionierungen zum Jahreswechsel zeigen: Das Thema wird in den kommenden 12 Monaten  noch für heftige Diskussionen sorgen. Sollte es keine Regelung geben, die zumindest mit den Ferkelexportnachbarn Dänemark und Holland vergleichbar ist, dürfte das – in Kombination mit der Kastenstanddebatte – den Strukturwandel in der Sauenhaltung noch einmal beschleunigen.
Deshalb: Es gibt durchaus eine 50-prozentige Wahrscheinlichkeit, dass der Termin verschoben, die Übergangsfrist verlängert wird.
Der „4. Weg“ jedenfalls bringt für die Ferkel keine wirkliche Verbesserung und wäre eher ein politisches Placebo.

Kurzübersicht der diskutierten vier Wege

  1. Der vermeintlich einfachste Weg, der Verzicht auf die Kastration und damit die Ebermast, stößt an Grenzen: Rangkämpfe und Aufreiten sowie Penisbeißen sind ein erhebliches Verletzungsrisiko für Eber in der Endmast.
    Außerdem scheint der Markt für Fleisch von Jungmastebern inzwischen allein schon durch die Betriebe gedeckt, die bereits jetzt umgestiegen sind. Die großen Schlachtunternehmen haben mittlerweile die Abrechungsmasken angepasst mit teilweise empfindlichen Einbußen für die Mäster, beklagt der Bundesverband Rind und Schwein (BRS). Im schlimmsten Fall fürchtet die Branche eine Marktspaltung in „gute“ weibliche Schweine und schlechter verkäufliche männliche Tiere – ähnlich wie bei Legehennen und unverwertbaren Hähnen.
  2. Als zweite  „medizinische“ Alternative gelten aktuell zwei Vollnarkosen:
    Für die Vollnarkose mit Isofluran (Bericht hier) fehlt bisher noch die (inzwischen beantragte) Zulassung für Schweine. Einzelne Nutztierhalter und Tierärzte setzen das Narkosegas bereits per Umwidmung ein. Die Kritik: Die Geräte sind teuer (9.000 €) es fallen zusätzlich Tierarztkosten an. Damit ist das Verfahren nur für größere konventionelle Betriebe rentabel. Es gibt Hygienerisiken: Würde die Narkoseapparatur   von Betrieb zu Betrieb gefahren. Auch Fragen der Arbeitssicherheit und des Umweltschutz (Ablüftung der Narkosegase) sind noch nicht abschließend geklärt. Das Labelprogramm „Neuland“ teilte mit, das alle Betriebe bis 2019 auf die Isoflurannarkose umstellen sollen.
    Die Vollnarkose per intramuskulärer Injektion, eine auf das Ferkelgewicht abzustimmende Kombination aus Azaperon und Ketamin. In der rund vier stündigen Nachschlafphase müssen die Ferkel unter Wärmelampen getrennt von der Muttersau vor Unterkühlung und Erdrücken geschützt werden und können nicht säugen.
  3. Dritter Weg ist die Eberimpfung mit Improvac. Die sogenannte Immunokastration unterdrückt die Geschlechtsentwicklung der Eber und damit sowohl die Rangkämpfe als auch die Bildung von Androstenon und Skatol, die bei der Zubereitung von Eberfleisch für das gefürchtete „Stinken“ verantwortlich sind.
    Das Verfahren wird  bereits in vielen außereuropäischen Ländern (u.a. Australien und Neuseeland), aber auch in Belgien eingesetzt. Es stößt allerdings in Deutschland bei Schlachtkonzernen und Lebensmittelhandel auf Skepsis: Sie fürchten eine „Hormondebatte“ beim Verbraucher. Außerdem müssten Schweine weltweit vermarktet werden. Der wichtige asiatische Markt aber lehnt Eberfleisch – auch das geimpfter Tiere – ab.
    Auch viele Mäster sehen die Eberimpfung kritisch: Sie müssten den Bestand mindestens zweimal durchimpfen, was insbesondere in der Endmast aufwändig und nicht ohne arbeitstechnische Risiken sei.
  4. Der „4. Weg“ der Lokalanästhesie ist bisher weder zugelassen, noch ist abschliessend wissenschaftlich bewertet, ob er überhaupt die nötige Verbesserung für die Ferkel bringt.
    Kritiker sagen: Schon die (mehrfache) Injektion von Lokalanästhetika im sensiblen Bereich um Hoden und Samenstränge sei für die Tiere hochgradig schmerzhaft. Auch würden die Tiere durch die Fixation und die Injektion selbst gestresst und der Schmerz werde nicht unbedingt komplett ausgeschaltet. Darüber hinaus könnten vermehrt Wundheilungsstörungen auftreten.
    Die Befürworter verweisen auf den in Schweden schon jetzt und in Dänemark wahrscheinlich ab Mitte 2018 erlaubten Einsatz des Verfahrens. Es sei außerdem die kostengünstigste Lösung.

Die Bundestierärztekammer und auch die Tierärztliche Vereinigung für Tierschutz favorisieren die Jungebermast mit Impfung als das Verfahren mit der geringsten zusätzlichen Belastung für die Schweine. Alle anderen Verfahren hätten zum Teil erhebliche Nachteile.

Quellen aktuelle Debatte/weitere Quellen im Artikel verlinkt

Weiterführende Quellen mit Vergleich der Verfahren und/oder wirtschaftlicher/medizinischer Einordnung

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Über den Autor

Jörg Held

Jörg Held (jh) ist Journalist, Kommunikationswirt und Redaktionsberater mit 30 Jahren Berufserfahrung. Seit 2007 auch im Bereich Tiermedizin unterwegs, davon 5 Jahre als Redaktionsleiter der VETimpulse. Auch bei wir-sind-tierarzt.de leitet er die Redaktion und ist schwerpunktmäßig für berufspolitische Themen und die Nachrichten verantwortlich. Kontakt: joerg.held(at)wir-sind-tierarzt.de
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