Kommentar: Dürfen Nutztiere überhaupt noch krank werden?

Gefährliche Botschaft: kranke und (mit Antibiotika) behandelte Schweine "fliegen" aus der Produktionskette, sind nicht mehr gut genug "4 you". (Illustration: © REWE meet4you-Programm)

Als Mastschwein krank geworden? Pech gehabt. Dann wirst Du markiert und aussortiert. Ein Kommentar zu „Ideen“, die „antibiotic-free“-Welle aus den USA auch hierzulande mit deutscher Gründlichkeit in eine stigmatisierende Kennzeichnung und „Extravermarktung“ (un)behandelter Tiere umzusetzen.

ein Kommentar von Annegret Wagner

(Anlass für diesen Kommentar: In den USA kennzeichnen immer mehr Fleischerzeuger und Restaurantketten ihre Produkte als „antibiotic free“ – Bericht hier. In Deutschland hat Rewe ein Programm für „Schweinefleisch aus garantiert antibiotikafreier Mast“ getestet und wieder aufgegeben /aktualisiert*.)

Welche Botschaft wollen Fleischerzeuger und Handel dem Konsumenten eigentlich vermitteln, wenn sie Tiere in behandelte und unbehandelte einteilen?
Dürfen Tiere künftig nicht mehr krank werden? Ist das Fleisch behandelter Tiere danach irgendwie „bäh“? Ist es gar für den Menschen gefährlich, wenn kranke Tiere behandelt werden – ob mit Antibiotika, Hormonen oder Impfungen?
Ist umgekehrt Fleisch von Schweinen besser, die trotz einer Erkrankung womöglich nicht behandelt wurden? Sollen Landwirte ihre Tiere also lieber nicht behandeln; sie bei Krankheit töten und entsorgen? Oder sollen sie (chronische) Erkrankungen in Kauf nehmen, nur um keine Antibiotika einsetzen zu müssen?
Warum betonen die Firmen, kranke Tiere dürften und sollten natürlich antibiotisch behandelt werden, aber leider könne man sie dann nicht mehr über die Programme vermarkten, sie würden „anders“ verarbeitet? Warum wird unbehandelt besser bezahlt?
Ist eine Erkrankung bei Tieren eigentlich etwas komplett ungewöhnliches? Was wächst da für ein Denken heran? Und wer hat das „gezüchtet“?

Gefährliche Botschaft: Kranke und (mit Antibiotika) behandelte Schweine werden gekennzeichnet und „fliegen“ aus der Produktionskette, sind nicht mehr gut genug „4 you“. (Illustration: © REWE meat4you-Programm)

Diese und noch viel mehr Fragen schiessen mir durch den Kopf, wenn ich vom neuen „antibiotic free“-Trend lese.

Menschen dürfen krank werden, Tiere nicht?

Tatsächlich gibt es eine Reihe von Menschen (meist keine Tierbesitzer), die meinen, dass (Nutz)Tiere eigentlich von Natur aus – und insbesondere die, die „natürlich“ leben – immer gesund sind und daher gar nicht behandelt werden müssen. Was für ein Irrglaube.
Ich möchte Krankheit bei Schwein und Mensch deshalb mal etwas vergleichend einordnen:

  • Normale Mastschweine werden im Alter von etwa sechs Monaten geschlachtet, also kurz nach Erreichen der Pubertät. Wir können sie daher alterstechnisch mit Jugendlichen vergleichen.
  • Für den Gesetzgeber sind Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen ein normales, zu erwartendes Geschehen. Deshalb gesteht er arbeitenden Eltern extra für jedes Jahr pro Kind und Elternteil zehn Arbeitstage zu, die sie für die Betreuung ihrer kranken Kinder (bis zum Alter von zwölf Jahren) frei nehmen dürfen (Alleinerziehende: 20 Tage).
  • Auch bei Erwachsenen ist es üblich, gelegentlich krank zu sein: Durchschnittlich zehn Krankheitstage pro Arbeitnehmer (mit ärztlichem Attest) und insgesamt rund 15 Tage (Atteste sind erst ab dem dritten Krankheitstag nötig) hat das Statistische Bundesamt für das Jahr 2015 gezählt.
  • Wenn er denn krank ist, nimmt der Deutsche auch gerne Antibiotika: Im Jahr 2012 waren es laut Deutschem Ärzteblatt durchschnittlich rund fünf DDD (defined daily dose) je Einwohner, was einer Antibiotikaeinnahme über durchschnittlich fünf Tage entspricht.

