Selbstmordwelle unter Landwirten

Selbstmordwelle in der Schweiz (Bild: Henrik Hofmann/Archiv)Selbstmordwelle in der Schweiz (Bild: Henrik Hofmann/Archiv)

Bei Tierärzten sind Burnout und Suizid längst ein schwelendes Thema. Alarmierende Berichte aus europäischen Nachbarländern zeigen, dass – bedingt durch den Strukturwandel – auch eine den Tierärzten nahe stehende Berufsgruppe immer öfter am Abgrund steht: Die Landwirte.

(hh) – Ein Hilfeschrei geht durch die europäische Landwirtschaft: In der Schweiz geben pro Jahr rund 1.000 Bauern ihren Hof auf. Einige nahmen sich danach das Leben. In Frankreich gibt es eine offizielle Zahl der nationalen Gesundheitsbehörde: 160 Bauern-Selbstmorde in 2015. Landwirte schätzen die Dunkelziffer dort gar auf rund 600. Das gleiche Phänomen gebe es auch in den anderen europäischen Ländern – selbst wenn offizielle Zahlen fehlen. In Deutschland sollen es, so euronews, etwa 500 Bauern-Suizide sein; in Belgien etwa 400. In Italien und Rumänien gäbe es ebenfalls viele Fälle. Regional versuchen Kirchen und „Sorgentelefone“ zu helfen. Als Ursache gilt vor allem der schnelle Strukturwandel in der Landwirtschaft – und eine Politik, die den Bauern vielfach keine verlässlichen Zukunftsperspektiven bietet: Was vor fünf oder zehn Jahren noch als rechtskonform galt, ist heute gesellschaftlich und politisch ein No Go.

Strukturwandel als Katastrophe

Eine Serie von vier Selbstmorden alarmierte in einem Schweizer Kanton die Politik und führte 2015 zur Schaffung der Teilzeitstelle eines „Bauernpfarrers“. Inzwischen arbeitet Pierre-André Schütz praktisch Vollzeit und berät mehr als 41 Familien, berichtet der Schweizer Rundfunk (SRF). Schütz hält etwa die Milchproduktion derzeit für ruinös. Die internationalen Lieferbeziehungen setzten die Bauern unter Druck. Und er sieht umgekehrt auch Fehler bei den Bauern. Sie schaffen zu viele zu teure Maschinen an, denken oft nicht unternehmerisch genug. Doch den Bauernpfarrer packt eine grundsätzliche Wut: „“Es ist schändlich, wenn die Gesellschaft jene, die sie ernähren nicht mehr bezahlt.“ Er wurde in seinem neuen Amt von Anfragen überrannt «Man hat die Verzweiflung unter den Bauern völlig unterschätzt», sagt er.
Der immer schnellere Strukturwandel der Landwirtschaft ist für die Betroffenen auch nicht einfach ein Wandel des Marktes, sondern eine persönliche Katastrophe: Für einen Bauern sei es eine Demütigung, wenn er scheitere, denn oft geht dabei das Erbe von Generationen verloren, weiss Schütz.

Es braucht Planungssicherheit und Vertrauensschutz

In der Schweiz, die nicht unbedingt massentierhaltungsverdächtig ist, sank im Oktober 2016 der Milchkuhbestand auf den tiefsten Stand seit Beginn der Datenerfassung. Die Milchmenge dagegen bleibt gleich – weniger Betriebe, mehr Output, dass klassische Strukturwandelphänomen. Der Schweizer Landwirtschaftliche Informationsdienst LID beklagt, dass das „Wollen“ der Konsumenten häufig nicht mit ihrem Kaufverhalten einhergehe. Einerseits forderten sie eine Landwirtschaft der klein(er)en Betriebe, „in denen jede Kuh noch einen Namen hat“. Andererseits führen das preissensible Kaufverhalten und auch steigende Natur- und Tierschutzauflagen der Politik dazu, dass immer weniger, aber dafür größere Betriebe am Markt übrig bleiben. Mit dazu beigetragen hätten auch landwirtschaftliche Berater, die zu „immer mehr und immer größer“ beraten haben, so ein bestandsbetreuender Kollege.

Deutschland fürchtet nächste Strukturwandel-Welle

Für Deutschland beklagt die Interessengemeinschaft deutscher Schweinehalter (ISN) vor allem mangelnde Planungssicherheit für die Landwirte als Gefahr für strukturelle Umbrüche: „Die deutschen Tierhalter sind offen für eine Weiterentwicklung der Tierhaltung“ … aber es müsse auch ein Vertrauensschutz gelten.“ Das heißt, bei Änderung der Anforderungen (Stichwort Kastenstand – Anm. d. Red.) sind ausreichend lange Übergangsfristen für bestehende Ställe unerlässlich. Würden diese nicht gewährt, „werden wir einen Strukturwandel in der Ferkelerzeugung in Deutschland bekommen, wie wir ihn wohl noch nicht erlebt haben. Und wie immer werden dann als erstes die kleineren und mittleren Betriebe das Handtuch werfen.“

Das Ausmaß der Verzweiflung auf dem Land werde unterschätzt, glaubt Bauernpfarrer Schütz. Es brauche überall ein Netzwerk von Veterinären, Kontrolleuren und Vertretern der Landwirtschaftsgenossenschaften, die von Psychiatern geschult würden, damit sie Suizidgefährdete erkennen und Hilfe rufen. Schütz will dafür kämpfen, dass auch andernorts Hilfe nach dem Vorbild des Kantons Waadt aufgebaut werden.

Quellen im Artikel verlinkt
Interessante Zahlen und Grafiken zum Strukturwandel in der Schweizer Milchviehhaltung
SRF-Bericht über ein Beratungsnetzwerk zur Suizidvorbeugung im Schweizer Kanton Waadt

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Über den Autor

Dr. Henrik Hofmann

Dr. Henrik Hofmann (hh) betreibt seit 1995 eine eigene Tierarztpraxis in Butzbach. Er ist Fachtierarzt für Allgemeine Veterinärmedizin und hat die Zusatzbezeichnung Akupunktur. (www.tierundleben.de) Als Autor und Redakteur hat Hofmann in etlichen Zeitschriften und Zeitungen rund ums Tier geschrieben. Bei wir-sind-tierarzt.de betreut er schwerpunktmäßig Medizinthemen, den Bereich Praxismanagement und die Rubrik Mensch-Tierarzt. Außerdem steuert er die SocialMedia-Aktivitäten und leitet die Bildredaktion. Zuletzt ist sein Buch „Tieren beim Sterben helfen – Euthanasie in der Tierarztpraxis“ erschienen. Kontakt: henrik.hofmann(at)wir-sind-tierarzt.de
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