RTL heizt Nebenwirkungsdebatte um Bravecto® an

"Unscharf", wie die im Internet verbreiteten Versionen des RTL-Beitrages zu Bravecto® ist auch die Argumentation der RTL-Journalisten. (Screenshot: RTLpunkt12-TV-Beitrag)

„Bravecto® kills“ – die auf Facebook hochemotional geführte Debatte über mögliche Nebenwirkungen des Antiparasitikums wird durch einen TV-Beitrag weiter angeheizt: Die RTL-Mittagsshow „punkt12“ hat das Thema aufgegriffen. Tierarztpraxen sollten sich auf Kundennachfragen vorbereiten. Die Informationen dazu liefert dieser Artikel. (*aktualisiert 2.4.2017)

von Jörg Held

Worum geht es?

In den Sozialen Medien gibt es seit jeher zum Thema Antiparasitika unter Tierbesitzern einen Glaubenskrieg: „böse Chemie“ versus „gute Natur“ – letztere meist vertreten durch Bernstein oder Kokosöl. Besonders im Fokus der Kritik steht im Moment das Medikament Bravecto®, dem schwere Nebenwirkung bis hin zum Tod von Hunden vorgeworfen werden.
Jetzt hat die RTL-Mittagsshow „punkt12“ das Thema ebenfalls sehr emotional mit Leidensbildern von angeblich betroffenen Hunden aufgegriffen. Der Beitrag ist in der RTL-Mediathek nicht zu finden, wird aktuell aber über vom Fernseher abgefilmte Versionen via Facebook oder auch via YouTube verbreitet.
Schon länger gibt es Facebook-Gruppen, die fragen: „Ist Bravecto® sicher?“ Die deutschsprachige Seite hat knapp 6.500 Mitglieder und wächst rasant, die internationale „bravecto kills“ sogar über 30.000. Das Mehrheitsurteil in diesen Foren fällt entsprechend eindeutig aus: „Nein, nicht sicher!“ Tierbesitzer posten dort Videos und Erfahrungsberichte mit kranken Hunden, deren Symptome sie auf das Antiparasitikum zurückführen.
Die Aufsichtsbehörden gehen diesen Nebenwirkungsvorwürfen nach (Details siehe unten), was aber nicht bedeutet, dass bislang ein kausaler Zusammenhang zwischen Haltererlebnissen und Medikament nachgewiesen ist.

wir-sind-tierarzt hat hier ausführlich über die bisherige Bravecto®-Debatte berichtet

Welche Informationen gibt es?

  • Öffentlich hat sich zuletzt Anfang Februar das in Deutschland für Arzneimittelzulassungen zuständige Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit geäußert (BVL – Wortlaut hier). Es berichtet, dass in der Fachinformation (umgangssprachlich: Beipackzettel) bisher als mögliche Nebenwirkungen ausschließlich gastrointestinale Effekte aufgeführt sind. In Deutschland und ebenso in anderen EU-Mitgliedsländern seien seit Markteinführung 2014 aber Meldungen zu unerwünschten Arzneimittelwirkungen (UAW) zu Bravecto® eingegangen, die (Zitat) „über teilweise schwere neurologische Symptome wie zum Beispiel Zittern, Ataxie, Krampfanfälle, Epilepsie berichten.“
    Auf diese schon 2015 im Deutschen Tierärzteblatt gemeldeten möglichen Nebenwirkungen sollten Tierärzte verstärkt achten.
  • Der Bravecto®-Hersteller MSD hat eine eigene mehrsprachige Webseite Namens bravectofacts eingerichtet. Auf der erklärt er unter Berufung auf Zahlen der Europäischen Arzneimittelagentur (EMA), dass die bisher gemeldeten „unerwünschten Ereignisse“ in die Kategorie „selten“ eingestuft wurden, also für lediglich 1 von 10.000 (0,01%) bis 1 von 1.000 (0,1%) verabreichten Dosen berichtet wurden. Hierbei handelte es sich am häufigsten um milde und vorübergehende Magen-Darm-Beschwerden, die auch in der Packungsbeilage erwähnt sind.
    Es gebe aber auch „schwerwiegende unerwünschte Ereignisse“, die in die Kategorie „sehr selten“ fielen (weniger als 1 von 10.000 / 0,01%). Hier dürfte es sich um die vom BVL beschriebenen neurologischen Symptome handeln.
    Auch im Deutschen Tierärzteblatt (Ausgabe 4/2017) hat der Hersteller Stellung bezogen und diese Daten kommuniziert.
  • Eine Übersicht aktueller Studien zu Bravecto® gibt es hier.
  • Bravecto® wird weltweit vertrieben (bisher rd. 34 Mio Dosen) und wurde von 72 Arzneimittelaufsichtsbehörden im Rahmen der Zulassung überprüft.
  • Tierbesitzer diskutieren im Internet aber nicht nur emotional, sondern auch sachlich. So hat die Bloggerin Anna Pietschmann auf ihrer Webseite „fluffology“ sehr fundiert das Thema Nebenwirkungen von Antiparasitika allgemein und Bravecto® im besonderen aufgearbeitet.

Informationen des BVL werden auf Facebook eingesetzt, um Tierärzte zu verurteilen. (Screenshot-Facebook-Debatte)

Was sollten Tierärzte tun?