Wer krank ist, hat ein Recht auf Behandlung

Behandlungswürdige Krankheiten sind also offensichtlich bei Menschen keine Seltenheit und die Erkrankten werden auch nicht „gebrandmarkt“, selbst dann nicht, wenn sie Antibiotika nehmen. Im Gegenteil, der Gesetzgeber tut viel dafür, dass Gesundheitsdaten nicht missbraucht und Menschen – etwa bei der Arbeitssuche – nicht durch Vorerkrankungen diskriminiert werden. Wer krank ist, soll zum Arzt gehen und sich behandeln lassen.
Bei Tieren aber gilt Krankheit – insbesondere eine mit Antibiotika therapierte bakterielle Infektion – wohl bald als Makel, so dass man sie künftig als „behandelte“ Mastschweine mit elektronischer Ohrmarke kennzeichnen will (Zitat Rewe): „Das erkrankte Tier ist somit erkennbar und wird nicht zum Verkauf unter dem Label „meat 4 you“ angeboten.“

Behandlung als Makel? Das ist unglaublich schäbig

Das ist für mich eine furchtbare Entwicklung. Lebensmittelhändler surfen jetzt auch bei der Tiergesundheit auf der ach so beliebten „ohne Welle“: Ohne Zusatzstoffe, Lactose-frei, ohne Gentechnik, ohne Antibiotika(Behandlung), ohne was-weiß-ich … als ob wir uns „mit“ gefährlich ernähren würden? (Allergiker ausgeklammert). Es gibt künftig also als „behandelt erkennbare Tiere“. Ignoriert wird, dass es heute schon Wartezeiten, Gesetze und Kontrollen gibt, die dafür sorgen, das Fleisch behandelter Tiere rückstandsfrei verkauft wird (siehe nationaler Rückstandskontrollplan).

Der Handel pflanzt damit zu Gunsten eines vermeintlichen Marketingvorteils eine Saat in die Köpf der Konsumenten, die er irgendwann nicht mehr kontrollieren kann:
Krank gewesen sein ist ein Makel. Fleisch behandelter Tiere ist weniger wert. Ich finde das unglaublich schäbig.

Da gehen tausende Menschen bei einem Marsch für die Wissenschaft auf die Straße und protestieren dafür, endlich wieder mehr fachliche Vernunft walten zu lassen – und dann so was. Tiermedizin und die Behandlung kranker Tiere ist eine Wissenschaft. Wir Tierärzte haben das studiert. Wir können und wollen Tieren helfen – und ja: Wir setzen dafür auch Antibiotika ein.
Sehr viel weniger als früher, in Deutschland über 900 Tonnen weniger als noch 2011. Dank Prudent use, also dem umsichtigeren Gebrauch, wie er von Politik und Aufsichtsbehörden auch per Minimierungsvorschriften eingefordert wird, und auch Dank der gesellschaftlichen Sensibiliserung für den Wert dieser Medikamente.

*Hintergrund REWE-Programm: An der Grenze zur Verbrauchertäuschung

Das perverse an diesem Versprechen vom „Schweinefleisch aus garantiert antibiotikafreier Mast(sic!)“ ist: Ferkel und Läufer bis zu einem Gewicht von 30 Kilogramm dürfen weiter antibiotisch behandelt werden und dann trotzdem am „antibiotikafreien REWE-Mastprogramm“ teilnehmen. Es gaukelt „garantierte Antibiotikafreiheit“ also eigentlich nur vor.
Die Realität ist: Genau in dieser „Kindergartenphase“ unter 30 Kilo erfolgen die allermeisten Behandlungen; Mastschweine werden nur noch sehr wenig antibiotisch behandelt.
Ob der Verbraucher diese Unterscheidung zwischen Mast und Aufzucht kennt? Ob er sie aus den Erklärungen zum „Label“ herauslesen kann?
Oder bleibt bei ihm am Ende nur eines hängen: Stammt Fleisch nicht aus „antibiotiakfreier Mast“, dann ist es schlecht(er)es Fleisch.

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Über den Autor

Annegret Wagner

Dr. Annegret Wagner (aw) hat in Gießen Tiermedizin studiert und arbeitet seit 1991 in der Großtierpraxis; seit 2005 niedergelassen in eigener Praxis mit Schwerpunkt Milchrind im Raum Rosenheim. Seit 2006 arbeitet sie auch als tiermedizinische Fachjournalistin. So hat sie für die VETimpulse die Nutztierthemen betreut und übernimmt diese Aufgabe auch bei wir-sind-tierarzt.de. Um nicht zum Mia-san-mia-Bayer zu mutieren, schaut sie intensiv über den Alpenrand hinaus, vorzugsweise ins englischsprachige Ausland. Kontakt: annegret.wagner(at)wir-sind-tierarzt.de
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