  • Tierärzte sollten sich – und das Praxisteam – auf kritische Nachfragen und auch Vorwürfe von Kunden zu Bravecto® vorbereiten. In den Foren wird sehr heftig kritisiert, dass eine Reihe von Praxen von der aktuellen Debatte nichts wüßten und daher nicht ausgewogen beraten würden (siehe Foto oben).
  • Wenn aber der Tierarzt wiederum vorinformiert war und glaubhaft darlegen konnte, dass es in seiner Klientel nicht zu den befürchteten schweren Nebenwirkungen gekommen ist, vertreten Tierhalter diese Position auch weiter.
  • Tierärzte, die von Nebenwirkungen erfahren, sollten diese unbedingt melden: Informationen dazu finden Sie hier – der Download des UAW-Meldebogens ist hier möglich.

Eine risikoorientierte Beratung durch den Tierarzt fordert auch das BVL in seiner Mitteilung: Im Fall von Bravecto® sollte das individuelle Nutzen-Risiko-Verhältnis für das jeweilige Tier beachtet werden. Bei möglichen Risikopatienten solle überlegt werden, ob ein anderes verfügbares Medikament geeigneter sei.
Dabei dürfte das BVL – obwohl bisher noch nicht im Beipackzettel aufgeführt – wohl auch auf die von der Europäischen Arzneimittelagentur (EMA) unten aufgeführten Nebenwirkungen abzielen.

Was tun die Behörden?

Auszug zum Thema Bravecto® aus dem EMA-Pharmakovigilanzbericht 2016. (@ EMA)

EU-weit beobachten die Behörden – auch das deutsche BVL – bereits seit längerem sehr genau die vom Hersteller, von Tierärzten und auch Tierhaltern gemeldeten unerwünschten Arzneimittelwirkungen (UAWs) zu Bravecto® und bewerten diese.
Der aktuell von der EMA vorgelegte EU-Pharmakovigilanzbericht 2016 (PDF-Download hier) enthält dementsprechend auch Angaben zu Bravecto® (siehe Foto oben):

  • Die Zulassungsinhaber (MAH) werden demnach aufgefordert, einen gezielten Bericht über die Unbedenklichkeit des Arzneimittels (PSUR) bereit zu stellen, der eine ausführliche Analyse und eine kritische Überprüfung aller gemeldeten ernstzunehmenden Nebenwirkungen beinhaltet. Dazu gehören – so listet es die EMA auf – neurologische Ausfallerscheinungen, Irritationen von Haut und Gliedmaßen, Überempfindlichkeits-/Immunvermittelte Reaktionen und Hepatopathien, darüber hinaus Todesfälle oder Nebenwirkungen, die zu einer Euthanasie geführt haben.
  • Dieser spezielle Bericht wird dann vom Committee for Medicinal Products for Veterinary Use (CVMP) der European Medicines Agency (EMA) bewertet und je nach Ergebnis werden weitere Maßnahmen getroffen.
  • Eine erste Reaktion etwa auf eine gegen Ende der Kontrollperiode als Nebenwirkung festgestellte „Lethargie“ ist erfolgt. Die Vertreiber des Produkts werden angewiesen, ihre Beipackzettel zu aktualisieren und den Begriff Lethargie zu ergänzen.

update: 21.8.2017: Inzwischen hat die EU die Fachinformationen der Bravecto®-Kautabeletten auch offiziell um zwei Nebenwirkungs/Risiko-Hinweise ergänzt, bewertet sie aber weiterhin als „sicher“ (Details hier)

Schlussfolgerung: Sachlich bleiben

Was in der ganzen Debatte, die auch mit Verweis auf die Mitteilungen von BVL und EMA geführt wird, schnell untergeht:

Die Aktivitäten der Arzneimittelüberwachung werden in den Sozialen Medien nicht als Teil einer aufmerksamen Qualitätskontrolle verstanden, sondern sofort als „bereits festgestellter Mangel“ kommuniziert. Mit Verweis auf die BVL-Meldung etwa, wird Tierärzten vorgeworfen (siehe Foto oben), dass sie wissentlich „unsichere“ Medikamente verordnen.
Das entbehrt jeder Grundlage.

Auch die spätere Aufnahme einer möglichen Nebenwirkung in den Beipackzettel bedeutet nicht, dass ein Medikament „unsicher“ ist. Medikamente haben Nebenwirkungen. Bestimmte Tiere sind dafür empfänglicher. Hier wird dann wissenschaftlich zwischen Nutzen und Risiken abgewogen.
Die deutschen und europäischen Aufsichtsbehörden prüfen diese UAW-Meldungen sehr gründlich und handeln dann, wenn sich ein Verdacht auf schwere Nebenwirkungen bestätigt. Bei gravierenden Fällen nehmen sie das Medikament vom Markt – wie etwa in diesem Fall.
Aber dies geschieht nicht aufgrund von Facebook-Debatten oder TV-Beiträgen, sondern nach einer wissenschaftlichen Auswertung der gemeldeten Fälle.

Alle Quellen direkt im Artikel verlinkt
*Artikel am 2.4.2017 um Daten aus der Firmenstellungnahme im Deutschen Tierärzteblatt 4/2017 ergänzt

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Über den Autor

Jörg Held

Jörg Held (jh) ist Journalist, Kommunikationswirt und Redaktionsberater mit 30 Jahren Berufserfahrung. Seit 2007 auch im Bereich Tiermedizin unterwegs, davon 5 Jahre als Redaktionsleiter der VETimpulse. Auch bei wir-sind-tierarzt.de leitet er die Redaktion und ist schwerpunktmäßig für berufspolitische Themen und die Nachrichten verantwortlich. Kontakt: joerg.held(at)wir-sind-tierarzt.de
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